Dorothea Willkomm/ Ines Boban/ Andreas Hinz (Hrsg.)

Klabauterin Emily Willkomm

Leben, Lernen und künstlerisches Tätigsein zwischen inklusiver Resonanz und exklusiver Ignoranz
Weinheim: Beltz Juventa 2024
(382 S.; ISBN 978-3-7799-8308-8; 36,00 EUR)

Im mit der UN-Konvention für Menschen mit Behinderung vereinbarten Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am kulturellen Leben hebt der zweite Absatz dieses 30. Artikels explizit das eigene künstlerische Wirken und dessen Qualität für das gesellschaftliche Leben hervor [1]. Damit bezieht sich Inklusion auf die zentralen Bereiche und Ressourcen der Gesellschaft, sucht soziale Partizipation für alle Menschen zu ermöglichen und Ausgrenzung und Benachteiligung zu überwinden [2]. Eine solche selbstverständliche Zugehörigkeit zu Teilsystemen und damit die Kommunikation in das sozialgesellschaftliche Geschehen hinein erfordert mitunter ein Kollektiv beteiligter Personen, das Möglichkeitsräume für die Entfaltung eines Menschen schafft [3]. Eine biographische Aufarbeitung unter dem Blickwinkel von advokatischen Beziehungen ist bisher jedoch kaum umfassend dokumentiert.

Der 2024 erschienene Band „Klabauterin Emily Willkomm“ von Dorothea Willkomm, Ines Boban und Andreas Hinz konkretisiert dies in Texten von über vierzig Wegbereiter:innen der heute 47-jährigen Emily Willkomm auf ihrem Weg zum Ensemblemitglied des Theaters Klabauter in Hamburg. Ziel ist es, diesen „inklusionsorientierten Lebensweg“ unter der Vielfalt von Bezügen und Beziehungen im individuellen Umfeld aufzuzeigen (16).

Der Band versammelt Beiträge unterschiedlicher Gattungen – narrative Texte, Briefe, Gedichte und Interviews – situationsbezogen bebildert und teils durch weitere Dokumente ergänzt. Die Kapitelstruktur folgt den Lebensbereichen der Protagonistin: (1) Das persönliche Umfeld, (2) Lernen und Bildung, (3) Wohnen und Freizeit, (4) Tätigsein am Theater, und wird von den Autor:innen an verschiedenen Stellen und abschließend zusammengeführt in einer übergeordneten (5) Einordnung, Annäherung und Rahmung. Die Fülle an Beiträgen lässt es lediglich zu, einzelne im Überblick herauszugreifen.

Der erste Teil beginnt mit einer rückblickenden geschichtlichen Aufarbeitung familiärer Berührungspunkte zu Menschen mit Behinderung durch Tante Lela Lähnemann, indem sie mit einem Brief der Großmutter, in dem diese 1941 über ihre Sorge bezüglich der nationalsozialistischen „Euthanasie“ schreibt, eine historische Fußnote setzt. Im zweiten Beitrag beschreibt Dorothea Willkomm die Zeit nach der Geburt ihrer Tochter 1978, die Erkrankung und deren Folgen unter der Ambivalenz aus lebensrettender medizinischer Versorgung, Empathielosigkeit in der Kommunikation zu Diagnosen und Prognosen und der Distanz derjenigen, die sie nicht näher kennen; sie schreibt aber auch davon, wie Verstehen ohne Lautsprache als wirkliches Wahrnehmen gelingen kann. Diese Differenz zwischen Menschen, die mit Emily Willkomm in Beziehung treten, und jenen, die distanziert bleiben, zieht sich durch alle folgenden Lebensbereiche, wird aber jeweils im Übergang zu neuen Lebensphasen besonders relevant. Zunächst schreiben ihre nächsten Angehörigen in den weiteren Beiträgen in erfrischender und liebevoller Weise von ihrer Schwester, Mitbewohnerin, Schulfreundin etc. Dieses Umfeld wächst über die Jahre an und gipfelt im Zukunftsfest 2018, das Ines Boban und Andreas Hinz dokumentieren und dessen Kern sie mit dem Zitat von Czollek hervorheben (2020, 161): „Menschen haben immer Ressourcen, die sie einsetzen können, um Verbündete zu sein“ (63). Dies und auch die anschließende Selbstbeschreibung der Mutter von Emily Willkomm setzen Akzente einer politischen Dimension der Inklusionsbewegung.

