Theoretische und empirische Perspektiven auf das Wohlbefinden von Lehrkräften
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2024
(374 S; ISBN 978-3-7815-2639-6; 48,00 EUR)
In ihrer Publikation ‚Glück im Lehrerberuf: Theoretische und empirische Perspektiven auf das Wohlbefinden von Lehrkräften‘ widmet sich Kathi V. Thönes auf fundierte theoretisch-konzeptionelle und empirisch-methodische Weise einem bislang in der Forschung vernachlässigten Thema: dem Wohlbefinden von Lehrpersonen. Die Autorin betont, dass sowohl im gesamtgesellschaftlichen als auch im erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Diskurs der Fokus lange Zeit auf einer Negativperspektive zum Lehrer:innenberuf lag, welcher u.a. das Belastungserleben und den frühen Berufsausstieg dieser Berufsgruppe betont. Sie nimmt bewusst, ohne die Bedeutung von Untersuchungen aus ebengenannter Perspektive zu schmälern, eine diametrale Sichtweise ein: Im Rahmen des Projekts ‚Glück im Lehrer:innenberuf (GiL)‘ analysiert sie aus einer ressourcenorientierten Perspektive die theoretische Konzeptionalisierung und Operationalisierung des Konstrukts ‚Wohlbefinden‘ sowohl allgemein als auch im Hinblick auf den Lehrer:innenberuf und arbeitet empirisch dessen Manifestation und Bedingungsfaktoren heraus.
Das Werk, welches die Dissertation von Thönes darstellt, ist die erste Publikation aus dem GiL-Projekt. Dieses Projekt wurde binational – in Deutschland und Österreich – realisiert. 1.441 Lehrpersonen wurden zu ihrem allgemeinen Wohlbefinden befragt. Methodisch verfolgt die Autorin einen innovativen Ansatz: Es wurde eine längsschnittliche Tagebuchstudie durchgeführt, die quantitative Tagebucheinträge mit experience-sampling Erhebungen und dem Konzept der Time-Use (dieses untersucht, wie bzw. womit Menschen ihre Zeit verbringen; d.h. bspw. mit welchen Tätigkeiten, in welchem Umfeld, dabei empfundener Stress oder erlebte Zufriedenheit, etc.) verbindet. Die Monographie erschien 2024 im Verlag Julius Klinkhardt. Das Werk ist in fünf Hauptkapitel gegliedert. Ein umfangreicher Anhang dokumentiert transparent unter anderem die verwendeten Messinstrumente.
Nach der Einleitung (Kapitel 1), welche das Forschungsdesiderat und -vorhaben präzise und überzeugend begründet, folgt der inhaltlich umfangreichste Teil des Werks, welcher unter anderem die Punkte der Definition, Konzeptionalisierung, Modellierung und Operationalisierung des Wohlbefindens diskutiert (Kapitel 2). In diesem Kapitel geht die Autorin zunächst der Frage nach, wie Wohlbefinden aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive (sozioökonomische bzw. politische und gesundheitsökonomische Konzepte und Richtlinien, positive Psychologie) und folgend aus einer konkret schulbezogenen Perspektive (professionstheoretische Ansätze; schulische Gesundheitsfürsorge) gefasst wird. Nach den umfassenden Teilkapiteln, vor allem jenen zum gesamtgesellschaftlichen Bereich (Wirtschaft, Gesundheitswissenschaften), folgen kompakte Zusammenfassungen, welche den Lesefluss sehr gut unterstützen. Danach präsentiert die Autorin ein einwandfrei durchgeführtes, systematisches Review und arbeitet darin den Forschungsstand zum Wohlbefinden bei Lehrpersonen (ausgewählt wurden empirische Werke zwischen 2000 und 2016) auf.
Am Ende des zweiten Kapitels und nach einem Vergleich mit dem kürzlich erschienenen und thematisch einschlägigen Review von Hascher und Waber stellt die Autorin fest, dass kein einheitliches Verständnis von Wohlbefinden in den unterschiedlichen Feldern und Disziplinen vorliegt [1]. Somit leitet sie nachvollziehbar eine eigene Modellierung des Konstrukts, genannt teacher subjective wellbeing (TSWB), und drei Forschungsfragen ab. Die Forschungsfragen untersuchen, wie TSWB ausgeprägt ist (FF1), welche personen-, tätigkeits- und schul- bzw. kontextbezogenen Variablen das TSWB beeinflussen (FF2) und welchen inkrementellen Einfluss die Zeitnutzung der Lehrpersonen (Time-Use) auf die state-Komponenten des TSWB ausübt (FF3).
