Carmen Flury

Counting on Computers

New Information Technologies and Curricular Change in East Germany, 1960s to 1990
Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2024
(291 S.; ISBN 978-3-11-144763-6; 69,95 EUR/ Open Access)

Die Geschichte der Computerisierung hat sich in den letzten Jahren auch im deutschen Sprachraum als relevantes zeithistorisches Forschungsfeld etabliert, konzentrierte sich bislang jedoch vor allem auf die Bundesrepublik und auf technik-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Perspektiven. Mittlerweile sind erste bildungshistorische Arbeiten im Entstehen, die sich mit der Geschichte der Digitalisierung des Unterrichts und der Schulverwaltung sowie mit computer literacy und der Einführung des Schulfaches Informatik in Westdeutschland befassen [1]. Für die Computerbildung in der DDR liegt mit der an der Pädagogischen Hochschule Zürich entstandenen Dissertation von Carmen Flury nun eine maßgebliche Studie vor.

Die DDR-Computergeschichte verlief zeitlich einigermaßen parallel zur Bundesrepublik, und die SED unternahm große Anstrengungen, mit der rasanten technischen Entwicklung im Westen Schritt zu halten: In den 1960er Jahren hielten große Mainframe-Rechner Einzug in Universitäten und einige Industriebetriebe. 1978 stellte die DDR mit dem U808 den ersten eigenen Mikroprozessor vor, ein Nachbau des westlichen Z80, um die Computerisierung von Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben. Dieses Ziel konnte allerdings nicht allein von oben dekretiert und industriepolitisch gesteuert werden; es erforderte auch die Vorbereitung der Bevölkerung auf diese Zukunft, insbesondere der jungen Generation.

Dabei zeigen die Curriculumreformen von Mitte der 1980er Jahre, die auf die Einführung von Computerbildung in der Breite abzielten, dass dies nicht allein mit der Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten zu erreichen war. Es bedurfte auch eines Fundaments von geteilten Werten, Gesellschafts- und Zukunftsvorstellungen. Flury greift daher auf das Konzept der sociotechnical imaginaries zurück, das 2009 von Sheila Jasanoff und Sang-Hyun Kim eingeführt wurde und den Blick auf den wechselseitigen Zusammenhang von wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung sowie den kollektiven Hoffnungen an eine durch Technologie zu erreichende, erwünschte Zukunft schärft. Auf der Grundlage von Archivmaterialien aus Ministerien, Partei und der Akademie für Pädagogische Wissenschaften sowie weiteren Quellen wie Lehr- und Studienplänen, (erziehungs-)wissenschaftlichen Publikationen, Presseveröffentlichungen und Kinder- und Jugendzeitschriften untersucht die Arbeit, wie sich die mit dem Aufkommen moderner Computertechnologie verbundenen Zukunftsvorstellungen in der DDR herausbildeten und diese die bildungspolitischen Bemühungen von den 1960er Jahren bis ins Einigungsjahr 1990 prägten.

Im ersten Kapitel arbeitet Flury heraus, wie in der DDR ein spezifisch sozialistisches sociotechnical imaginary in Bezug auf den Computer befördert wurde. Demnach könne sich der Computer als per se neutrale Technologie erst in der Hand der Arbeiterklasse, der Regierung, Verwaltung und Industrie des sozialistischen Staates als nützliches Instrument für Wohlstand und sozialen Fortschritt entfalten – und als Bildungsmittel im Sinne der Entwicklung zur sozialistischen Persönlichkeit.

Das Folgekapitel widmet sich den Hochschulen und ihrer Rolle bei der Durchsetzung von Computertechnologie in der DDR. Die ersten, in den 1960er Jahren eingerichteten Rechenzentren wurden zunächst vor allem von den mathematischen und ingenieurswissenschaftlichen Disziplinen genutzt. In den 1970ern institutionalisierte sich „Informationsverarbeitung“ als eigenes Fach. Computer wurden als Schrittmacher der Planwirtschaft imaginiert, die die Industrieproduktion, Agrarwirtschaft und die Verwaltung umkrempeln würden und enorme Effizienzsteigerungen versprachen. In den 1980er Jahren galten die neuen, günstigeren Mikrocomputer als universelles Werkzeug, das den Weg in den Sozialismus der Zukunft weisen würde. Daher wurden anwendungsorientierte Computerkurse eingerichtet, um Studierende der verschiedensten Disziplinen mit den Geräten vertraut zu machen.

