Kathrin Berdelmann/Thomas Fuhr/Juliane Klopstein/Hannah Reuten (Hrsg.)

Von der Reflexion zur Operation

Stand und Perspektiven der Operativen Pädagogik

Paderborn: Brill/Schöningh 2025

(316 S; ISBN 978-3-506-79487-1; 89,00 EUR)

 

In der pädagogischen Theorieentwicklung hat sich ein Bruch vollzogen, der in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft bislang kaum angemessen reflektiert worden ist: Zwei Grundlagentheorien haben mit einer jahrhundertealten mitteleuropäischen Tradition des Erziehungsdenkens gebrochen. Von Kant und Pestalozzi über Dilthey bis Brezinka war Erziehung entsprechend der grammatischen Struktur unserer Alltagssprache begrifflich meist so konzipiert worden, dass die Sache der Erziehung vom Verb ‚erziehen‘ aus hergeleitet wurde: ‚Der Erzieher erzieht den Zögling.‘ Subjekte der Erziehung waren entsprechend dieser Struktur die Erziehenden, Objekte erzieherischer Einwirkung die so genannten ‚Zöglinge‘, die in manchen Theorien auch eher kommunikations- oder aufgabenorientiert ‚Adressat:innen‘ oder ‚Zu-Erziehende‘ genannt wurden, faktisch als Subjekte des Geschehens aber kaum bis gar nicht mitgedacht worden sind.

 

Von diesen wirkmächtigen ‚monosubjektiven‘ Fassungen allgemeiner Erziehungsbegriffe grenzen sich die ‚bisubjektiv‘ [1] angelegten allgemeinen Theorien der Erziehung von Klaus Prange (1939-2019), teilweise gemeinsam mit Gabriele Strobel-Eisele, sowie von Wolfgang Sünkel (1934-2011) deutlich ab [2]. Die Herausgebenden führen beide Ansätze unter dem Titel der ‚Operativen Pädagogik‘ zusammen. Ihre mittels logischer Deskription bzw. (neo-)phänomenologischer Ansätze [3] entwickelten Entwürfe dessen, was Erziehung im Allgemeinen sei, unterscheiden sich deutlich von der weit verbreiteten Alltagsvorstellung: ‚Zöglinge‘ sind nun nicht mehr Gegenstand erzieherischer Einwirkung, sondern am pädagogischen Geschehen beteiligte Subjekte, die mit anderen Subjekten in eine spezifische Interaktion aus Zeigen und Lernen (Prange) bzw. in einen Tätigkeitszusammenhang aus Vermitteln und Aneignen (Sünkel) eintreten. Objekt der Erziehung ist damit in beiden Theorien nicht das lernende bzw. aneignende Subjekt, sondern das Thema der Erziehung – allerdings ohne dabei historisch und kulturell variable Inhalte wie ‚Mündigkeit‘ oder spezielle Kompetenzen als Inhalt von Erziehung festzustellen. Beide Theorien arbeiten stattdessen mit einer formalen Kategorientrias aus Kenntnissen, Fertigkeiten und Motiven (Sünkel) bzw. Wissen, Können und Einstellungen (Prange).

 

Der Weiterführung der Theorie Klaus Pranges, die er im Untertitel seiner 2005 erstmals erschienenen Monografie als ‚Operative Pädagogik‘ bezeichnet hatte, gilt der hier rezensierte Band ‚Von der Reflexion zur Operation. Stand und Perspektiven der Operativen Pädagogik‘. Er enthält neben einer Einleitung 15 Beiträge, die teils bereits im März 2023 auf einem Symposium an der PH Freiburg vorgetragen und diskutiert worden waren. Dass eine solche Theoriearbeit nötig ist, spiegeln neuere Einführungswerke der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, in denen die bisubjektiv angelegte Theorieangebote kaum rezipiert worden sind [4].

