München: kopaed Verlag 2024
(233 S; ISBN 978-3-96848-724-3; 29,80 EUR)
Der Frage, wie Filmpädagog:innen und Filmvermittler:innen gesellschaftliche Dominanzverhältnisse – und damit einhergehende soziale Ungleichheiten – in und mit ihrer Arbeit reflektierbar machen können, widmen sich Katja Lell und Manuel Zahn in ihrem Band „Spannungsfelder interkultureller Filmbildung“. Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der ständigen Wiederholung kolonialer und rassifizierender sowie heterosexistischer und ableistischer Strukturen, die implizit westliche Wissensformen prägen, bildet die Grundlage ihres Ansatzes.
Der Band liefert eine diskriminierungskritische Perspektive für den Bereich der Filmbildung, und zwar mit Fokus auf die Bestimmung, wie die praktische Umsetzung einer interkulturellen Haltung aussehen kann. In diesem Sinne ist das Buch vor allem an Vermittler:innen und Projektinitiator:innen gerichtet, die sich von den hier dargelegten Ausführungen inspirieren lassen und sie dementsprechend in ihrer Komplexität umsetzen wollen.
Die Autor:innen zeichnen die Begleitforschung des Projekts „Interkulturelle Filmbildung“ nach, das in Kooperation von vier Institutionen durchgeführt wurde: Der BpB – Bundeszentrale für politische Bildung, dem DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, VISION KINO – Netzwerk für Film- und Medienkompetenz und dem Österreichischen Filmmuseum. Das Schreiben über die Begleitforschung nehmen sie als Anlass, um Fragen zu Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus oder Klassismus aus einer intersektionalen Perspektive nachzugehen, sowie um mögliche Umgangsweisen vorzuschlagen. Die Komplexität einer solchen Aufgabe wird in dezidiert selbstkritischer Art und Weise aufgemacht, die die eigene weiße und westlich sozialisierte Lebenserfahrung stets reflektiert und Ambivalenzen und Widersprüchen Raum gibt. Ausgehend von der eigenen Erfahrung während der Begleitforschung entwerfen Lell und Zahn das multidimensionale Konzept einer interkulturellen Haltung im Kontext filmpädagogischer und filmbildender Arbeit. Die Lektüre ist in dieser Hinsicht voraussetzungsreich und verlangt entsprechende Vorkenntnisse im Kontext diskriminierungskritischer Auseinandersetzungen.
Das Buch umfasst acht Kapitel. Nach der Einleitung werden im zweiten Kapitel theoretische Rahmungen und leitende Begriffe eingeführt, die die Basis für die späteren praxisbezogenen Reflexionen bilden. Die Vielschichtigkeit zeigt sich bereits in der Begriffsbestimmung: die Autor:innen ziehen zunächst Mark Terkessidis Auslegung des Begriffes „interkulturell“ heran, um auf die spezifische Deutung von „Interkultur“ im Sinne einer „Kultur–im–Zwischen“ [1] (18) hinzuweisen. Daraufhin perspektivieren sie ihre Auslegung in Bezug auf die unter anderem von Paul Mecheril entwickelte „Migrationspädagogik“ [2] (18) sowie auf den Haltungsbegriff von Frauke Kurbacher [3] (29). Mit diesen interkulturellen und migrationspädagogischen Ausführungen kann Lell und Zahns Konzept der ästhetischen Filmbildung „die kulturgeschichtliche Perspektivierung der ästhetischen Filmvermittlung um die Diversität und Komplexität einer gegenwärtigen Migrationsgesellschaft“ erweitern (20).
Im dritten Kapitel wird die Ausgangslage der Begleitforschung des Projekts beschrieben, das zwischen den Jahren 2016 und 2021 stattfand. Diese wurde im Sinne einer Aktionsforschung ausgelegt. Die Autor:innen gliedern das Projekt in drei Phasen (Vorbereitungsphase, Fortbildungsphase und Nachbereitungsphase) und konzentrieren sich auf die zweite Phase in ihrem Band. Daraufhin stellen sie im vierten Kapitel das methodische Vorgehen dar. Vorweg betonen Lell und Zahn in Bezug auf Bradbury und Reason [4], „dass es nie eine Aktionsforschung gegeben hat, sondern einzelne Aspekte und Prinzipien des Forschungsansatzes kontextgebunden unterschiedlich angeeignet wurden und werden.“ (44). Daraufhin formulieren sie eine leitende Fragestellung: „(Wie) Gelingt es uns, eine interkulturelle Haltung in der Filmbildung am Beispiel der Multiplikator:innen- und Autor:innenfortbildungen zu etablieren?“ (69). Im Fokus der Forschungsfrage, so die Autor:innen, stehen die Projektgruppe und deren Arbeits- und Aushandlungsprozesse.