Bereits die in der DDR hergestellten Großrechenanlagen wie der 1966 eingeführte Robotron 300 benötigten Fachkräfte für Betrieb und Wartung. Entsprechend beschäftigt sich das dritte Kapitel mit der beruflichen Bildung und dem Wandel der Arbeitswelt. Das Mikrocomputerprogramm brachte in den 1980er Jahren die neuen Geräte auf die Schreibtische der Verwaltungen und der Industrie. Es entstanden neue Berufsbilder, und die Berufsausbildung wurde reformiert. Zur Vorbereitung auf die erwartete zunehmende Durchdringung des Arbeitsalltags mit Computern diente das neue Fach „Grundlagen der Automatisierung“, das in die digitale Informationserfassung, -speicherung und -übertragung einführen sollte.

Katalysator für die Einführung des Computers in den allgemeinbildenden Schulen war, wie Flury im vierten Kapitel darlegt, der 1984 vorgestellte KC 85-Heimcomputer, der aufgrund begrenzter Stückzahlen, statt in den Konsumgütermarkt zu gehen, in erster Linie in den Schulen eingesetzt werden sollte. An den Polytechnischen Oberschulen (POS) hielt ab 1987 in Klasse 9 zunächst der „Grundkurs Informatik“ im Fach ESP (Einführung in die sozialistische Produktion) Einzug. Dieser sollte die Einsatzmöglichkeiten von Computern verdeutlichen und Grundwissen ihrer Nutzung vermitteln. Vertiefungen waren zwei zusätzlichen Wahlfächern an der POS, vor allem aber dem obligatorischen Informatik-Unterricht in der 11. Klasse der Erweiterten Oberschule ab 1989 vorbehalten. Da man nicht wusste, wie genau die computerisierte Zukunft aussah, ging es dort vor allem um das Einüben universeller kognitiver Fähigkeiten wie computergestützter Problemlösung und algorithmischen Denkens. Die schulische Computerbildung bewegte sich an der Schnittstelle von Mathematik und Polytechnik, entsprechend rekrutierten sich die in Informatik-Kurzlehrgängen ausgebildeten Lehrkräfte aus dem Reservoir dieser beiden Fächer. In den Schulen der DDR fand Computerbildung, sofern Ausstattungsdefizite sie nicht vereitelte, primär im Rahmen einer disziplinären Strukturlogik statt; der Computer als auch in anderen Fächern einsetzbares Lehrmittel spielte eine untergeordnete Rolle.

Anders als in der Bundesrepublik mangelte es in der DDR an Heimcomputern im Privatbereich. Damit die Schule nicht die einzige Kontaktmöglichkeit mit den Geräten für Kinder und Jugendliche blieb, setzte die DDR auf non-formale Computerbildung als zweite Säule, dem Thema des fünften Kapitels. So wurden in Schulen und Universitäten sowie in Pionier- und FDJ-Einrichtungen Computerclubs und -AGs gegründet. Diese boten Raum für Vergemeinschaftung und spielerisch-kreative Aneignungen der Technik. Im informellen Rahmen lernten Jugendliche zu programmieren, wobei mitunter sogar Software für die Industrie und zu Bildungszwecken entstand. Technikaffirmative Artikel in Kinder- und Jugendzeitschriften bereiteten derweil das Feld, indem sie Topoi des offiziösen sociotechnical imaginaries popularisierten.

