Wolfgang Sünkel

Erziehungsprozess und Erziehungsfeld

Allgemeine Theorie der Erziehung
Band 2. Herausgegeben von Johanna Hopfner
Weinheim: Beltz Juventa 2025
(139 S; ISBN 978-3-7799-8653-9; 18,00 EUR)

Theoretische Grundlagenforschung generiert und reflektiert Erkenntnisse über zentrale Sachverhalte des Gegenstandsbereichs innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin. So zielt etwa die Theoretische Physik – anders als die Experimentelle Physik – nicht auf Hypothesenprüfung ab und fokussiert auch nicht auf die Entwicklung und Optimierung menschlicher Lebenszusammenhänge, etwa im Brückenbau, bei der Herstellung von Quantencomputern oder bei der Platzierung von Satelliten im Weltall, wie es in den verschiedenen Bereichen der Angewandten Physik bis hinein in die Ingenieurwissenschaften der Fall ist. Sie fragt nach den grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Natur und entwickelt ‚große‘ Theorien. Wolfgang Sünkel (1934-2011) hielt an einer solchen Idee der systematischen Arbeitsteilung von akademischen Disziplinen auch für die Erziehungswissenschaft fest und grenzte die auf Erkenntnis über allgemeine Tatsachen abstellende ‚Theoretische Pädagogik‘ ab: einerseits von der ‚Empirischen Pädagogik‘, die Einzeltatsachen mit jeweils geeignetem methodischem Repertoire erforscht, und andererseits von der ‚Pragmatischen Pädagogik‘, die auf die Verbesserung der Erziehungspraxis ausgerichtet ist [1]. Theoretische Pädagogik diene demnach ausschließlich der Verbesserung grundlegender Erkenntnis über pädagogische Sachverhalte und suche dabei nach einem logisch ausdifferenzierten System von (Grund-)Begriffen, die „als Tatbestände zu identifizieren und zu begreifen [sind], jenseits und vor aller Normativität, wie sie die pädagogischen Debatten bestimmt und verzerrt“ [2].