Im zweiten Teil kommen diejenigen zur Sprache, die Emily Willkomm auf ihrem Lern- und Bildungsweg begleitet haben, was zunächst im Überblick von Dorothea Willkomm gespickt mit zentralen Bezügen zur Frage nach „‚Aussonderung‘ oder ‚Nichtaussonderung‘“ (75), zum Kampf von Elterninitiativen und entlang der Ressourcenfrage aufgezeigt wird. Auch der Rückblick der beiden damals Verantwortlichen des Kinderladens, Christa Fenge-Huber und Dieter Huber, zeigt auf, wie sich bestehende Systeme im Prozess entwickeln können, sowohl deren informelle Rituale (Geburtstagsfeier) als auch formale Strukturen zur konzeptionellen Umsetzung von Inklusion. Die Beiträge von Anke Brauckmann und Karen Jalass geben Einblick zu den Themen, die mit der Einrichtung von Integrationsklassen, Emily Willkomms Einschulung nach drei Anläufen und der Grundschulzeit einhergehen und skizzieren dabei aufkommende Phänomene wie u.a. die scheinbare Beurteilung darüber, wer „für die Integration geeignet“ sei (90), aber auch eine sich entwickelnde Schulkultur „egalitärer Differenz“ [4]. Dies unterstreicht der darauffolgende Beitrag, in dem Andreas Hinz die in „Expert*innen-Interviews“ generierte Perspektive der Mitschüler:innen darstellt (95). An diesen Ausschnitt aus der Begleitstudie knüpft Jörg Ramseger an. Er setzt sich kritisch mit dem bestehenden selektiven Schulsystem auseinander, wo „Erfolg und Misserfolg privatisiert werden“ (109). In den darauffolgenden Beiträgen von Andreas Hinz und Ines Boban werden der Übergang und die Zeit in der Gesamtschule mit deutlich geringerer Adaptivität der dort vorhandenen Strukturen dargestellt. Als Exkurs liest sich der Beitrag von Ines Boban, in dem sie Mitschüler:innen aus Inklusionsklassen von Sekundarstufen anderer Schulen zu Wort kommen lässt. Abschließend konstatiert Andreas Hinz Learnings für andere Schulen und plädiert dabei für eine gemeinsame Orientierung in kollektiven Unterstützer:innenkreisen.

Der dritte Teil wird wiederum durch die Mutter von Emily Willkomm im Überblick eingeführt: Wohnen zwischen schulischer Wohnortnähe und der virulenten Frage nach einem passenden Angebot im jungen Erwachsenenalter. Sabine Krüger und Christian Oppermann konkretisieren den Erfahrungsraum und dessen Möglichkeiten durch persönliche Assistenz. Trotz der stetig geringen Personalressourcen sind es die Menschen im Umfeld von Emily Willkomm, die ihre freie Zeit zur gemeinsamen Freizeit werden lassen und sich in der Reflexion immer wieder mit dem „Miteinander-Sein“ (Lena Sickmann, 171) auseinandersetzen, sei es in stillen Situationen (Günther Fenske) oder bei Tanz und Musik (Julia Westphal). Die beiden Beiträge, die von Ines Boban diesem Kapitel hinzugefügt sind, sind – so wie auch weitere im Band – bereits in früheren Publikationen zum Thema inklusiver Lebenswelt veröffentlicht worden und sowohl aus inhaltlicher Passung als auch im direkten Bezug auf Emily Willkomm erneut aufgegriffen. Zweiterer setzt sich kritisch mit dem leistungsorientierten Zeitgeist von Freizeitgestaltung auseinander und wirbt darin für eine „Veränderung des Blickwinkels“ (185).

Im vierten Teil wird Emily Willkomms Einstieg und ihr Wirken am Theater beleuchtet. Astrid Eggers und Florian Polzin beschreiben, wie sich Zusammenarbeit und Teilhabe entwickelt haben und stellen ihr künstlerisches Wirken als Projektionsfläche gesellschaftlicher Thematiken dar, was beim Publikum diverse Reflexionsmuster anrege. Daran knüpfen Ines Boban und Andreas Hinz an, wenn sie die ausgearbeiteten Rollen von Emily Willkomm und die entsprechenden Stücke nachzeichnen. Auch die Ensemblemitglieder sprechen offen über ihre Wahrnehmungen im gemeinsamen Schaffen mit ihrer Theaterkollegin – so auch die Anekdote von Henri Hüster, welche das partizipative Verständnis der Klabauter:innen verdeutlicht. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht setzen sich Dorothee de Place und Karin Nissen-Rizvani reflexiv mit dem Selbstverständnis des zeitgenössischen Theaters auseinander, u.a. als „postinklusives Theater“ (231). Anne Welslau ergänzt mit einem fundierten Beitrag aus der Perspektive der Disability Studies zur Wirkmächtigkeit ableistischer Denkmuster.

