Transnationalität als Impuls für Schulentwicklung und Lehrkräftebildung
Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2024
(248 S.; ISBN 978-3-17-037218-4; 34,00 EUR; eBook ISBN 978-3-17-037219-1; 30,99 EUR)
Das von Yasemin Karakaşoğlu und Dita Vogel vorgelegte Buch „Migration bewegt Schule. Transnationalität als Impuls für Schulentwicklung und Lehrkräftebildung“ richtet sich an pädagogisch professionell tätige Personen, die ihre Praxis an Schulen in Deutschland angesichts der migrationsgesellschaftlichen Realität zielgerichtet verändern möchten. Zudem kann das Buch als anregungsreiche Grundlage für alle Phasen der Lehrkräfteausbildung und -fortbildung genutzt werden. Die Autorinnen machen dabei vieles richtig: Das Buch ist ansprechend aufbereitet, es bedient sich einer gut verständlichen Sprache, verwendet Visualisierungen und bietet konkrete Anregungen für die Verwendung in der Lehrkräftebildung.
Grundlage des Buches ist das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „TraMiS” (Transnationale Mobilität an Schulen), in dem Handlungsoptionen für Schulen und Lehrkräfte in durch Migration geprägten Gesellschaften erarbeitet wurden. Die Autorinnen haben als Leiterinnen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts von 2018 bis 2021 in einem Team an der Universität Bremen mit zwölf Schulen in Deutschland zusammengearbeitet. Sie haben Ideen für die Praxis mit Schüler:innen, Lehrkräften und Schulleitungen erkundet, weiterentwickelt und diskutiert. In der Publikation wird der gewählte „multimethodische transformativ-kooperative Forschungsansatz” (Karakaşoğlu/ Vogel 2025: 220) erwähnt, bei dem unterschiedliche methodische Zugänge der qualitativen Sozialforschung wie ethnographische Protokolle sowie Einzel- und Gruppeninterviews zum Einsatz kamen. Dieser Ansatz wird jedoch nicht weiter ausgeführt. Zudem wurden Anregungen für eine gute Praxis im Umgang mit Diversität in der Schule auf Grundlage von Schulbesuchen in Kanada, den USA, Italien und Schweden einbezogen.
Ein besonderes Merkmal des Buches ist der Blick in die vielfältigen Erfahrungen und Perspektiven von Schüler:innen, die durch vergangene, gegenwärtige und zukünftige Mobilität gekennzeichnet sind bzw. sein werden. Die Autorinnen beziehen dabei nicht nur die Auswirkungen von Migration auf Schulen mit ein, sondern auch die Bedeutung von Schulen im Hinblick auf eine potenziell zukünftige grenzüberschreitende Mobilität junger Menschen. Für die unterschiedlichen Mobilitätsformen verwenden die Autorinnen den Oberbegriff der transnationalen Mobilität. Das Buch regt Schulen und Lehrkräfte dazu an, nicht nur auf gesellschaftliche Migrationsprozesse zu reagieren, sondern Mobilität in all ihren Formen aktiv zu begegnen und bestmöglich zu begleiten.
Zum Aufbau des Buches
Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil werden zunächst das zugrunde liegende Verständnis migrationsgesellschaftlicher Transformationsprozesse sowie die sich daraus ergebenden Anforderungen an Schulen vorgestellt (Kap. 1). Anschließend wird die bildungssoziologische Frage nach den gesellschaftlichen Funktionen von Schule unter Berücksichtigung von Migration und Mobilität erörtert (Kap. 2). Es folgt ein Rückblick auf die bundesdeutsche Migrationsgeschichte ab 1950 sowie eine Zusammenfassung schuladministrativer Vorgaben im Umgang mit transnationaler Mobilität in Deutschland anhand von Beschlüssen der Kultusministerkonferenz. Das Kapitel schließt mit einer Auflistung zentraler Aspekte von Schule in der Migrationsgesellschaft (Kap. 3). Im Anschluss an die Kapitel 2 und 3 werden Anregungen gegeben, wie die Inhalte in die Lehrkräftebildung einbezogen werden können.
