Institutionen im Spannungsfeld von Tradition, Reformanspruch und Pragmatismus
Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2024
(163 S.; ISBN 978-3-515-13764-5; 46,00 EUR; eBook ISBN 978-3-515-13778-2; 46,00 EUR)
Angesichts von mehr als 1000 Jahren Geschichte der Universitäten ist „jung” eine Qualifizierung, die nicht sofort eindeutige Assoziationen weckt. Die deutschen Reformuniversitäten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts waren zum Zeitpunkt ihrer Gründung eindeutig ‘jung’ innerhalb eines allmählich versteinernden Systems; die im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts international, von Skandinavien bis Nordamerika, Japan oder China unter dem Forschungsimperativ gegründeten oder reformierten Universitäten in ihrer jeweiligen Kultur ebenfalls. Der hier zu diskutierende Sammelband konzentriert sich auf die Zeit nach 1945. Er nimmt auch den internationalen Kontext in den Blick, sogar – was höchst selten vorkommt – Universitäten im Nachkriegspolen zwischen 1944 und 1950, und zeigt damit die Varianz, die Erneuerungsprozesse im Hochschulsystem der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts annehmen können. Die insgesamt zehn Beträge, ohne weitere Binnengliederung gereiht, setzen ein mit einem knappen Einleitungstext, in dem die Herausgeber ihr Thema – „Junge Hochschulen“ – systematisch in den Blick nehmen und versprechen, es mit den Beiträgen „global, national, regional“ (7) einzuordnen. Im Blick auf die lange Geschichte der europäischen Universität und deren Traditionen formulieren sie als leitende Frage, wie junge Hochschulen mit der Tatsache umgehen, dass sie innerhalb eines etablierten Systems neu eingerichtet werden: Wie reagieren sie auf diese Situation, wie definieren sie sich selbst, wie präsentieren und begründen sie sich und ihre Arbeit? Der Band entstand in Paderborn, wo aus einer Pädagogischen Hochschule und einer Gesamthochschule eine Universität entstand. Der Band dokumentiert die dort anlässlich ihres 50-jährigen Gründungsjahres abgehaltene Tagung und Ringvorlesung.
Die globale Einordnung der Epoche und des Universitätssystems seit 1945 stiftet der renommierte Wiener Universitätshistoriker Mitchell Ash, konzentriert auf die USA und die Sowjetunion und auf die beiden deutschen Staaten. Dabei überrascht es, dass er nicht nur (wie meist) Südamerika und Afrika, sondern auch Ostasien und v.a. China ganz auslässt, wo es doch in den USA schon die These gibt, dass sich das Modell der modernen Universität von Deutschland über die USA nach China verlagert hat. [1] Man könnte auch die Bemerkungen von Ash zur Karriere der Debatte über die Idee der Universität nach 1945 und bis heute um Hinweise auf die Folgen des Kalten Krieges, zumal in Berlin, nach 1945 und erneut nach 1960 ergänzen. Zudem ließen sich seine Verweise auf Karl Jaspers durch die notwendige Unterscheidung zwischen dessen Texten von 1923/1946, wo er die „Idee der Universität“ ganz ohne Rekurs auf Humboldt erläutern kann, und seinem „Ideen“-Buch von 1961, wo er die “Idee“ ganz zentral, nahezu allein mit Humboldts Text von 1809 „Ueber die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin“ erläutert und hier „nichts geringeres als die Proklamation der Grundrechte einer bis heute noch nicht verwirklichten modernen Universität“ sieht. [2] Gleichwie, Ash gibt den Kontext vor und zeigt den großen Rahmen für die Welt, die er für relevant hält.
International werden im Folgenden nur noch Frankreich und Polen berücksichtigt. Für Polen zeichnet Piotr Budzyński sehr erhellend nach, wie sich nach 1944 und bis 1950, bevor das sowjetische Modell die Herrschaft übernahm, die Arbeit an und Diskussion über Neu- und Wiedergründungen entwickelte, eingeschlossen den Umgang mit der alten preußischen Universität in Wroclaw/Breslau. Schon das ist neu; den scharfen Kontrast zum deutschen Universitätsmodell liefern dann vor allem die Beiträge zu Frankreich. Magali Hardouin gibt einen sehr aufschlußreichen Einblick in dessen „Higher Education Institutions”, und das ist für sie das gesamte nationale System von Lehre und Forschung. In seiner Tradition seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert unterscheidet es sich mit den neben oder besser: über den Universitäten angesiedelten Grandes Écoles ebenso von anderen Ländern wie mit dem starken Gewicht der außeruniversiären Forschung, mit dem Centre nationale de la recherche scientifique (CNRS) beginnend und weiterhin expandierend. Universitäten sind gelegentlich kaum mehr als Zertifizierungs- und Prüfungsinstanzen.
Zum Verständnis der beiden folgenden Beiträge über Neugründungen in Frankreich ist dieser Kontext unerlässlich. Olivier Marty, Zeitgenosse und Beobachter zugleich, gibt für Paris 8, die Neugründung in Vincennes / St. Denis im Jahr 1969, ein Bild der Folgen von ‘1968’ im französischen Universitätssystem bis 2022. Auch unter Berufung auf die Tradition seit Condorcet und 1789, wonach neues Wissen und neue Fragen auch neue Institutionen verlangen, seien hier v.a. Gesellschaftskritik und Digitalisierung als Referenzprobleme bearbeitbar gemacht worden. Émilia Robin berichtet über Paris 11 (Université Paris-Sud) und die Gründung in Orsay, die aus ganz anderen Motiven seit den 1950er Jahren den Erweiterungsbedarf an Gebäuden und Labors für Lehre und Forschung der bereits bestehenden Einrichtungen sichern sollte. Es handelt sich dabei um eine Erfolgsgeschichte, wie der sich selbst als „Garden of Science” bezichnende Komplex in Orsay am Rande von Paris nahelegt.