 

Teil 1 des Bandes, der sich mit zwei Beiträgen dem Vergleich der Theorien von Prange und Sünkel widmet, arbeitet Ulrich Papenkort konzise Gemeinsamkeiten und Unterschiede der unabhängig voneinander entwickelten Werke heraus. Johanna Hopfner und Agnes Trattner nutzen die beiden Theorien, um zu verdeutlichen, inwieweit einschlägige Ratgeberbücher von einem verkürzten Erziehungsverständnis ausgehen, mithin gar Fehlformen des Erziehens propagieren.

 

In Teil 2 sind theoretische Weiterentwicklungen der Operativen Pädagogik versammelt: Volker Kraft beleuchtet die Bedeutung von Emotionen für pädagogische Operationen und entwickelt ein heuristisches Modell, in dem Stimmungen, Affekte Gefühle und Emotionen den Untergrund der pädagogischen Interaktionen zwischen Zeigenden und Lernenden bilden. Thomas Fuhr greift Pranges erziehungs- und unterrichtstheoretische Systematiken auf und leitet daraus verschiedene Artikulationsformen pädagogischer Situationen ab. Diese beschreibt er als Ablaufmuster sogenannter ‚pädagogischer Workflows‘, die sich als idealtypische, keineswegs allein auf den Schulunterricht bezogene Didaktiken lesen lassen. Das Besondere an diesen allgemeinen Didaktiken ist ihr Fokus auf die Phasen bzw. ineinandergreifenden Prozesse von Zeigen und Lernen, die für die Aneignung spezifischen Wissens, Könnens und Einstellungen erforderlich sind. Katja Grundig de Vazquez verdeutlicht aus einer evolutionsanthropologischen Perspektive u.a. im Anschluss an Prange und Sünkel, dass und wie Situationen der Synchronisation von Zeigen und Lernen in der Geschichte der menschlichen Gattungsexistenz zentral für die Entstehung und den Fortbestand kumulativer Kulturen waren und sind. Stephan Ellinger und Oliver Hechler präsentieren im Anschluss, ausgehend vor allem von Pranges und Werner Lochs Vorarbeiten zur Operativen Pädagogik und zu Erziehung aus einer Lebenslaufperspektive, biografisch-anamnestische Verfahren für die Diagnose von Lernhemmungen. Yoshiki Sakurai kontrastiert Pranges Erziehungstheorie mit den in Japan verbreiteten Vorstellungen von Bildung, wobei er die Operative Pädagogik teils als normative Pädagogik interpretiert. Der Beitrag von Florian Dobmeier bildet den Abschluss des zweiten Teils mit Überlegungen, die an eine Skizze von Prange und Strobel-Eisele zu massenmedialer Erziehung anschließen. Darin wird das Nudging als Technik und als Fehlform des Erziehens beleuchtet.

 

Teil 3 versammelt Beiträge, die empirische Anschlüsse an die Operative Pädagogik vor allem in Bezug auf pädagogische Interaktionen entwickelt haben. Malte Brinkmann präsentiert videografische Studien aus seiner Unterrichtsforschung und begründet u.a., inwiefern das Zeigen als verkörperte Praktik des Erziehens zu fassen ist und sich als appellatives Zeigen, Hinzeigen, Vorzeigen, Aufzeigen, Sich-Zeigen und weitere Subformen ausdifferenzieren lässt. Florian Weitkämper und Bettina Fritzsche stellen im Anschluss daran Befunde aus einer schulethnografischen Studie vor, in der das ‚doing authority‘ mit Prange als „Lesart des direktiven Zeigens“ (181) eingeordnet werden kann. Ausgehend von Kades Vermittlungs- und Aneignungstheorie zeigt Jörg Dinkelaker in einer videografischen Studie zur Erwachsenenbildung, dass ›Zeigen‹ als Hinwendungsbewegung verstanden werden kann und demonstriert damit zugleich einen weiteren Anschluss der operativen Pädagogik an interaktionstheoretische Ansätze innerhalb einer pädagogischen Teildisziplin.