Flury – und dessen ist sich die Autorin bewusst – erzählt in ihrem Buch eine Geschichte von oben. Dies liegt sowohl am programmatisch-präskriptiven Charakter der gewählten Quellen als auch an der Perspektive auf sociotechnical imaginaries, die aufgrund ihres normativen Charakters ein gewisses Maß an politischer und diskursiver Macht voraussetzten. Daher entsteht ein mitunter etwas glattes Bild von den soziotechnischen Zukunftsvorstellungen im SED-geführten Staatssozialismus, deren Erfolg und Wirksamkeit jenseits der Policy-Dimension weitgehend im Unklaren bleibt. Die Berücksichtigung der Perspektiven von Schüler:innen, Lehrkräften und Computerclub-Besucher:innen hätte das Bild indes verkomplizieren können. Immerhin deutet das Buch mehrfach die Potenziale einer Geschichte an, die den Brüchen, Konflikten und Widerständigkeiten größeren Raum gibt: So dienten außerschulische Clubs zwar der staatlichen Aufsicht über die jungen Computerenthusiast:innen, waren aber auch Biotope für experimentelle und subversive Nutzungen, in denen Gegenerzählungen entstanden. Auch eine systematischere Berücksichtigung internationaler Orientierungen und transnationaler Verflechtungen hätte, ohne gleich einen ausgewachsenen Vergleichsansatz zu wählen [2], womöglich weitere willkommene Schattierungen hinzufügen können. Beispielsweise standen, wie Flury andeutet, selbst innerhalb des sozialistischen Wirtschaftsraums Entwicklungen in der Computertechnik und entsprechende Weiterbildungsinitiativen unter einem nationalen Vorbehalt.

Zudem sieht man mit dem gewählten Ansatz der sociotechnical imaginaries manche Facetten des Gegenstandes nur bedingt, weil sie sich nicht im Scheinwerferlicht popularisierter Zukunftsvorstellungen befanden, obwohl sie für einen Teil des Partei- und Herrschaftsapparats von hoher Bedeutung waren. So enthält die Studie keine Hinweise auf die Computerisierung der Arbeit im Ministerium für Staatssicherheit [3]. Der Einsatz von Computertechnik im Rahmen der Kontrolle der Bevölkerung war freilich ebenfalls Gegenstand von internen Fortbildungen für Stasi-Mitarbeiter:innen. Wie kompatibel diese verdecktere Variante soziotechnischer Zukunftsvorstellungen mit dem offiziösen Bild war, bleibt offen.
Carmen Flury arbeitet in ihrer sehr lesenswerten Studie heraus, wie die DDR noch in ihren letzten Jahren mit großen Ambitionen an einer zukunftsgerichteten Computerbildung arbeitete. Dabei leistet sie einen wichtigen Forschungsbeitrag zur Gesellschafts-, Wirtschafts- und Technikgeschichte der späten DDR, der weit über die Historische Bildungsforschung hinausweist. Das Buch belegt eindrücklich, dass eine umfassende historische Kontextualisierung, die soziale, kulturelle, wissenschaftliche, technologische, mediale sowie politische und ideologische Faktoren berücksichtigt, für die Schul- und Bildungsgeschichte im Allgemeinen und die Geschichte bildungspolitischen und curricularen Wandels im Besonderen von fundamentaler Bedeutung ist. Nicht zuletzt sensibilisiert Flurys Studie dafür, dass auch der digitale Wandel der Gegenwart und die laufenden Debatten um Künstliche Intelligenz und Bildungstechnologien in den Schulen dringend einer kritischen, historisch informierten Analyse von sociotechnical imaginaries bedürfen.

Kai Nowak (Halle)

[1] Die Projekte von Malte Thießen (Münster), Sven Schibgilla (Darmstadt) und Tim Schinschick (Braunschweig).
[2] Wie produktiv eine internationale Vergleichsperspektive sein kann, zeigt ein von der Autorin mitherausgegebener Sammelband: Flury, C., & Geiss, M. (Hrsg.). (2023). How Computers Entered the Classroom, 1960–2000. De Gruyter. Rezensiert von Sven Schibgilla in: EWR (2024), 23(4).
[3] Vgl. Booß, C. (2012). Der Sonnenstaat des Erich Mielke. Die Informationsverarbeitung des MfS. Entwicklung und Aufbau. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 60, 441–457; Bergien, R. (2017). »Big Data« als Vision. Computereinführung und Organisationswandel in BKA und Staatssicherheit (1967–1989). Zeithistorische Forschungen, 14(2), 258–285. doi.org/10.14765/zzf.dok.4.969

Zur Zitierweise der Rezension
Kai Nowak (Halle): Rezension von: Carmen Flury: Counting on Computers. New Information Technologies and Curricular Change in East Germany, 1960s to 1990 Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2024 (291 S.; ISBN 978-3-11-144763-6; 69,95 EUR/ Open Access). In: EWR 24 (2025), Nr. 4 (Veröffentlicht am: 20. November 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/11/counting-on-computers/