Meike G. Werner/ Rainer Hering

Katakombenzeit

Wilhelm Flitner in Hamburg 1929–1969
Göttingen: Wallstein Verlag 2025
(488 S.; ISBN 978-3-8353-5638-2; 39,00 EUR)

Um Wilhelm Flitner (1889–1990), den geisteswissenschaftlichen Pädagogen und langjährigen Hamburger Ordinarius für Erziehungswissenschaft, ist es nach Ende der in den 1980er und -90er Jahren teils erbittert geführten Auseinandersetzungen der Erziehungswissenschaft mit ihrer NS-Vergangenheit ruhig geworden. [1] Und dies trotz zahlreicher, bis heute unternommener Versuche, die bleibenden theoretisch-methodologischen und wissenschaftlichen Verdienste der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik im Allgemeinen [2] und von Flitners Denken im Besonderen zu sichern [3] – war es doch die Geisteswissenschaftliche Pädagogik, die während der Weimarer Republik die Eigenart pädagogischer Praxis im Unterschied zu anderen kulturellen Praxen bestimmte und auf diese Weise Pädagogik/Erziehungswissenschaft als akademische Disziplin begründete.

Und so muss es in der Erziehungswissenschaft auf besondere Aufmerksamkeit stoßen, wenn nun ein Werk mit umfangreichen Auszügen aus Flitners unveröffentlichten Tagebüchern und einer Neudarstellung seiner Tätigkeit und seines Lebens in Hamburg erscheint, wo Flitner von 1929 bis 1958 als Ordinarius für Erziehungswissenschaft die Kernzeit seiner akademischen Tätigkeit verbrachte. Erschienen in der von der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung herausgegebenen Reihe „Wissenschaftler in Hamburg“, widmet es sich unter dem Titel „Katakombenzeit“ – so die Bezeichnung Flitners für seine Existenzform im Nationalsozialismus – Flitners Zeit in Hamburg, in die zentral die Epoche des Nationalsozialismus fällt.

Auf der Basis zahlreicher, bislang unveröffentlichter Materialien erzählt Rainer Hering – kurzweilig ergänzt durch Fotos und Dokumente – zunächst Flitners Geschichte in Hamburg, von den Umständen seiner Berufung, der Zusammenarbeit mit Kollegen und der Hamburger Schulbehörde, seinem Wirken in akademischer Selbstverwaltung und Lehre, seinen Netzwerken sowie seiner Rolle im wissenschaftlichen und bürgerlichen Leben der Hansestadt. Flitner wurde 1929 an die Universität Hamburg berufen, wo die Volksschullehrerbildung seit 1926 vollständig in die Universität integriert worden war. Hier prägte er die junge Disziplin der Erziehungswissenschaft maßgeblich und nachhaltig.

Die Darstellung Herings sowie die anschließend von Meike G. Werner sorgfältig ausgewählten, transkribierten und kontextualisierten Passagen aus den Tagebüchern – im vorliegenden Band leider nur von 1929 bis 1949 „für die politisch und beruflich bewegten Jahre“ (398) abgedruckt – geben Einblicke in das Alltags- und Familienleben Flitners in Groß Flottbek, wo er mit seiner Frau Elisabeth (1894–1988), einer promovierten Nationalökonomin, und den insgesamt vier Kindern lebte. Die Tagebuch-Passagen erzählen vom Alltagsleben, den zahlreichen Festen und Geselligkeiten, den jährlichen Ferienreisen in den Süden und ins heimatliche Thüringen. Sie zeigen eine maßgeblich von Elisabeth Flitner getragene bildungsbürgerliche Lebensform in einem großen Verwandten-, Freundes- und Kollegenkreis. Das reiche Netzwerk an genannten Personen wird durch ein fast 60-seitiges ausführliches Register erschlossen und stellt eine Art „Who is Who“ der deutschen Bildungs- und Kulturgeschichte dieses Zeitraums dar. Die Vorgeschichte von Flitners Zeit in Hamburg hätte allerdings etwas eingehender geschildert werden können. Denn das Studium u. a. bei Herman Nohl in Jena, die Kriegserfahrungen Flitners, die für sein Denken zentrale Prägung durch die deutsche Jugendbewegung, die Mitgliedschaft im jugendbewegten Sera-Kreis um Eugen Diederichs oder das Engagement in der Volkshochschulbewegung nach 1918 – die aus dem Thüringen des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik stammenden Freundschaften und Orientierungen Flitners erweisen sich auch für die Hamburger Zeit als einflussreich.