 

In Teil 4 werden Studien vorgestellt, die das Zeigen als pädagogische Grundoperation in unterschiedlichen Settings empirisch analysieren. Hannah Reuten knüpft an Thomas Fuhrs Ausführungen zur Artikulation des Zeigens an und stellt anhand von Live-Online-Seminaren in der Erwachsenen- und Weiterbildung dar, dass sich Artikulation als Verkettung zeigender Unterstützungsformen bei der Aneignung von Wissen und Fertigkeiten deuten lässt. Die in Teilen der Erwachsenenbildung verbreitete Zurückhaltung gegenüber dem Erziehungsbegriff greifen Jasmin Dazer und Nadja Schwendemann auf und zeigen anhand von zwei Fallstudien, wie Erwachsenenpädagog:innen erzieherisch auf Diskriminierungssituationen reagieren. Juliane Klopstein hinterfragt den in der Operativen Pädagogik angelegten Anspruch planvollen pädagogischen Handels. Ihre empirische Studie belegt demgegenüber, dass Lehren in der Erwachsenenbildung – speziell die zeigende Artikulation – nur begrenzt planbar ist und auf unterschiedlichen Ebenen zwischen Gewissheit und Ungewissheit changiert.

 

Teil 5 enthält das Schriftenverzeichnis Pranges und Schlussbetrachtungen der Herausgeber:innen, die zentrale Befunde aller Beiträge noch einmal bündeln und Forschungsperspektiven für die weitere grundlagentheoretische Forschung in der Erziehungswissenschaft skizzieren.

 

Der Band liefert wichtige Einordnungen, Diskussionen und Erweiterungen von Pranges pädagogischer Grundlagentheorie, insbesondere im Hinblick auf den Vergleich mit Sünkels Erziehungstheorie, emotionstheoretische, kritisch-theoretische und evolutionsanthropologische Anschlüsse. Die Reflexion dieser Theorie insbesondere im Lichte schul- und erwachsenenpädagogischer Empirie gibt zahlreiche Anregungen, wirft aber auch grundsätzliche Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen auf, allgemeinpädagogische Theorien in erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen zu integrieren. Eher am Rande, aber doch sichtbar, verdeutlichen einige Beiträge auch die Herausforderungen, die sich aus weit bzw. eng gefassten Erziehungsvorstellungen ergeben, und beleuchten die noch immer kontrovers beantwortete Frage nach dem systematischen Zusammenhang der pädagogischen Grundvorgänge Erziehung und Bildung. Auffällig ist, dass der Bildungsbegriff in den neueren allgemeinpädagogischen Theorien von Prange und Sünkel kaum berücksichtigt wird. Folglich steht die Disziplin vor der Aufgabe, ihre Begriffssystematik – nun im Licht bisubjektiver Erziehungstheorien – neu zu diskutieren.

 

Aus Sicht des Rezensenten sollte der wertvolle Band in erziehungswissenschaftlichen Studiengängen als unverzichtbare Ergänzung dienen, um neuere Theorieentwicklungen in allgemeinpädagogischen Perspektiven aufzuzeigen, die in vielen Einführungswerken bislang kaum zur Kenntnis genommen oder nur randständig behandelt worden sind. Einen im Gesamtbild lediglich kleinen Mangel des Bandes stellt die Einleitung dar. Darin führen die Herausgeber:innen die Erziehungstheorie Pranges terminologisch so ein, als gäbe es die von ihm entwickelte Differenz von Erziehen und Erziehung nicht – verstanden als Differenz des Zeigens als ‚Teiloperation‘ von Erziehung und von Erziehung als Differenzeinheit von Zeigen/Erziehen und Lernen. Daher eignen sich die Schlussbetrachtungen besser als Einführung in den Band als die Einleitung selbst.

 

Im Fazit bleibt festzuhalten, was die Beiträge des Sammelbandes dokumentieren: Um die Objekttheorien der erziehungswissenschaftlichen Theorieentwicklung steht es in der Erziehungswissenschaft am Ende des ersten Quartals im 21. Jahrhundert keineswegs so schlecht wie angenommen. Diese müssten künftig allerdings von breiten Teilen der Allgemeinen Erziehungswissenschaft noch stärker zur Kenntnis genommen und rezipiert werden.

