Eine rekonstruktiv-dekonstruktive Studie zum Einfluss von Erfahrungsräumen auf das Handeln von Lehrer*innen
Opladen: Barbara Budrich 2025
(362 S.; ISBN 978-3-96665-088-5; 90,00 EUR)
Mit ihrer Monographie ‚Schule – Gesellschaft – Professionalisierung. Eine rekonstruktive-dekonstruktive Studie zum Einfluss von Erfahrungsräumen auf das Handeln von Lehrer*innen‘ legt Doreen Cerny eine umfassende Studie zum Handeln von Lehrpersonen vor, die zugleich ihre Habilitationsschrift darstellt. Die zentralen Fragestellungen der Studie lauten: „Wie gestaltet sich das berufsbezogene Handeln von Lehrer*innen mit Migrationshintergrund und welche Erfahrungen liegen diesem zugrunde? Wie konstruieren Lehrer*innen mit Migrationshintergrund Gesellschaft und auf welche Weise hängt ihr Bild von Gesellschaft mit dem Lehrer*innenhandeln zusammen?“ (12). Bereits hier wird deutlich, dass sich die Arbeit ausschließlich auf Lehrkräfte mit Migrationshintergrund bezieht.
Cerny verortet ihre Studie in den Forschungsfeldern der rekonstruktiven Bildungsforschung, der Professionalisierungsforschung sowie der interkulturellen Pädagogik. Nach einer ausführlichen Darstellung des Forschungsstandes (Kapitel 2) widmet sie sich in den nächsten beiden Kapiteln dem theoretischen Rahmen der Studie. Beim Grundlagenverständnis zum Lehrer*innenhandeln (Kapitel 3) werden praxeologische und strukturtheoretische Professionalisierungsansätze herangezogen, wobei letzterer um reflexive und machttheoretische Aspekte erweitert wird. Ergänzend dazu wird Migration in Österreich nach dem Zerfall des Habsburgerreichs aus einer historischen sowie aus einer postkolonialen Perspektive theoretisch beleuchtet (Kapitel 4). Beide Kapitel wirken deutlich umfassender, als es für den Zweck der Studie notwendig wäre, stellen aber eine solide theoretische Grundlage für die anschließende empirische Analyse dar.
Aufbauend auf dieser theoretischen Rahmung führt Doreen Cerny in Kapitel 5 in die Methodologie der Studie ein und begründet detailliert den gewählten rekonstruktiv-dekonstruktiven Zugang. Der Zusammenhang zwischen der gewählten Methode und dem Forschungsgegenstand wird umfangreich dargelegt. Anschließend wird die Auswahl der Stichprobe (Lehrkräfte mit Unterrichtsfächern, in denen gesellschaftliche Grundfragen thematisiert werden) begründet, wenn gleich unklar bleibt, warum die Einschränkung auf zwei Unterrichtsfächer (Religion sowie Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung) bezogen wird, da Lehrkräfte anderer Unterrichtsfächer sicherlich auch gesellschaftliche Grundfragen verhandeln. An das methodische Kapitel anschließend beschreibt die Autorin die Vorgehensweise bei der rekonstruktiven Typenbildung der Studie (Kapitel 6) und identifiziert vier sinngenetische Orientierungen, die das professionelle Handeln der Lehrkräfte strukturieren („Orientierung im Nahfeld Schule“, „gesellschaftsbezogene Orientierungen“, „Orientierung der Sicht der Lehrer*innen auf ihr Handeln“, „Orientierung Deutungsraum Schule“). Dies bietet eine hilfreiche Grundlage für das Verständnis der nachfolgenden Ergebnisse.
Die Kapitel 7 bis 9 beschreiben die konstruierten Typen I – III von Lehrkräften (Typus I: „schüler*innenzentrierter-helfender und gesellschaftstragender Typus“, Typus II: „alltagsorientierter und eine kritisch-emanzipative Haltung evozierender Typus“, Typus III: „berufs(biographisch) ausgerichteter gestaltend-steuernder Typus“). Diese Typen werden an Hand von Interviewpassagen verdeutlicht und entlang der zuvor eingeführten Orientierungen analysiert. Jedes Kapitel schließt mit einer Zusammenschau des Typs, wobei entsprechende Ergebnisse verdichtet dargestellt werden.