Die Darstellung folgt einer – in den weitesten Teilen überzeugenden – Lesart Flitners als einem „religiösen Denker, dabei überzeugten Europäer, Humanist[en] und gläubigen Christ[en]“ (17), der „den Nationalsozialisten ablehnend“ gegenübergestanden habe (14). Zu Flitners Netzwerk gehörten überzeugte Demokraten, Liberale und Sozialdemokraten wie der Sozialökonom und religiöse Sozialist Eduard Heimann, der Philosoph Ernst Cassirer, der Kunsthistoriker Erwin Panofsky, der Osteuropahistoriker Richard Salomon und zahlreiche weitere Kollegen, die nach 1933 entlassen oder in ihrer Lehre beschnitten wurden und/oder als Juden bzw. Andersdenkende das Land verlassen mussten. Zu Recht wird Flitners republikanische Gesinnung von den Herausgeber:innen mit seiner Rede zum Verfassungstag am 11. August 1930 beglaubigt. Mit der Machtergreifung geriet Flitner aufgrund seiner Ehefrau Elisabeth, die nun als „Halb-Jüdin“ galt und der umgehend an der Hamburger Volkshochschule gekündigt wurde, unter Druck und blieb von Entlassung bedroht. Die Zuordnung Flitners zur Verhaltensform „Verweigerung“ und „innere Opposition“, aus der heraus er in seinen Lehrveranstaltungen und privaten Treffen „Raum für nonkonformes Verhalten“ (64) geschaffen habe, erscheint angemessen. An seinem Oberseminar nahmen Angehörige der Hamburger Weißen Rose wie Margaretha Rothe teil, in Flitners Tagebucheinträgen tritt seine Nähe zur Bekennenden Kirche deutlich hervor, er unterhielt Kontakte zu mit dem Tod bedrohten aktiven Widerständlern wie z. B. Theodor Steltzer, dem späteren ersten Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins, der Verbindungen zum Kreisauer Kreis hatte. Das Ende von Krieg und NS-Regime war für Flitner eine Befreiung: „12 Jahre schmählicher Gefangenschaft durch deutschsprechende Verbrecher beendet“, schreibt er am 3. Mai 1945 in sein Tagebuch (333).

Und doch wirkt die politische Einordnung Flitners teils etwas zu eindeutig. Die Herausgeber:innen berichten zwar immer wieder von Flitners nachträglicher Selbstkritik an der eigenen Rolle im Nationalsozialismus, die seiner Auskunft nach „keine heroische […] Strategie“ gewesen sei (15). Aber die politischen Ambivalenzen von Flitners Denken gegenüber dem Nationalsozialismus bleiben etwas vage. Er selbst hat sie durchaus gesehen, wenn er in einem Brief vom 13. Juli 1933 an Nohl feststellte, dass es „im Grunde […] Ideen [sind], die wir mit ausgebrütet haben, die nun Deutschland ein Gesicht geben, das leider auch sehr fremdartige Züge hat“. [4] Intellektuell beheimatet in Jugendbewegung und Reformpädagogik pflegte Flitner seit den 1920er Jahren Denkformen lebensphilosophischer Kultur- und Aufklärungskritik. Seine Schriften waren geprägt von Bezugnahmen auf die Heroen konservativer Modernitätskritik wie Lagarde und Langbehn, von der Beschwörung irrationalistischen Erlebens sowie von Ganzheitlichkeit, Einheit und organologischer Gemeinschaft in der Tradition konservativer Soziologie. [5] Sein pädagogisches Denken präsentierte sich nicht zuletzt als Heilungsversprechen für die von Flitner in ausgreifendem Rationalismus, Säkularismus und Massengesellschaft identifizierte Krise der Moderne, als Weg zur Wiederherstellung ganzheitlicher Lebensordnungen, die sich Flitner 1933 durchaus auch von „der neuen Volksordnung“ erhoffte, wie er in seinem problematischen Aufsatz „Die deutsche Erziehungslage nach dem 5. März 1933“ [6] darlegte. Die Diskussion über Nähe und Distanz zwischen bestimmten Formen bürgerlichen Denkens und dem Nationalsozialismus ist im Allgemeinen und auch im Hinblick auf Flitner bis heute unabgeschlossen und sie verliert in Zeiten gefährdeter Demokratien nicht an Aktualität.

Allerdings bieten die nun veröffentlichten Tagebuchauszüge eine Möglichkeit, solche Fragen auf erweiterter Quellengrundlage stellen und die veröffentlichten Schriften, Briefe, Erinnerungen Flitners damit weiter differenzieren zu können. Sie ermöglichen zwar keine grundsätzlich neuen Perspektiven auf den Flitner der NS-Zeit oder die Disziplingeschichte zwischen 1933 und 1945, aber konkretisieren doch Flitners alltägliches regimefernes Leben und Wirken und zeigen in aller Klarheit, dass auch von politisch ambivalenten Denkformen und anfänglichen Illusionen bzgl. des Nationalsozialismus aus ein Leben in klarer, moralisch eindeutiger und im unmittelbaren Umfeld wirksam werdender Distanz zu einem unmenschlichen System möglich war. Sie bezeugen die Intensität und existentielle Bedeutsamkeit der Hinwendung Flitners zu Goethe und dem christlich-„abendländischen“ Humanismus im Verlauf des Krieges, sie lassen die tiefe Religiosität des Lutheraners Flitner hervortreten. Verankert in breiten öffentlichen Diskursen nach 1945 ermöglichte christlich-abendländischer Humanismus Flitner wie vielen anderen Angehörigen dieser Generation den Anschluss an den Antitotalitarismus als Kernideologie der frühen bundesdeutschen Demokratie und die (west-europäische) Einigung – auch wenn Humanismus und Personalismus nach 1945 nicht zwingend Konzepte waren, in denen sich ein Abschied von alten kulturkritischen Denkformen artikulierte. „Humanität“ – die Flitner durch Rückbesinnung auf vormodern konzipierte „abendländische“ Lebensformen wie die des asketischen Beters, des christlichen Ritters, des humanistischen Gelehrten und des Werktätigen [7] zu sichern hoffte – blieb bei ihm ein Gegenbegriff zu „dem Pragmatismus, dem Technizismus und dem ökonomischen Materialismus des industriellen Zeitalters“ [8] und muss daher auf heutige Anschlussfähigkeit befragt werden.