Kurz vor seinem Tod im Jahr 2011 veröffentlichte Wolfgang Sünkel den ersten Band seiner Allgemeinen Theorie der Erziehung unter dem Titel „Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis“ [3] – ein konzises Werk, in dem er im Sinne „einer strengen Theoriebildung […] Grundstrukturen pädagogischer Sachverhalte“ [2] suchte. Es ist kaum möglich, den nun posthum von Johanna Hopfner herausgegeben zweiten Band dieser Großtheorie ohne eine ausführliche Rezension des ersten Bandes angemessen zu besprechen. Daher sei an dieser Stelle zumindest auf Ulrich Papenkorts Besprechung von Band 1 verwiesen [4], der aus Platzgründen hier lediglich streiflichtartig zusammengefasst werden kann: Sünkel grenzt seinen grundlagentheoretischen Zugang deutlich ab von einer einseitigen Zentrierung auf pädagogisch handelnde Subjekte (wie sie der Großteil der bis zur Jahrtausendwende vorgelegten Erziehungstheorien in sich trägt) und von einer ebenso einseitigen Zentrierung auf sich ‚Welt‘ aneignende Subjekte (wie sie besonders für Bildungs-, aber i.d.R. auch für Lerntheorien kennzeichnend ist). Stattdessen entwarf er eine bisubjektive Theorie der Erziehung, die zudem nicht auf die Eigenschaften von Personen fixiert ist, wie es v.a. in der so genannten Geisteswissenschaftlichen Pädagogik zu beobachten war (z.B. Nohls ‚pädagogischer Bezug‘), sondern vielmehr auf die Strukturen der Tätigkeiten von Subjekten fokussiert. In Erziehungssituationen finden sich demnach im Allgemeinen immer zwei Teiltätigkeiten, die das pädagogische Geschehen als Ganzes konstituieren: die Aneignung, die auf den Objektbereich eines historisch wandelbaren ‚kulturellen Erbes‘ gerichtet ist (Sünkel nennt dies nicht-genetische Tätigkeitsdispositionen), und die Vermittlung, die unterstützend oder auch gegenwirkend auf die Aneignung gerichtet ist. Erziehung ist nach dieser Bestimmung die „vermittelte Aneignung nicht-genetischer Tätigkeitsdispositionen“ [3]. Diese Dispositionen umfassen die Kategorientrias von Kenntnissen, Fertigkeiten und Motiven bzw. Einstellungen. Die „Fundamentalstruktur“ einer Erziehungssituation besteht, so Sünkel, aus drei Elementen: einem vermittelnden Subjekt („Erzieher“), einem aneignenden Subjekt („Zögling“) und den bereits genannten nicht-genetischen Tätigkeitsdispositionen. An dieser Stelle wird bereits erkennbar, auf welche klassisch-pädagogischen Fixpunkte Sünkel seine Theorie stützt: Schleiermachers in den 1826er-Vorlesungen präsentierte Tätigkeitstheorie kommt dabei ebenso zum Tragen wie Jean-Jacques Rousseaus literarisches Erziehungsexperiment Émile. Hinzu kommen die pädagogischen Einsichten von Johann Gottlieb Fichte, Johann Friedrich Herbart, Aloys Fischer, Anton Makarenko und Rudolf Lochner und insbesondere ihre Beiträge zur grundlagentheoretischen Erforschung der Pädagogik. Auffällig ist an Sünkels Umgang mit diesen für die Erziehungswissenschaft in gewisser Weise ‚einheimischen‘ Klassikern allerdings, dass er ihre Ideen alles andere als dogmatisch verarbeitet: Er rezipiert die pädagogische Theoriegeschichte eher punktuell, verzichtet nahezu vollständig auf neuere Literaturbezüge und entwickelt seine Theorie dabei in einem gänzlich eigenständigen deskriptiven Zugang – vor allem dort, wo die vorgenannten ‚Klassiker‘ eine streng grundlagentheoretische Auseinandersetzung mit pädagogischen Tatsachen verlassen, auf der Erziehungszielebene normativ-programmatisch werden oder bei binär konzipierten Begriffspaaren keine logischen Gegensatzpaare ausarbeiten.

Ohne diese vorausgehende Skizze lässt sich der nun erschienene zweite Band der Sünkel’schen Theorie kaum angemessen einordnen. Der zweite Band knüpft an das tätigkeitstheoretische Modell von Vermittlung und Aneignung an, das der erste Band entwickelt hat – in Teil I kulturanthropologisch als Erziehungsbegriff begründet, in Teil II als Erziehungssituation ausgeführt –, und behandelt in Teil III den Erziehungsprozess und in Teil IV das Erziehungsfeld.

Zum Erziehungsprozess (Teil III) führt Sünkel aus: Auch wenn Erziehung praktisch gesehen immer Situation und Prozess zugleich ist, so lassen sich auf der Ebene der theoretischen Analyse abstrakt zwei Momente voneinander unterscheiden: erstens der Moment, in dem Vermitteln und Aneignen tätigkeitsstrukturell zusammentreffen und so die Struktur der Erziehungssituation konstituieren, und zweitens der zeitliche Verlauf dieses Geschehens, der beim aneignenden Subjekt zu einer Veränderung der Kenntnisse, Fertigkeiten und Motive führt. Sünkels Verwendung des Prozessbegriffes fokussiert dabei auf das „Vor-, Neben- und Nacheinander unterschiedlich gefüllter Zeitstrecken oder verschieden markierter Zeitpunkte“ (13, i.O. kursiv). Als „Zeitdifferenzen“ (ebd., i.O. kursiv) bzw. „Zeitdifferenzstrukturen“ (25) zeige der Erziehungsprozess in diesem Sinne „Veränderungen im Erziehungsverhältnis“ (ebd., i.O. kursiv) zwischen Geburt und Erwachsenheit an, deren Eintrittszeitpunkt und Verfasstheit kulturell variabel sein kann. Dieser Prozess bezeichne gleichzeitig immer Modifikationen des Zöglings selbst, so Sünkel: „der Erziehungsprozess ist sein Weg, denn er ist vom Anfang bis zum Ende der Erziehungszeit dabei, auch wenn die Umstände wechseln und die Erzieher einander ablösen“ (26). Mit diesen Setzungen entwirft Sünkel eine luzide und klar differenzierte Analyseheuristik, die bislang in der erziehungswissenschaftlichen Theoriediskussion einzigartig ist und sich auf die „Fundamental-Struktur des Erziehungsprozesses“ (39) richtet, also auf die durch vermittelte Einwirkung (mit-)hervorgebrachten Modi (dispositionelle Zustände) und Modifikationen (Veränderungen von Dispositionenzuständen) des Zöglings. Die Analysekategorien werden um drei Zeitmodi erweitert: Prospektivmodi, die – von Erziehern wie Zöglingen – als Vorschau auf künftige Dispositionen von Kenntnissen, Fertigkeiten und Motiven dienen, sowie Realmodi, die den jeweils gegenwärtigen Zustand abbilden. Demgegenüber beziehen sich Retrospektivmodi auf „die vergangene, die real gewesene Strecke der Erziehungszeit“ (46).

