Bernhard Hemetsberger/ Andreas Oberdorf (Hrsg.)

Go West!

Conceptual Explorations of „the West“ in the History of Education
Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2025
(227 S.; ISBN 978-3-11-140813-2; 74,95 EUR/ Open Access)

Nicht erst seit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine ist der „Westen“ [1] ein umkämpfter Begriff der politischen Sprache. Bereits seit der Ära des Imperialismus und des Kalten Krieges wird um die Bedeutung dieses Terminus gerungen. Während die einen mit dem Westen die Werte von Demokratie und Menschenrechten verbinden, assoziieren andere mit dem Konzept Imperialismus und Kolonialismus durch Westeuropa und Nordamerika. Dieser Konflikt bildet den Ausgangspunkt des von Bernhard Hemetsberger und Andreas Oberdorf herausgegebenen Sammelbandes, der untersucht, wie sich die Auseinandersetzungen um das Konzept des Westens in Erziehung und Bildung eingeschrieben haben. Während die Geschichte des Begriffs des Westens in der Allgemeinen Geschichte bereits häufig thematisiert wurde, leisten die beiden Herausgeber mit ihrem Band für die Historische Erziehungswissenschaft Pionierarbeit [2]. Sie fragen danach, wer als Teil des Westens gesehen wurde, wie der Westen lokalisiert wurde, welche Vermittlerinnen und Vermittler [3] die Aneignung westlicher Ideen prägten und wie sich die Bedeutung des Konzepts historisch wandelte (1). Deswegen regen die Herausgeber in Anlehnung an Reinhart Koselleck an, dafür auch die Gegenbegriffe zu untersuchen, durch die die historische Semantik des Westens überhaupt erst ihren Sinn erhielt. Damit zielen sie darauf, die historische Reflexion über das Konzept des Westens zu fördern, stellt doch dieser Begriff ein bis in die Gegenwart wichtiges, wenngleich zunehmend umstrittenes Leitmotiv von Erziehung und Bildung dar. Dafür publizieren die Herausgeber elf Vorträge, die zuerst im Wintersemester 2022/23 im Rahmen einer Ringvorlesung an der Universität Münster gehalten wurden.

Der Band besticht dadurch, dass er verdeutlich, wie viele unterschiedliche Akteure an der Aushandlung des Westens beteiligt waren. Denn der Band wirft einen weiten Blick auf die Geschichte von Erziehung und Bildung und nimmt eine große Zahl unterschiedlicher Protagonisten in den Blick. Die Aufsätze analysieren mehr als nur die großen Namen aus Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft. Ebenso untersuchen sie wenig bekannte Schulgründer der Leysin American School (Karen Lillie), im Hintergrund wirkende japanische Übersetzer und Forschungsreisende (Frank Jacob), an Erziehung und Bildung interessierte sowjetische Militärs (Bernhard Hemetsberger und Viktoria Boretska) und sogar in den Kulturtransfer involvierte Geheimagenten (Sergei I. Zhuk). Positiv fällt auf, dass die Beiträge nicht nur die Debatten über den Westen in Europa und den USA, sondern auch in Mittelosteuropa (Roberto Kulpa), Osteuropa (Zhuk und Boretska) und in Asien (Jacob) untersuchen. Auf diese Weise zeigen die Aufsätze zusammengenommen, welche heterogene Gruppe von Akteuren an Wissensbeständen aus Nordamerika und Westeuropa zu unterschiedlichen Zeitpunkten interessiert und an den Debatten über die Bedeutung des Begriffs des Westens beteiligt war.

Ebenso fällt positiv auf, dass der Sammelband die verschiedenen Ausformulierungen westlicher Bildungs-, Erziehungs- und Schulkonzepte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich macht. Mehrere Aufsätze analysieren, wie unterschiedlich Intellektuelle und Wissenschaftler die Bedeutung des Westens konzeptionalisierten. Silke Mende zeigt, wie französische Gelehrte des 19. und 20. Jahrhunderts Vorstellungen des Westens, der Zivilisation und der Moderne mit der Französischsprachigkeit verknüpften und damit ihre kulturelle Hegemonie und ihr imperiales Projekt zu legitimieren versuchten. Demgegenüber verdeutlicht Riccardo Bavaj, wie mit Richard Löwenthal und Heinrich August Winkler zwei einflussreiche Geschichtsprofessoren nach 1945 und 1989/90 durch ihre Schriften über den Westen die politische Identität der (west-)deutschen Öffentlichkeit festigen wollten. In mehreren Beiträgen geht es zudem um die Adaption westlicher Konzepte. Beispielsweise untersucht Jacob, wie japanische Bildungsexperten durch ihre Studienreisen in die USA und Europa eine Debatte über die Übernahme westlicher Bildungsideen und Schulformen im Japan der Mitte des 19. Jahrhunderts anstießen. Andere Beiträge beleuchten, inwieweit Bildungsmedien Vorstellungen des Westens hervorbrachten. So zeigt Till Gerd Hellmanzik, dass deutsche Schulbücher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Europa als einen eigenen kulturellen Raum bestimmten, indem sie ihn vom ottomanischen Reich abzugrenzen versuchten. Besonders stark sind die Beiträge, die sowohl Bildungstransfers als auch die Debatten über die Übernahme aus dem Ausland kommender Wissensbestände in den Blick nehmen. So untersucht Boretska in einem theoretisch versierten und empirisch dicht belegten Aufsatz nicht nur, wie das Militär und die Erziehungswissenschaft der Sowjetunion behavioristische Bildungskonzepte aus den USA in den 1950er- und 1960er-Jahre adaptierten. Gleichzeitig zeigt sie, dass die Aneignung dieser Ideen vom „Klassenfeind“ nur dadurch möglich wurde, dass die sowjetischen Experten die pädagogischen Ideen von ihrem US-amerikanischen Ursprung diskursiv zu entkleiden versuchten.