Diese kritischen Anfragen ändern nichts an den großen Verdiensten, die sich Flitner beim Wiederaufbau der Hamburger Universität und der Rekonstruktion des westdeutschen Schulsystems erworben hat und die die Herausgeber:innen noch einmal klar benennen: die zentrale Rolle Flitners beim Aufbau der 1948 gegründeten Kirchlichen Hochschule in Hamburg und bei der Ausgestaltung der 1954 ihre Arbeit aufnehmenden evangelisch-theologischen Fakultät der 1919 zunächst ‚theologiefrei‘ gegründeten Universität Hamburg; auch das Engagement Flitners für zentrale Institutionen der Bildung, der Wissenschaften und des bürgerlichen Lebens im Hamburg der frühen Nachkriegszeit (so u.a. die Goethe-Gesellschaft, die Öffentlichen Bücherhallen, die Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften); bildungshistorisch interessant vor allem auch die leider in der Darstellung nur kurz gestreifte und in den 1949 endenden Tagebuchauszügen nicht mehr thematisierte Rolle, die Flitner in der Hamburger und deutschen Bildungspolitik der 1950er Jahre spielte, nicht zuletzt als Vorsitzender des Schulausschusses der Westdeutschen Rektorenkonferenz und in den Reformen der gymnasialen Oberstufe. Dank Flitner war Hamburg ein wichtiger Ort in der frühen bundesrepublikanischen Bildungsgeschichte. „Flitner in Hamburg“ fügt nicht nur der Hamburger Kultur-, Bildungs- und Universitätsgeschichte, sondern auch der Geschichte der Hamburger Erziehungswissenschaft [9] ein interessantes Kapitel hinzu und eröffnet dem kritischen disziplinären Gedächtnis neue quellengestützte Perspektiven.

Julia Kurig (Berlin)

[1] Vgl. zu Protagonist:innen, Positionen und Verlauf des Diskurses Matthes, E. (2011). Geisteswissenschaftliche Pädagogik. Ein Lehrbuch. Oldenbourg Verlag.
[2] Vgl. ebd.
[3] Vgl. insbesondere die Biografie von Hermann, U. (2021). Wilhelm Flitner 1889–1990. Pädagoge und Bildungstheoretiker, Goethe-Forscher und Kulturphilosoph. Eine biographie intellectuelle. Klinkhardt.
[4] Zit. n. Horn, K.-P. (1996). Pädagogische Zeitschriften im Nationalsozialismus. Selbstbehauptung, Anpassung, Funktionalisierung. Mit einem Anhang: Auszüge aus der „Nationalsozialistischen Bibliographie“ und aus dem Briefwechsel von Herausgebern und Verlag der Zeitschrift „Die Erziehung“. Deutscher Studien Verlag, hier S. 422.
[5] Vgl. Rülcker, T. (1997). Die politischen Optionen in der Pädagogik Wilhelm Flitners. Kontinuitäten antimodernen Denkens. Zeitschrift für Pädagogik, 43(3), 421–445. doi.org/10.25656/01:6989
[6] Flitner, W. (1933/1987). Die deutsche Erziehungslage nach dem 5. März 1933. In ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4 (S. 333–341). Ferdinand Schöningh, hier S. 338.
[7] Flitner, W. (1947/2002). Die abendländischen Vorbilder und das Ziel der künftigen Erziehung. In ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8 (S. 454–493). Ferdinand Schöningh, hier S. 473.
[8] Flitner, W. (1965/2002). Auf- und Niedergang des Pädagogischen Humanismus. In ders., Gesammelte Schriften. Bd. 8 (S. 580–593). Ferdinand Schöningh, hier S. 592.
[9] Jüngst gewürdigt von Faulstich-Wieland, H. (2022). Erziehungswissenschaft – eine unterschätzte Disziplin. 100 Jahre Disziplin Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. In R. Nicolaysen, E. Krause & G. B. Zimmermann (Hrsg.), 100 Jahre Universität Hamburg. Studien zur Hamburger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte in vier Bänden (S. 21–87). Wallstein.

Zur Zitierweise der Rezension
Julia Kurig (Berlin): Rezension von: Meike G. Werner/ Rainer Hering: Katakombenzeit. Wilhelm Flitner in Hamburg 1929–1969 Göttingen: Wallstein Verlag 2025 (488 S.; ISBN 978-3-8353-5638-2; 39,00 EUR). In: EWR 24 (2025), Nr. 4 (Veröffentlicht am: 20. November 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/11/katakombenzeit/