Sünkels Perspektive auf das Erziehungsfeld (Teil IV) enthält zwei Besonderheiten: erstens stammt die Darstellung nicht mehr vollständig aus dem unmittelbar für den zweiten Band vorbereiteten Manuskript Sünkels. Johanna Hopfner hat für diesen letzten Teil der Erziehungstheorie vielmehr auf ein von ihm autorisiertes Erlanger Vorlesungsmanuskript aus dem Jahr 1985 zurückgegriffen, das recht knappe Ausführungen zu Sünkels Idee des Erziehungsfeldes enthielt [5], und hat diese um eigene „erinnerte Gedanken“ aus „zwanglosen Gesprächsrunden“ (48) mit Sünkel ergänzt. Zweitens unterscheidet sich Sünkels Systematisierungsansatz vom Großteil bisheriger erziehungswissenschaftlicher Objekttheorien. Zwar erkennt er gesellschaftstheoretische Elemente als hoch relevante Einflüsse im pädagogischen Geschehen an, aber er integriert sie nicht in seinen Erziehungsbegriff oder in seine Analyse der Erziehungssituation, sondern verortet sie auf einer eigenständigen Abstraktionsebene. Auf der Basis der im ersten Band bereits eingeführten historisch-kulturellen Variabilität von Kenntnissen, Fertigkeiten und Einstellungen, die durch Vermittlung angeeignet werden, nutzt Sünkel – ähnlich der Theoretischen Physik – einen Feldbegriff zur Beschreibung und Analyse der „außerpädagogischen Strukturen“ (49). Dies gelingt Sünkel, indem er das Erziehungsfeld bestimmt „als das System der jeweils historisch besonderen sozio-kulturellen Verhältnisse und Bedingungen, in denen Erziehung stattfindet, auf die sie sich bezieht und durch die sie teils determiniert, teils beeinflusst wird“ (ebd.). Als „konkrete[] Gestalten des Erziehungsfeldes“ (51) nennt er ökonomische, politische, gesellschaftliche und rechtliche Dimensionen. Seine Erziehungstheorie nimmt dabei „unter feldtheoretischen Gesichtspunkten eine Zwischenstellung innerhalb der gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen ein, um die historisch gegebenen Bedingungen des Aufwachsens und die Notwendigkeit auszuloten, die für Kinder und Jugendliche bestehen“ (68).