Im abschließenden Kapitel durchstreift Ines Boban zunächst (inter-)kulturelle und kulturgeschichtliche Aspekte, u.a. mit der zentralen Frage danach, „Wer kann Künstler*in sein?“ (272), und verknüpft diese mit den dargelegten Perspektiven. Ebenfalls bezugnehmend auf die facettenreichen Beiträge nutzt Andreas Hinz die Interpretationsfolie der „Resonanztheorie“ (294), um das unterstützende soziale Umfeld von Emily Willkomm, aber auch die ebenfalls beschriebene Exklusion und die „Ignoranzerfahrungen“ einzuordnen (303).

Die Verwendung unterschiedlicher Textgattungen, die hier nicht nur Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis sind, sondern gleichberechtigt neben konzeptionellen Beiträgen stehen, erscheint ungewöhnlich. Dennoch ist es den Autor:innen gelungen, mit den Texten über und für Emily Willkomm sowohl ihre bisherige Biographie nachzuzeichnen als auch zentrale Wegmarken, Fragen und Irritationen der bundesdeutschen Inklusionsentwicklung und der darin verorteten Perspektive auf Menschen mit komplexer Behinderung aufzuzeigen. Für den Fachdiskurs wird hier die Rekonstruktion sozialer Ressource sowie die Wirkmächtigkeit konkret, dass Beteiligte zu „Mitlernende[n]“ [3] werden. Kultur zeigt sich dabei als progressives Medium, das wegweisend für das gesellschaftliche Miteinander ist. Dies zeigt sich auch in der Besonderheit, dass Patricia Netti, selbst Buchautorin mit Inklusionsgeschichte, das Geleitwort zum Band verfasst hat, was als verwirklichte kultureller Partizipation gedeutet werden kann [5].

Gregor Frirdich (Weingarten)

[1] Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. (2018). Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/CRPD/CRPD_Konvention_und_Fakultativprotokoll.pdf
[2] Kronauer, M. (2013). Soziologische Anmerkungen zu zwei Debatten über Inklusion und Exklusion. In R. Burtscher, E. J. Ditschek, K.-E. Ackermann, M. Kil & M. Kronauer (Hrsg.), Zugänge zu Inklusion: Erwachsenenbildung, Behindertenpädagogik und Soziologie im Dialog (S. 17–25). Bertelsmann Verlag.
[3] Feuser, G. (2011). Advokatorische Assistenz. In G. Feuser & T. Erzmann (Hrsg.), „Ich fühle mich wie ein Vogel, der aus seinem Nest fliegt.” Menschen mit Behinderungen in der Erwachsenenbildung (S. 203–218). Peter Lang Verlag.
[4] Prengel, A. (2001). Egalitäre Differenz in der Bildung. In H. Lutz & N. Wenning (Hrsg.), Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft (S. 93–107). Norddeutscher Bibliotheksverbund. DOI: 10.25656/01:2621
[5] Netti, P., Boban, I., & Hinz, A. (2022). »Ich mache mir einfach mehr Gedanken über die Gesellschaft als über mich«. Leben, Lernen und Arbeiten zwischen inklusiven Ansprüchen und exklusiven Traditionen. Juventa Verlag.

Zur Zitierweise der Rezension
Gregor Frirdich (Weingarten): Rezension von: Dorothea Willkomm/ Ines Boban/ Andreas Hinz (Hrsg.): Klabauterin Emily Willkomm. Leben, Lernen und künstlerisches Tätigsein zwischen inklusiver Resonanz und exklusiver Ignoranz Weinheim: Beltz Juventa 2024 (382 S.; ISBN 978-3-7799-8308-8; 36,00 EUR). In: EWR 24 (2025), Nr. 4 (Veröffentlicht am: 20. November 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/11/klabauterin-emily-willkomm/