Ulf Sauerbrey (Erfurt)

 

[1] Zum Begriff ‚bisubjektiv‘ im Hinblick auf die o.g. Theorien vgl.: Sauerbrey, U. (2021). Erziehung als Zusammenwirken unterschiedlicher Tätigkeiten. Eine Reformulierung des pädagogischen Grundproblems jenseits von Freiheit und Zwang – mit einem Seitenblick auf die Pädagogik der frühen Kindheit. In U. Binder & F. K. Krönig (Hrsg.), Paradoxien (in) der Pädagogik (S. 264–283). Beltz Juventa.

[2] Prange, K., & Strobel-Eisele, G. (2006). Die Formen des pädagogischen Handelns. Eine Einführung. Kohlhammer.; Prange, K. (2005). Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der operativen Pädagogik. Schöningh.; Sünkel, W. (1989). Erziehung – Vom Übergang der Natur in den Geist. Pädagogische Rundschau 43, 75-80.; Sünkel, W. (2011). Allgemeine Theorie der Erziehung. Bd. 1: Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis. Juventa.

[3] Zur logischen Deskription vgl.: Sünkel, W. (1996). Phänomenologie des Unterrichts. Grundriss der theoretischen Didaktik (S. 25ff). Juventa.; Sünkel, W. (2011). Allgemeine Theorie der Erziehung. Bd. 1: Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis (S. 9f.) Juventa. Zum (neo-)phänomenologischen Ansatz: Prange, K. (2000). Phänomenologisch oder konstruktivistisch? Und der Frage, wie der Begriff der Erziehung zu bestimmen ist. In C. Adick, M. Kraul & L. Wigger (Hrsg.), Was ist Erziehungswissenschaft. Festschrift für Peter Menck (S. 15–34). Auer. Donauwörth: Ludwig Auer; Kenklies, K. (2011). Das produktive Wagnis der Operativen Pädagogik. Eine Einführung. In K. Prange. Zeigen – Lernen – Erziehen. Hrsg. v. Karsten Kenklies (S. 5–10). IKS Garamond.

[4] Diese zeigt sich insbesondere in neueren Einführungswerken: Casale, R. (2022). Einführung in die Erziehungs- und Bildungsphilosophie. Brill/Schöningh.; Ludwig, P. H. (2020). Grundbegriffe der Pädagogik. Definitionskriterien, kritische Analyse, Vorschlag eines Begriffssystems. Beltz Juventa.; Thompson, C. (2020). Allgemeine Erziehungswissenschaft. Eine Einführung. Kohlhammer.; Vogel, P. (2019). Grundbegriffe der Erziehungs- und Bildungswissenschaft. Barbara Budrich/utb. Casale erwähnt Pranges Theorie lediglich knapp im Hinblick auf seine Idee der Zeigestruktur pädagogischen Handelns, führt darüber hinaus aber keine weiteren Merkmale aus. Vogel lässt sie aus und führt stattdessen ein metatheoretisches Modell bzw. eine Heuristik zur Einordnung von Erziehungs- und Bildungstheorien anhand ausgewählter ‚Klassiker‘ der Pädagogik ein. Ludwig ordnet die Theorien von Prange und Sünkel hinsichtlich ihrer Abgrenzung zu anderen Begriffsfassungen – insbesondere der von Wolfgang Brezinka – als ‚Interaktionstheorien‘ der Erziehung ein, setzt sich inhaltlich aber nicht mit ihren Details auseinander, sondern lehnt sie ab, da sie ‚gängigen Vorstellungen‘ von Erziehung widersprechen. Thompson erwähnt die Theorien nicht.

Zur Zitierweise der Rezension
Ulf Sauerbrey (Erfurt): Rezension von: Kathrin Berdelmann/Thomas Fuhr/Juliane Klopstein/Hannah Reuten (Hrsg.): Von der Reflexion zur Operation. Stand und Perspektiven der Operativen Pädagogik. Paderborn: Brill/Schöningh 2025 (316 S; ISBN 978-3-506-79487-1; 89,00 EUR). In: EWR 24 (2025), Nr. 3 (Veröffentlicht am: 6. November 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/11/von-der-reflexion-zur-operation/