Die übrigen Beiträge gelten deutschen Themen. Andreas Röss widmet sich – etwas außerhalb des Themas „junger Hochschulen” – der „Situation der Geisteswissenschaften im forcierten Hochschulwettbewerb”, orientiert zum Glück nicht an der gängigen Schelte des ‘Neoliberalismus’, sondern an den Deutungen ihrer Funktion, mit denen die Geisteswissenschaften selbst die veränderte Lage bearbeitet haben. Aber die innere Hierarchisierung des gesamten Universitätssystems, wie sie sich infolge des Exzellenzprogramms (erneut) entwickelt, bleibt außen vor, und leider wird auch die disziplinäre Heterogenität der Geisteswissenschaften nicht berücksichtigt. Sie umfasst ja so differente Diziplinen wie die Massenfächer Geschichte oder Germanistik ebenso wie die universitären Orchideenfächer von den asiatischen und anderen seltenen Philologien über die Archäologie bis zu den Kunstwissenschaften – „Wettbewerb” wird da zwischen Wachstum und basaler Existenzbehauptung jeweils ganz anders zum Problem.
Als Exempel der „jungen Hochschulen” werden schließlich nicht die zahlreichen Neugründungen in der BRD nach 1960, sondern zum einen „Die ostdeutschen Hochschulen im Übergang” und die Gesamthochschulen in Nordrhein-Westfalen nach 1970 behandelt, im Überblick und für Paderborn. Zuerst kommt Peer Pasternack, Hochschulforscher aus Halle-Wittenberg, selbst DDR-sozialisiert und sicherlich der beste Autor für das Übergangs-Thema. Er gibt einen Überblick über Neugründungen, etwa an Fachhochschulen, Umwidmungen z.B. von Pädagogischen Hochschulen in Universitäten, wie in Potsdam, und Umgründungen, u.a. von Technischen Universitäten, z.B. in Cottbus. Pasternack weiß – im Gegensatz zu den Herausgebern (11) – auch, dass die größte Zahl von Neugründungen in der deutschen Universitätsgeschichte nicht nach 1990 in der ehemaligen DDR, sondern nach 1960 in der alten BRD zu suchen ist. Davon kommen hier allein die Gesamthochschulen, Teil dieses Expansionsprozesses, in zwei Beiträgen zur Geltung, bei Eva-Maria Seng für die „Architektur der Bildungsoffensive”, bei Rainer Pöppinghege, abschließend, für Paderborn. Seng versucht in ihrem architekturtheoretischen und -historischen Beitrag nach einer knappen Skizze der kontroversen Debatte über Gesamthochschulen in NRW ingesamt deren Neubauten vom Vorwurf der „Fließbandhochschulen” (103) zu befreien. Dabei erkennt man aber vor allem die Differenz der Perspektiven zwischen einer an Architektur interessierten, der „seriellen Architektur” (128) wohlgesonnenen Beobachterin und z.B. den Leiden der Studierenden in den neuen Bauten, mit Hörsälen und Seminarräumen ohne Fenster, meist fernab der Städte und auf der grünen Wiese, so etwa die Universität Bochum, doch eher Orte ohne Faszination und Inspiration. Pöppingheges Rückblick auf die Paderborner Geschichte steht unter der Frage „Reformprojekt oder Reformruine?”. Der Autor gibt keine eindeutige Antwort, ignoriert dabei für Paderborn (und die Gesamthochschulen (GHS) insgesamt) nicht die große Diskrepanz zwischen (sozialdemokratischen) Programmen und der Realität, verweist aber zur Ehrenrettung der GHS auch auf Beliebtheitsindices, Drittmittelerfolge und neue Muster der sozialen Rekrutierung der Studierenden. Das mag trösten. Orientiert man sich am Untertitel des Bandes, der die Gründungen „im Spannungsfeld von Tradition, Reformanspruch und Pragmatismus“ verortet, dann bleibt der Reformanspruch offenbar doch auf der Strecke; die Tradition ist Maßstab geblieben, auch im Pragmatismus des Alltags, wenn es etwa Streit mit Kanzlern gab, die, wie in Paderborn, die Logik der Verwaltung gegen die Autonomie der Hochschule durchzusetzen suchten.
Das erinnert an die nicht thematisierten Fragen zum Thema, die Sammelbände ja immer hinterlassen. Neben den „jungen Hochschulen“ hat es international – von Paris bis Dänemark oder Kalifornien – ja auch ‚Gegen-Universitäten‘ gegeben sowie, erinnert man sich an andere Attribuierungen, auch ‚kritische‘ Universitäten, und zwar nicht nur in Berlin. Nichts kommt hier, abgesehen von der Université Vincennes / St. Denis (Paris 8), deren Gründung sich solchen kritischen Impulsen verdankt. Aber man hätte hier, in historischer Perspektive, auch lernen können, wie die alten Universitäten und vor allem ihre Disziplinen fähig waren, solche zunächst höchst irritierenden Impulse in ihre alltägliche Arbeit in Lehre und Forschung zu übersetzen, um jung zu bleiben, auch als Ort von Lehre und Studium, Forschung und Beratung für immer neue Generationen.
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin)
[1] Vgl. Kirby, W. C. (2022). Empires of Ideas: Creating the Modern University from Germany to America to China. Harvard University Press. Vgl. dazu meine Rezension in EWR (2022), 21(4).
[2] Die frühe Version ist Jaspers, K. (1923). Die Idee der Universität. Julius Springer.; das Zitat und die Humboldt-Paraphrase finden sich in Jaspers, K., & Rossmann, K. (1961). Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen. (S. 174-176). Springer.