Über die notwendige (Rück-)Besinnung auf das Unterrichten
Weinheim: Beltz 2024
(353 S; ISBN 978-3-407-25907-3; 30,90 EUR)
Der von Ralf Lankau herausgegebene Band ‚Die pädagogische Wende. Über die notwendige (Rück-)Besinnung auf das Unterrichten‘ versammelt praxisorientierte Konzepte für Präsenzunterricht und gemeinschaftliches Lernen sowie grundlagentheoretische Auseinandersetzungen zu Erziehung und Unterricht. Das Herausgeberwerk ist das Ergebnis einer Tagung und einem gleichnamigen Projekt, das Schulen als „Möglichkeitsräume einer mündigkeitsorientierten Erziehung“ (12) etablieren, die Funktionsweise von Gesellschaft und die eigene Lebenswelt verstehen sowie Bildungseinrichtungen als Orte der Gemeinschaftsbildung profilieren will. Der Buchtitel signalisiert einen Paradigmenwechsel, der in 23 Beiträgen von 33 Autor:innen thematisiert wird. Die Beiträge des Bandes eint der Versuch, die Bedeutung einer fundierten pädagogischen Reflexion über das Verhältnis von Bildung, Erziehung und Digitalisierung im Schulalltag hervorzuheben und eine Diskussion darüber anzustoßen, welche Konsequenzen sich aus den kritischen Erkenntnissen des Bandes für Theorie und Praxis ergeben. Aufgeteilt sind diese in drei Themenblöcke. Holzschnittartig wird im Folgenden exemplarisch je ein Beitrag aus jedem Themenblock vorgestellt, um Einblicke in die zu erwartenden Inhalte zu geben.
Der erste Themenblock widmet sich Unterricht als Beziehung und Dialog. Axel Bernd Kunze skizziert eine Pädagogik als Voraussetzung für eine Ethik des Digitalen, welche zur Selbstbestimmung befähigt und einen reflektierten Umgang mit Geltungsansprüchen ermöglicht. Er identifiziert als zentrale Herausforderungen digitaler Kommunikation für Bildungsinstitutionen die Informationsverdichtung, eine geringe Verbindlichkeit, eine Emotionalisierung von Inhalten und das Teilen kollektiver Botschaften sowie eine Reizüberflutung und Banalisierung. Als Lösungsansätze schlägt Kunze drei Impulse zur Diskussion für eine Bildungsethik des Digitalen vor. Ein Impuls besteht in der Tugend der Mäßigung, ein weiterer in der Förderung der Vortragskunst und ein dritter wird in der Wiederentdeckung des Einzelnen gesehen. Dies kann einen Bildungsbegriff stärken, der auf Selbstbestimmung abzielt.
Der zweite Themenblock behandelt Erziehung, Unterricht und Digitalisierung. Stephan Schimmelpfennig analysiert die unbeachteten Konsequenzen der Digitalisierungsoffensiven im Bildungsprozess. Unter Bezugnahme auf Holzkamps Unterscheidung zwischen defensivem und expansivem Lernen argumentiert er, dass die voranschreitende Digitalisierung das defensive Lernen fördert, was zur Vereinzelung führt. Demgegenüber erfordert expansives Lernen unterrichtliche Kommunikation zur Welt- und Selbsterschließung. Schimmelpfennig fordert eine grundlegende Diskussion über den sinnvollen Einsatz digitaler Medien und deren Implikationen.
Der dritte Themenblock fokussiert die Schul- und Unterrichtspraxis. Sieglinde Jornitz und Ben Mayer analysieren die Lernplattform ‚bettermarks‘ für den Mathematikunterricht und zeigen, dass dieses Lernen auf reines Üben reduziert. Lernplattformen sind demnach als Trivialmaschinen konzipiert, die Schüler:innen entsprechend behandeln. Jornitz und Mayer argumentieren, dass dies die Lehrfunktion der Lehrperson zugunsten der Selbstaneignung durch die Lernenden auflöst, wodurch die gesamte Verantwortung für den Bildungsprozess auf die Schüler:innen übertragen wird.
Die Gliederung des Bandes ist stringent, wenngleich sich die damit einhergehende Interdisziplinarität der Beiträge zunächst als fordernd herausstellt. Die bewusst zugelassenen Widersprüche zwischen den Positionen spiegeln ein wissenschaftliches Selbstverständnis wider, das auf die generative Kraft ergebnisoffener Diskurse vertraut (13). Die Synthese der Argumente obliegt den Lesenden. Der Klappentext verrät die anvisierte Zielgruppe des Bandes. Diese besteht aus Lehrkräften und Schulen, welche einen interpersonalen Unterricht fokussieren, ohne dabei auf digitale Medien verzichten zu müssen. Eine erweiterte Zielgruppe stellen Hochschullehrende (insbesondere in der Lehramtsausbildung) dar, für die der Band Impulse für Lehre und Forschung bietet.