Der zweite Teil des Buches bietet Impulse für die pädagogische Praxis mit dem Ziel, Lehrkräfte für einen wertschätzenden und differenzierten Umgang mit den transnationalen Lebensrealitäten von Schüler:innen aus- und fortzubilden. Zudem werden Ideen präsentiert, wie Schulen sich in dieser Hinsicht zielgerichtet weiterentwickeln können. Einleitend werden sechs exemplarische Szenarien zu (potenziell) transnationalen Bildungsverläufen von Schüler:innen vorgestellt, die aus dem Projektmaterial gewonnen wurden. Diese werden als kurze Vignetten präsentiert, anschließend wird jeweils der in der Praxis oftmals anzunehmende ebenso wie der als gelungen klassifizierte andere Umgang von Schulen mit den vergangenen, gegenwärtigen und/oder zukünftigen transnationalen Mobilitätserfahrungen diskutiert (Kap. 4). Es folgen sechs Kapitel zu praxisrelevanten Themenbereichen: die Bedeutung einer migrationssensiblen Haltung von Lehrkräften (Kap. 5), die Zusammenarbeit in multiprofessionellen und multilingualen Teams in Schulen (Kap. 6), schulische Aufnahmemodelle für zugewanderte Schüler:innen (Kap. 7), der schulische Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit (Kap. 8), das Angebot befristeter, individueller Auslandsaufenthalte von Schüler:innen (Kap. 9) sowie die Kommunikation zwischen Schulen und Eltern in der Migrationsgesellschaft (Kap. 10). Alle Kapitel des zweiten Teils des Buches schließen mit Anregungen für den Einsatz der jeweiligen Inhalte in der Lehrkräftebildung.
Die beiden Hauptteile werden durch eine Einleitung sowie einen Ausblick und Epilog am Ende des Buches gerahmt. In diesen Buchteilen werden wichtige Hinweise zum Entstehungszusammenhang und zur Anlage des Buches gegeben.
Kritische Würdigung
Das Buch bereitet eine aktuell in der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung geführte Diskussion über die Bedeutung einer transnationalen Perspektive auf die Lebensrealitäten von Schüler:innen für die schulische Praxis auf. Aus wissenschaftlicher Sicht enthält es für die transnationalisierungstheoretische Debatte in der Erziehungswissenschaft keine neuen Erkenntnisse: Der Oberbegriff der transnationalen Mobilität wird vielmehr in einem weiten, eher unspezifischen Verständnis grenzüberschreitender Lebens- und damit Bildungsverläufe verwendet. Eine Bezugnahme auf die mittlerweile stark ausdifferenzierte, theoretische und empirische erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Perspektive in Bezug auf formale, non-formale und informelle Bildungs- und Erziehungsprozesse und -praktiken findet nicht statt. Für eine im engeren Sinne wissenschaftliche Studie wäre zudem das gewählte Vorgehen, im Epilog lediglich einige wenige Hinweise zu den zugrunde liegenden Daten zu geben und keine Angaben zu ihrer Analyse zu machen, unpassend. Für das Anliegen der Autorinnen, ein Buch für die schulische Praxis zu gestalten, erscheint diese Herangehensweise jedoch nachvollziehbar. Interessant wäre es jedoch gewesen, mehr Einblick in die Anlage und Umsetzung der verzahnten Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis zu erhalten.
Mit dem Fokus auf die unterschiedlichen Mobilitätserfahrungen von Schüler:innen in ihrer empirischen Breite stellen sich die Autorinnen gegen einen verengten Blick auf Migration als monodirektionale, einmalige Mobilität, die oftmals problemorientiert als Rahmenbedingung für fehlenden Schulerfolg betrachtet wird. Es wäre anregend gewesen, wenn bei der Berücksichtigung unterschiedlich kontextualisierter Mobilitätserfahrungen auch intersektionale Verknüpfungen mit weiteren sozialen Differenzen vorgenommen worden wären. Der Gewinn einer solchen Verzahnung zeigt sich beim Thema der befristeten, individuellen Auslandsaufenthalte von Schüler:innen: Ein von schulischer Seite angenommenes fehlendes Interesse an Auslandsaufenthalten in der Schulzeit wird auf eine Gemengelage an Migrationserfahrungen und einer sozio-ökonomisch benachteiligten Lage zurückgeführt.
Dies Buch ist für all jene ein Gewinn, die in Schulen arbeiten, sich mit Schulentwicklung befassen und/oder in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften tätig sind und eine neue Perspektive auf Migration und Schule suchen. Sein Mehrwert liegt im breiten Zugang zu unterschiedlichen Mobilitätserfahrungen von Schüler:innen sowie den zahlreich anregenden Ideen zur Veränderung des schulischen Umgangs mit transnationaler Mobilität.
Henrike Terhart (Bochum)