Pädagogische Organisationen und darüber hinaus
Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2024
(480 S; ISBN 978-3-8474-3008-7; 39,90 EUR)
Wenn Bohnsack, Sturm und Wagener einleitend in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband anführen, dass sich die Praxeologische Wissenssoziologie „durch eine fortdauernde Reflexion, Ausdifferenzierung, Weiterentwicklung wie auch Generierung ihrer Kategorien in der empirischen Auseinandersetzung“ (9) auszeichnet, dann kann ihnen im Grunde nicht widersprochen werden. Immer wieder fanden in der Vergangenheit Versuche statt, die Methode mitsamt ihren Kategorien für Untersuchungen in vielfältigen und immer wieder neuen Bereichen der Sozialforschung fruchtbar zu machen.
In ihrem im Jahr 2024 erschienenen Sammelband widmen sich die Herausgeber:innen nun der professionellen Praxis in sogenannten ‚people processing organizations‘, zu welchen unter anderem Kitas, Schulen, Jugendämter, sozialpädagogische Einrichtungen und Hochschulen zählen. Als Grund für die im Sammelband eingenommene feldübergreifende Perspektive führen die Herausgeber:innen an, zur „Eigenlogik“ (9) der Arbeitsweise innerhalb solcher Organisationen vordringen zu wollen, um vorurteilsbehafteten rationalistischen Zugangsweisen entgegenzuwirken. Diese Eigenlogik drückt sich Bohnsack zufolge in der von ihm so bezeichneten ‚konstituierenden Rahmung‘ und somit darin aus, wie „Interaktions- und Entscheidungsprozesse […] in people processing organizations“ (17) gestaltet werden.
Im Sammelband beziehen sich die Verfasser:innen immer wieder auch auf ein schon zwei Jahre zuvor veröffentlichtes Werk, welches Bohnsack gemeinsam mit Bonnet und Hericks [1] zum Thema der Professionsforschung herausgegeben hat und innerhalb welchem ebenfalls eine feldübergreifende Perspektive eingenommen wurde. Bei dem hier rezensierten Sammelband handelt es sich in gewisser Weise um eine Weiterführung sowie Ausdifferenzierung jener Analysearbeit, deren Anfänge im Sammelband aus dem Jahr 2022 nachgezeichnet worden waren (18). Durch die wiederholte Bezugnahme auf das vorangegangene Werk kann bei Leser:innen der Eindruck entstehen, die Lektüre des ersten Bandes wäre Voraussetzung, um den aktuellen Ausführungen folgen zu können. Das ist allerdings nicht der Fall. Sehr präzise und klar führt Bohnsack im einleitenden Beitrag (Text 2) in die dokumentarische Professionsforschung ein, erläutert methodenspezifische Fachbegriffe und zeichnet Entwicklungen nach, die zur Etablierung dieses Forschungsgebietes geführt haben.
Der Sammelband ist in sechs Abschnitte gegliedert, wobei nach der eben erwähnten allgemeinen Einleitung jeder der vier darauffolgenden Abschnitte einer eigenen Gruppe von ‚people processing organizations‘ (Frühpädagogik, Schulpädagogik und Fachdidaktik, Sozialpädagogik und Soziale Arbeit, Studium) gewidmet ist.
Kallfaß (Text 3), Rothe (Text 4) und Gerstenberg (Text 5) gelingt es, zu teils verborgenen, jedenfalls aber bisher noch zu wenig beleuchteten Aspekten der frühpädagogischen (Team-)Arbeit vorzudringen. Während Kallfaß die (Selbst )Reflexion pädagogischer Fachkräfte als kollektiven Prozess entlarvt, nimmt Rothe sich der möglichen Unvereinbarkeit von heute vermittelten didaktischen Grundsätzen, habitueller Praxis und Förderprogrammstrukturen an. Gerstenberg zeichnet in ihrem Beitrag auf hochkomplexe Weise nach, wie frühpädagogische Fachkräfte die Aufgabe bewältigen, im Teamgespräch gemeinsam eine Einschätzung bezüglich der Kompetenzen eines Jungen vorzunehmen, und bringt dabei potenzielle Reibungspunkte zwischen entwicklungspsychologischer Kategorisierung und dem pädagogischen Ideal der Orientierung am einzelnen Kind ans Licht.