Der Band präsentiert sich als kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Entwicklungen im Bildungssystem, die fundamentale pädagogische Reflexionen herausfordern. Anstatt lediglich auf die Bedeutung von Reflexion hinzuweisen, prüft der Band konkrete Widersprüche und Probleme, die sich aus der Dominanz von Kompetenzdenken und bestimmten Formen der Digitalisierung ergeben. Dazu begründet er die Notwendigkeit einer Orientierung an klassischen pädagogischen Idealen sowie einer systematischen Betrachtung der Sache des Unterrichts. Eine spannende Note hätte dem Band hinzugefügt werden können, indem bewusst allgemeindidaktische Überlegungen für Unterricht basierend auf den Erkenntnissen der Sammelbeiträge zur Diskussion gestellt worden wären. Angesichts der im Band vorgebrachten Kritik an einer rein empirisch-technokratischen und kompetenzorientierten Ausrichtung von Bildung und Unterricht scheint die Allgemeine Erziehungswissenschaft, insbesondere die Allgemeine Didaktik, mehr denn je gefordert zu sein, ihre systematische und theoretische Expertise einzubringen, um eine tragfähige Grundlage für die notwendige pädagogische Wende zu liefern. Punktuell zeigen sich im deutschsprachigen Raum dazu vereinzelt Positionen wie bspw. Reichenbach [1], zu welchen auch dieser Grundlagenband zu zählen ist. Im Lichte der im Band diskutierten Komplexität pädagogischen Handelns erweist sich Sünkels Frage „Was ist Unterricht?“ [2] als zentral, da sie das Handlungs- und Erkenntnisproblem dieses Geschehens und damit das Grundproblem der Planbarkeit von Unterricht in den Blick nimmt. Schopf [3] erläutert dies damit, dass nicht jeder Unterricht zu Lernen führt und nicht jedes Lernen durch vorherigen Unterricht zustande kommt. Denn pädagogisch gedacht folgt Lehren und Lernen im Unterricht keiner im Vorfeld modellierbaren Prozesspraxis. Hier stellt sich dann beispielsweise die Frage, inwieweit sich Unterricht digitalisieren lässt. Die Beiträge des Bandes zeigen implizit auf, warum rein technische oder systemorientierte Zugänge diesem Problem nicht gerecht werden können, indem sie die Bedeutung personaler, dialogischer und unplanbarer Dimensionen hervorheben. Aus allgemeinpädagogischer Perspektive stellt sich die Frage nach Raum und Zeit für das Ungewisse und Unerwartete sowie für das inhaltliche Verstehen der Schüler:innen. Pongratz [4] hat bereits 1978 für die kybernetische Pädagogik festgestellt, dass das Lernen darin eine Beschleunigung erfährt. Der Inhalt wird zugunsten der Methode verdrängt. „Wissen wird zur Wegwerf-Ware“ (ebd.). Das Revival einer kybernetischen Pädagogik scheint in Sichtweite zu sein. Obwohl der Band eine überzeugende Kritik an den aktuellen Entwicklungen im Bildungssystem formuliert und die Notwendigkeit einer pädagogischen Wende untermauert, indem er etwa die Defizite datengesteuerter Lernsysteme offenlegt, bleibt die Frage nach der praktischen Umsetzbarkeit der vorgestellten Alternativen unter den gegebenen strukturellen und politischen Bedingungen in einigen Beiträgen weniger stark ausgearbeitet.
[1] Reichenbach, R. (2024). Die Pädagogik der Privilegierten. Kohlhammer.
[2] Sünkel, W. (1996). Phänomenologie des Unterrichts: Grundriß der theoretischen Didaktik (S. 27). Juventa.
[3] Schopf, H. (2018). Unterricht, Bildung, Subjekt. Ein Problemaufriss aus pädagogischer Sicht. Schulheft, 170, 12–22.
[4] Pongratz, L. A. (1978). Zur Kritik kybernetischer Methodologie in der Pädagogik: Ein paradigmatisches Kapitel szientistischer Verkürzung pädagogisch-anthropologischer Reflexion. Peter Lang.