In Kapitel 3 wird die Methodik der Studie transparent beschrieben. Die Autorin führte im November 2016 eine binationale Erhebung unter 1.441 Lehrpersonen unterschiedlichen Schultyps mittels Handy-App durch. Das Studiendesign umfasste eine Baseline-Messung, sieben halbstandardisierte Tagebucheinträge (einer pro Tag), 28 experience-sampling Einträge (vier pro Tag) und einen Postfragebogen, wobei anzumerken ist, dass eine Mindestanzahl an Einträgen der einzelnen Messungen erzielt werden musste, um in die hiesige Auswertung miteinbezogen zu werden (bspw. mind. zwei Tagebucheinträge, mind. sechs experience-sampling Einträge). Erwartungsgemäß nahmen u.a. aufgrund des zeitintensiven Studiendesigns nicht alle Lehrpersonen an allen Erhebungen teil. Die Autorin entschied sich in ihrer experience-sampling Erhebung, den Teilnehmer:innen nach Eingang des Signals 90 Minuten Zeit zu geben, um den Kurzfragebogen zu beantworten. Dies hat den Vorteil, weniger intrusiv in die Unterrichts- bzw. Freizeit einzugreifen; gleichzeitig steigt aber auch die Retrospektivität der Einschätzung. Für die vorliegende Publikation wurden deskriptive Statistiken sowie Häufigkeitsverteilungen berechnet (FF1) und multiple, hierarchische Regressionsanalysen je Wohlbefindenskomponente (Positiver Affekt, Negativer Affekt, Lebenszufriedenheit, situatives affektives Wohlbefinden, tägliches affektives Wohlbefinden) durchgeführt (FF2 und FF3).
Die Ergebnisse der Analysen werden nachvollziehbar in Kapitel 4 präsentiert. Es zeigt sich ein im Vergleich mit Referenzstudien hohes Wohlbefinden der Teilnehmer:innen. Folgende Promotoren stehen im Zusammenhang mit einzelnen Wohlbefindensfacetten: Autonomieerleben, Extraversion, Bedeutsamkeit der Arbeit, Befristung und Anteil der mit Freund:innen verbrachten Zeit. Private soziale Unterstützung und Allgemeine Selbstwirksamkeit wirken sowohl als Promotoren als auch als Protektoren. Der Anteil der mit beruflichen Tätigkeiten oder alleine verbrachten Zeit und das Alter wurden von der Autorin als Risikofaktoren für einzelne Facetten des TSWB identifiziert.
In der Diskussion (Kapitel 5) bietet die Autorin einige Hinweise an, wie die eigenen Ergebnisse in den Gesamtdiskurs eingeordnet werden können. Im Hinblick auf die Zeitnutzung der Lehrer:innen konstatiert sie, dass „nicht nur der Frage danach, was getan wird (d.h. ob einer beruflichen Tätigkeit nachgegangen wird oder nicht) an sich Bedeutung zukommt, sondern auch die Frage, wie (d.h. in welchem sozialen Setting) die Zeit verbracht wird berücksichtigt werden muss“ (268). Eine weiterführende Überlegung könnte sein, den Fokus hierbei auch auf die konkrete bereichsspezifische Tätigkeit zu legen: So wurde u.a. erhoben, mit welchen beruflichen Tätigkeiten die Studienteilnehmer:innen ihre Tage füllten. Es ließe sich vermuten, dass sich hier Unterschiede im Zusammenhang mit dem Wohlbefinden je nach konkreter beruflicher Aktivität (bspw. Unterrichten, Prüfungen und Zeugnisse) ergeben könnten. Die täglichen Angaben zur Art der (beruflichen) Tätigkeit könnten auch vom jeweiligen Studienerhebungszeitraum abhängen und wären hierbei zu berücksichtigen.
Diese Publikation richtet sich an eine vielfältige Zielgruppe: an (Bildungs-)Forscher:innen, Lehrer:innenbildner, Lehrpersonen, Schulleitungen und Bildungsministerien. Aufgrund der umfassenden Darstellung zu gesamtgesellschaftlichen Diskursen bietet Kapitel 2 auch eine informative Anlaufstelle für Akteur:innen aus dem Gesundheits- und Wirtschaftswesen, die Interesse am Konzept des Wohlbefindens – unabhängig vom Schul- und Bildungsbereich – haben.
Wie die Autorin selbstkritisch anmerkt, fokussiert diese Publikation vorwiegend auf die theoretische Herleitung des Konstrukts Wohlbefinden – was ihr hervorragend gelingt – und stellt erste, regressionsanalytische Befunde vor, die sich auf die Ursachen des Wohlbefindens konzentrieren. Nachdem dieses Werk die Erstpublikation des umfangreichen GiL-Projekts darstellt, dürfen Interessierte auf weitere Analysen (bspw. im Hinblick auf Mehrebenenanalysen) und Ergebnisse (bspw. mit Fokus auf mögliche Effekte des Wohlbefindens und Ländervergleiche) gespannt sein.
Franziska Mühlbacher (Salzburg)
[1] Hascher, T., & Waber, J. (2021). Teacher well-being: A systematic review of the research literature from the year 2000-2019. Educational Research Review, 34, 100411. doi.org/10.1016/j.edurev.2021.100411