Problematisch ist demgegenüber, dass einige Aufsätze, so interessant sie im Einzelnen auch sein mögen, nicht konsequent die Forschungsfragen des Sammelbandes aufgreifen. Zum einen gehen Zhuks Beitrag über die kulturellen Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion, May Jehles Untersuchung über die Medialisierung des Westens in zwei Dokumentarfilmen aus der Zeit der deutschen Vereinigung und Kulpas Plädoyer für einen nicht-westlich geprägten Blick auf Geschlechterkonstruktionen in Ostmitteleuropa nicht direkt auf Erziehung und Bildung ein. Zum anderen analysieren Lillie in ihrer Untersuchung des Wandels der internationalen Schülerschaft einer schweizerischen Privatschule und Philipp Stelzel in seinem Aufsatz über die deutsch-amerikanischen Verflechtungen in der Geschichtswissenschaft nicht die Aneignungen oder Thematisierungen des Westens.

Auch fällt auf, dass sich viele Aufsätze nur wenig auf die historische Semantik des Westens einlassen. Viele Aufsätze nutzen den „Westen“ lediglich, um die Herkunft bestimmter Ideen zu beschreiben, aber untersuchen nicht die historische Sprache oder gar die Gegenbegriffe des Westens. Mit Ausnahme des Beitrags von Mende (und in gewisser Weise auch von Bavaj und Hellmanzik) wird nicht gefragt, wie sich die verschiedenen Begriffe des Westens, des Abendlandes, der Zivilisation und der Modernität zueinander verhielten, wie sie mit unterschiedlichen Vorstellungen von Europa und den USA verbunden waren und wie sie durch Gegenkonzepte (zum Beispiel des Orients) ihren Sinn erhielten. Dazu hätte auch gehört, nicht nur die Gemeinsamkeiten in den Debatten über den Westen, sondern gerade die Unterschiede zwischen verschiedenen nationalen Debatten über den Westen deutlicher zu machen. So kann man beispielsweise Hemetsberger zustimmen, wenn er in seinem Beitrag am Beispiel von deutschen und US-amerikanischen Debatten die Genese einer spezifisch westlichen Bildungsvorstellung beschreibt, die wahrgenommene Krisenphänomene pädagogisierte. Doch wäre es interessant gewesen, hier noch mehr über die Unterschiede zwischen US-amerikanischen und deutschen Debatten zu erfahren. Nicht nur unterschieden (und unterscheiden) sich die Schulsysteme auf beiden Seiten des Atlantiks. Auch war der vom Autor erwähnte und nach 1945 vor allem im westdeutschen Katholizismus debattierte Begriff des Abendlandes nicht deckungsgleich mit dem von den USA zeitgleich favorisierten Konzept der „Western Civilisation“ (42f.).

Trotz dieser Monita eröffnet der Band interessante Einblicke in die Geschichte der Aushandlung des Westens in Erziehung und Bildung der Moderne. Zukünftige Arbeiten könnten an ihn anschließen, wenn sie fragen, welche Rolle Erziehungsdebatten und Bildungsinstitutionen dabei spielten, Konzepte des Westens zu prägen. Wer sich für solche Fragen interessiert, ist gut beraten, einen Blick in den Sammelband von Hemetsberger und Oberdorf zu werfen.

Phillip Wagner (Halle-Wittenberg)

[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die Anführungsstriche verzichtet.

[2] Vgl. z. B. Bavaj, R., & Steber, M. (Hrsg.). (2015). Germany and ‘The West‘: The History of a Modern Concept. Berghahn.

[3] Weil im Sammelband in überwiegender Anzahl männliche Akteure thematisiert werden, wird auf ein Gendern verzichtet.

Zur Zitierweise der Rezension
Phillip Wagner (Halle-Wittenberg): Rezension von: Bernhard Hemetsberger/ Andreas Oberdorf (Hrsg.): Go West!. Conceptual Explorations of „the West“ in the History of Education Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2025 (227 S.; ISBN 978-3-11-140813-2; 74,95 EUR/ Open Access). In: EWR 24 (2025), Nr. 4 (Veröffentlicht am: 20. November 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/11/go-west/