Der Schule ist im Sammelband mit insgesamt sieben Texten unverkennbar der meiste Raum gewidmet. Der erste Text zu dieser Institutionsform von Papke und Wagner-Willi (Text 6) deckt auseinanderstrebende Orientierungen von Klassenlehrpersonen und Fachkräften aus dem Bereich der Sonder- bzw. Inklusionspädagogik auf, die sich hinter Glättungen und Validierungen verbergen. Sowohl der Beitrag von Hertel (Text 7), der sich dem Aspekt der Rahmungsmacht innerhalb eines sogenannten ‚Trainingsraumes‘ (einem Konzept in Schulen zur Bearbeitung von Störungen) (176) widmet, als auch jener von Sturm (Text 8), welcher Vergleiche zwischen bestimmten Schulgesetzen und fachunterrichtlichen Orientierungen von Mathematiklehrpersonen vornimmt, wenden sich sehr spezifischen Themen zu, weisen in ihren Ergebnissen aber deutlich über diese Themen hinaus. Treß (Text 9) wagt sich in seiner Studie zu Gruppenimprovisation im Musikunterricht auf innovative Weise an eine Kombination der Dokumentarischen Videointerpretation mit der Design-Based Research (DBR) heran. Der darauffolgende Beitrag von Tesch und Grein (Text 10) besticht durch einen spannenden Zoom in den Fremdsprachenunterricht und zeigt auf, was geschehen kann, wenn übliche methodische Pfade von Lehrkräften verlassen werden. Bakels, Hericks, Major und Bonnet (Text 11) bereichern den Sammelband, indem sie klare Antworten auf im zweiten Abschnitt ihres Beitrages gestellte Grundfragen zur Analysemethode liefern, und Jahr nimmt in Text 12 wiederholt sehr aufschlussreiche Abgrenzungen zur Frühpädagogik und Sozialen Arbeit vor, was die Leser:innen bei der Einnahme einer feldübergreifenden Perspektive unterstützt.
Franz (Text 13), Bauer und Wiezorek (Text 14) sowie Streblow-Poser (Text 15) widmen sich dann dem Bereich der Sozialpädagogik bzw. der Sozialen Arbeit. In den Texten 13 und 14 werden dabei vielschichtige und für die Professionalisierung des Feldes höchst relevante Projekte dargestellt, zugleich findet darin eine weitere Klärung methodenspezifischer Begriffe statt. Auch der Beitrag von Streblow-Poser erscheint äußerst innovativ und in der darin nachgezeichneten Analyse überzeugend und erinnert thematisch in Teilen an den Beitrag von Gerstenberg (Text 5) im selben Band.
Der Beitrag von Meister und Sotzek (Text 16) und auch jener von Hinzke und Wittek (Text 17) sind dem Feld ‚Studium‘ gewidmet. Während sich Meister und Sotzek ganz spezifisch dem Fachhabitus von Studierenden des Lehramts zuwenden, führen Hinzke und Wittek in ihrem Beitrag Orientierungen von Studienanfänger:innen des Lehramtes, der Frühpädagogik und der Sozialen Arbeit zusammen, wobei Hinzke und Wittek am Ende selbst auf mehrere Limitationen hinweisen und die Frage nach möglichen studiengangspezifischen Studierendenmilieus offenbleibt.
Abgerundet wird der Sammelband mit einem spannenden feldübergreifenden Text von Bormann (Text 18), der sich dem Aspekt des Vertrauens annähert.
In den meisten Beiträgen bleiben die Autor:innen sehr nah am spezifischen Fallmaterial (z. B. den Aussagen einzelner Personen), führen wenige Vergleichshorizonte an, zeigen jedoch neue und durchaus innovative Wege des Einsatzes der Dokumentarischen Methode auf, womit deutlich zu ihrer Weiterentwicklung beigetragen wird. Bei, mit den im Sammelband untersuchten Feldern vertrauten Leser:innen könnte sich wiederholt die Frage aufdrängen, wie sich aktuell große Herausforderungen wie ständige Personalwechsel und der zunehmende Lehr- und Fachkräftemangel auf die herausgearbeiteten Aspekte auswirken könnten. Diese Frage bleibt im hier rezensierten Sammelband unbeantwortet, könnte in einem späteren jedoch ihre Bearbeitung finden.
Dass am Ende ein übergreifender Beitrag über die hier untersuchten Organisationsfelder verfasst wurde, ist gewiss überaus sinnvoll, jedoch bleibt doch fraglich, inwieweit das einleitend formulierte Ziel, zu einer feldübergreifenden Perspektive hinzuführen, erreicht werden kann. Hinderlich könnte sein, dass auch in diesem Werk erneut die altbekannte Trennung in Frühpädagogik, Schulpädagogik, Sozialpädagogik und Akademische Lehre vorgenommen wurde. Leser:innen könnten dazu verleitet sein, üblichen Recherchemustern zu folgen und sich ausschließlich den Beiträgen zu jenem Forschungsfeld zuzuwenden, welches sie als das ihrige bezeichnen. Dabei – und dies ist als Aufruf an alle Leser:innen zu verstehen, es anders handzuhaben – würde ihnen aber sehr viel Aufschlussreiches und zu weiterer Forschung Inspirierendes entgehen.
Theresa Hauck (Wien)
[1] Bohnsack, R., Bonnet, A., & Hericks, U. (2022). Praxeologisch-wissenssoziologische Professionsforschung: Perspektiven aus Früh- und Schulpädagogik, Fachdidaktik und Sozialer Arbeit. Klinkhardt.