Aufbauend auf der Beschreibung der Typen legt Cerny eine „integrative Theorie des Lehrer*innenhandelns“ (324-325) dar. Allerdings erscheint diese Theorie auf Grund der sehr knappen Darstellung schwer verständlich und auch die zahlreichen Verweise auf zuvor gefundene Ergebnisse wirken hier eher verwirrend als klärend. Eine etwas ausführlichere, abgrenzende Beschreibung der entwickelten integrativen Theorie wäre an dieser Stelle wünschenswert.
Im abschließenden Kapitel 11 (Resümee und Ausblick) wird die Studie retrospektiv beleuchtet, die gebildete „integrative Theorie des Lehrer*innenhandelns“ nochmals aufgegriffen und eine Positionierung dieser Theorie vorgenommen. Hier hebt Cerny die Rolle des Migrationshintergrundes der Lehrpersonen durch eine Analyse entlang der post-kolonialen Perspektive nochmals hervor. Sie zeigt auf, dass sich koloniale Denkstrukturen nicht nur in „sogenannten Integrationsverständnissen oder bildungspolitischen Diskursen, die mit Migration zusammenhängen, wiederfinden, sondern […] über Fragestellungen, die das Phänomen Migration betreffen“ (340) hinausgehen.
Offen bleibt am Ende der Arbeit, warum der Fokus auf Lehrkräfte mit Migrationshintergrund nicht bereits im Titel erwähnt wird, wie z. B. in einem Sammelband der Autorin [1], denn dadurch könnte die zentrale Ausrichtung der Studie im Vorfeld deutlicher adressiert werden. Möglicherweise wären etwa die integrative Theorie sowie die konstruierte Typenbildung auch für Lehrpersonen ohne Migrationshintergrund bzw. Einschränkung der Unterrichtsfächer erweiterbar. Dieser Blick auf (weitere mögliche) Limitationen der Arbeit unterbleibt am Ende; eine Verbindung zu berufsbiographisch ausgerichteten Arbeiten wäre wünschenswert. Nicht unerwähnt sollen auch die 263 Fußnoten der Autorin bleiben, die einerseits auf einen sehr breiten und fundierten Blick der Autorin auf die Thematik und das Forschungsfeld hinweisen, andererseits aber auch oftmals den Lesefluss erheblich erschweren.
Aus einer allgemeinpädagogischen Perspektive des Rezensenten, der hauptsächlich in quantitativen Forschungsprojekten und in der ersten Phase der Lehrpersonenbildung tätig ist, bietet Doreen Cernys Monographie einen wertvollen Beitrag zur Professionalisierungsforschung und zur interkulturellen Pädagogik. Die Arbeit überzeugt durch ihre sorgfältige Methodologie, die fundierte theoretische Rahmung und die konstruierte Typenbildung. Sie richtet sich primär an Wissenschaftler*innen, die an theoriebildenden Ansätzen interessiert sind, weniger jedoch an Praktiker*innen oder Studierende. Einzelne Abschnitte der Studie können auch gute Ausgangspunkte darstellen, um etwa mit angehenden Lehrkräften mit Migrationshintergrund in der ersten Phase der Lehrkräftebildung die Bedeutung ihrer gesellschaftlichen Erfahrungen für die eigene Biographiearbeit zu thematisieren.
Michael Himmelsbach (Linz)
[1] Cerny, D., & Oberlechner, M. (Hrsg.). (2019). Schule – Gesellschaft – Migration, Beiträge zur diskursiven Aushandlung des schulischen Lern- und Bildungsraums aus theoretischer, empirischer, curricularer und didaktischer Perspektive. Verlag Barbara Budrich.