Johanna Hopfner hat dem Band einen Anhang beigefügt, der zum einen bislang unveröffentlichte Vorträge Sünkels enthält, die als „Fragmente der Theorie der Erziehung“ (85) gelesen werden, sowie drei Seminarreferate aus der studentischen Zeit Sünkels in Münster, die als „[w]erdendes Wissen“ (120) gedeutet werden. Diese Texte lassen erkennen, wie und zu welchen Zeitpunkten Sünkel sich biografisch in einer durch klassisch-pädagogische Texte vermittelten Phase der Aneignung befand, die gleichzeitig von einer ständig neuen Hervorbringung erziehungstheoretischen Wissens gekennzeichnet war, so dass man diese Beiträge als Weiterführung und zugleich Neuerfindung einer konsequent deskriptiv angelegten Erziehungstheorie bezeichnen kann.

Dem Rezensenten bleibt aus inhaltlicher Hinsicht lediglich eine, im Gesamtbild unerhebliche, Irritation: Das zeitliche Vor-, Nach- und Nebeneinander von Vermittlung und Aneignung wird in der erziehungsprozesstheoretischen Perspektive in den durchaus möglichen Mikroperspektiven nicht beleuchtet, ja nicht einmal erwähnt. Bestimmte pädagogische Handlungsformen wie etwas das Arrangieren [6] – Sünkel hätte es vermutlich als erzieherseitige Vermittlungsform verstanden – lassen sich aus einer bisubjektiven Perspektive aber auch in ihrer Zeitdifferenz darstellen. So erscheint es beim Konzept der ‚vorbereiteten Umgebung‘, das über die Montessorirezeption als Prototyp des Arrangierens in unsere heutige erziehungswissenschaftliche Diskussion eingespeist wurde [7], geradezu charakteristisch, dass das Vermitteln dem Akt des Aneignens zeitlich voraus geht. Diese Aneignung findet erst später – mitunter gar Jahrzehnte oder Jahrhunderte – nach dem eigentlichen Akt des Vermittelns statt.

Solche zeitlichen Strukturen des bisubjektiven Verhältnisses von Vermittlung und Aneignung können – und sollten – im Anschluss an Sünkels bislang einzigartige Erziehungsprozesstheorie weiterentwickelt werden, um die Besonderheiten zeitlich ausgedehnter und weiterer Erziehungsformen prozesstheoretisch präzise zu fassen. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass Sünkels nun zweibändige Theorie der Erziehung eine angemessene Rezeption in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft und insbesondere im Bereich der Erziehungsphilosophie erfährt.

 

[1] Sünkel, W. (1995). Voraussetzungen theoretischer Grundlagenforschung in der Pädagogik. In H.-W. Leonhard, E. Liebau & M. Winkler (Hrsg.), Pädagogische Erkenntnis. Grundlagen pädagogischer Theoriebildung (S. 197-207). Juventa.

[2] Winkler, M. (2011). Zum Tod von Wolfgang Sünkel. Erziehungswissenschaft, 22(43), 190-192, hier S. 190.

[3] Sünkel, W. (2011). Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis: Allgemeine Theorie der Erziehung, Band 1. Juventa, S. 63.

[4] Papenkort, U. (2011). [Rezension des Buches Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis: Allgemeine Theorie der Erziehung, Band 1 von W. Sünkel]. socialnet Rezensionen. www.socialnet.de/rezensionen/10609.php

[5] Sünkel, W. (1985). Theorie der Erziehung. Abriß der Allgemeinen Pädagogik [Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript, erstellt von E. Birzer & C. Sommer, Universität Erlangen-Nürnberg].

[6] Prange, K., & Strobel-Eisele, G. (2015). Die Formen des pädagogischen Handelns. 2., überarbeitete Auflage. Kohlhammer.

[7] Lindner, W. (2014). Arrangieren. Kohlhammer.

Zur Zitierweise der Rezension
Ulf Sauerbrey (Erfurt): Rezension von: Wolfgang Sünkel: Erziehungsprozess und Erziehungsfeld. Allgemeine Theorie der Erziehung. Band 2. Herausgegeben von Johanna Hopfner Weinheim: Beltz Juventa 2025 (139 S; ISBN 978-3-7799-8653-9; 18,00 EUR). In: EWR 25 (2026), Nr. 4 (Veröffentlicht am: 19. November 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/11/erziehungsprozess-und-erziehungsfeld/