Lell und Zahn stellen sodann den Verlauf des Forschungsprojekts im fünften Kapitel dar. Für Filmvermittler:innen ist das Unterkapitel „Diskussionsfeld Vermittlungsmethoden“ von besonderem Interesse. Nachdem die Autor:innen von einer Gegenüberstellung zwischen einem „an Kontextwissen orientierte[n] Vermittlungsstil“ und einer „wahrnehmungsbezogene[n], ästhetische[n] Filmvermittlung“ (75) berichtet haben, gehen sie explizit der Frage nach „wie viel Wissensvermittlung eine Praxis der interkulturellen Filmbildung brauche“ (75). Diese Kontroverse wird nicht aufgelöst, sondern kritisch reflektiert. Hier werden Räume aufgemacht, die Spannungen und Diskrepanzen in der Vermittlungssituation betonen. Diese Haltung ermöglicht wiederum, dass die Leser:innen sich aktiv und selbstkritisch Gedanken machen können.
Entlang der Darstellung der Ergebnisse der Ko-Forschung, werden die im fünften Kapitel skizzierten „Diskussionsfelder“ im sechsten Kapitel als „Spannungsfelder“ interkultureller Filmbildung reformuliert: „Interkultur“, Filmauswahl, Vermittlungsmethoden und diversitätsorientierte Organisationsentwicklung. Lell und Zahn reflektieren an dieser Stelle, dass die Probleme, auf die sie im Laufe der Aktionsforschung gestoßen sind, nicht ohne Weiteres aufzulösen sind, weil sie auf grundlegende und zum Teil auch dilemmatische Fragestellungen verweisen.
Im Spannungsfeld der „Interkultur“ betonen die Autor:innen, dass der Begriff „Interkultur“ sich „im Projektprozess und in den Fortbildungen entlang einer Betrachtung und Diskussion von Filmen entwickelt und nicht als bestehende Definition vorgegeben werden“ (91) kann und stellen heraus, dass eine interkulturelle Haltung nicht sofort eingenommen werden kann, sondern geübt werden sollte. Im Spannungsfeld „Vermittlungsmethoden“ problematisieren sie das Verhältnis zwischen einer informierten und einer als aufklärerischer Dominanzakt inszenierten Filmvermittlung und werfen machtkritische Fragen auf, die im Feld der deutschsprachigen Filmbildung bisher noch nicht gestellt wurden: „Wie werden Filmlisten erstellt?“, „Wer erstellt sie?“ sowie „Wie mit der weißen Erwartungshaltung umgehen?“ bzw. „Wer vermittelt?“ (114f.). Diese Formulierungen deuten auf ihr Begehren hin, marginalisierte Perspektiven sichtbar werden zu lassen sowie diskriminierende Stereotype und Darstellungsweisen reflektierbar zu machen. Insbesondere gehen sie auf die Notwendigkeit ein, offene Filmgespräche zu gestalten, und unterschiedliche verbale wie nicht-verbale Methoden (wie diskriminierungskritische Moderation, textbezogene Wissensvermittlung, Körperarbeit) und Wissensformen (wie sogenanntes Kontextwissen, Erfahrungswissen) heranzuziehen, um „Vielstimmigkeit“ zu erreichen (121) und somit unterschiedliche Sichtweisen in ein Verhältnis zueinander setzen zu können.
Im letzten Kapitel werden Handlungsempfehlungen und Reflexionsanlässe dargestellt. Die Schwierigkeiten, die mit einer diskriminierungskritischen Haltung einher gehen können, werden hier anschließend ausführlich diskutiert.
Die Lektüre des Bandes ermöglicht eine differenzierte Auseinandersetzung mit Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen in der Filmvermittlungssituation. Die Komplexität des Themas spiegelt sich in der Komplexität der Form und der Formulierungen wider, was wiederum die Qualität dieses Bandes ausmacht: Lell und Zahn wagen es, Anregungen für eine diskriminierungskritische Filmbildung zu formulieren, und es gelingt ihnen dabei, auf eine selbstkritische Art und Weise ihre Leser:innen zu inspirieren und sie darin zu ermutigen, eine interkulturelle Haltung zwischen den Spannungsfeldern einzuüben.
Cristina Diz Muñoz (Frankfurt am Main)
[1] Terkessidis, M. (2010). Interkultur. Edition Suhrkamp. (S. 131).
[2] Mecheril, P. (2010). „Kompetenzlosigkeitskompetenz“. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen. In G. Auernheimer (Hg.), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität (S. 15-35). VS Verlag.
[3] Kurbacher, F. A. (2017). Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung. Könighausen & Neumann.
[4] Reason, P., & Bradbury, H. (2008). Action Research. Participative Inquiry and Practice. Sage.