Eine Einführung
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2025
(132 S.; ISBN: 978-3-7799-8983-7; 20,00 EUR)
Stefan Danner möchte mit seinem kompakten Buch von knapp 120 Seiten Fließtext eine Einführung in Wissenschaftstheorien sowie wissenschaftliche Denkstile aus einer primär sozialwissenschaftlichen Perspektive geben. Die Arbeit soll damit dem (in der Einleitung lediglich behaupteten und nicht belegten) Umstand entgegenwirken, dass wissenschaftstheoretische Einführungen bisher primär aus philosophischer und naturwissenschaftlicher Perspektive geschrieben worden seien [1]. Das Konzept wird dabei gleich in der Einleitung klar dargelegt und schlüssig argumentiert: Danner legt eine „Collage“ (10) vor, in der die Autor:innen aus den verschiedenen Richtungen selbst möglichst viel durch direkte Zitate zu Wort kommen. Danner meint, dass damit erreicht werden soll, dass 1. der sich in der Sprache der Autor:innen ausdrückende Sprachstil nicht verfremdet wird, 2. die Prägnanz und Pointiertheit der ausgewählten Zitate beibehalten wird und 3. verhindert wird, dass Danners „Interpretationen die ursprünglichen Gedanken überwuchern“ (10). Durch die collageartige Auswahl soll eine Herauslösung der Gedanken aus dem ursprünglichen Gesamtwerk erfolgen, wodurch sich neue Bedeutungen ergeben würden. Nach einem ersten, spontanen Blick könnte man diesen Ansatz als willkürlich und eklektisch bezeichnen. Damit wird man aber der Darstellung nicht ganz gerecht. Danner webt nämlich die Perspektiven in ein gedankliches Gerüst ein, das sich auf die wissenschaftsanalytischen Ideen Ludwik Flecks bezieht, die er gleich im ersten Kapitel nach der Einleitung ausführlich darstellt.
Mit den Konzepten von ‚Denkkollektiv‘ und ‚Denkstil‘ arbeitet Danner in Kapitel 2 in Anlehnung an Fleck heraus, dass bestimmte Arten zu denken – und zwar auch in enger Verbindung zur Sprache – soziale Akte sind, die kleine oder größere Gruppen von Menschen nicht nur praktizieren, sondern potenziell auch weitergeben können. Wissenschaftliche Denkstile können bestimmte Strukturen in den Vordergrund rücken, die von in einem bestimmten Denkstil sozialisierten Wissenschafter:innen erkannt und sprachlich vermittelt werden. Der Aufbau dieser Denkstile hat eine gewisse Vorlaufzeit und auch eine „Beharrungstendenz“ (25), wobei Widersprüche oder Konflikte dazu führen können, dass sich neue Denkstile entwickeln. Danner bezeichnet die Fleck’sche Sichtweise als einen ‚Blick zweiter Ordnung‘, also einen „Blick auf die Blickausrichtungen in der Wissenschaftspraxis“ (12), und an eben jener würde sich auch die Struktur seines Buches orientieren. Danner geht es darum, „den Zusammenhang zwischen Wissenschaftstheorien einerseits und sozialwissenschaftlichen Denkstilen andererseits zu beleuchten“ (27). Diese Verbindung zu den theoretischen Gedanken Flecks erscheint einleuchtend und stellt ein Gerüst des Buches dar, das Leser:innen eine gute Orientierung im Werk ermöglichen kann und das Danner im gesamten Verlauf des Buches auch einhält.
In den Kapiteln 3 und 4 legt Danner wissenschaftstheoretische Grundideen von Platon (Kap. 3) und Aristoteles (Kap. 4) primär über Zitate aus der Sekundärliteratur dar und (vorerst) ohne konkrete Bezüge zu sozialwissenschaftlichem Denken.
Von Kapitel 4 auf Kapitel 5 vollzieht er, wie er selbst meint, einen „großen zeitlichen Sprung hin zum 17. Jahrhundert“ (38), den er damit begründet, dass die Philosophie von Platon und Aristoteles lange prägend für wissenschaftliches Denken gewesen sei, was sich erst durch Francis Bacon (Kap. 5) ändern sollte. In diesem Zusammenhang lässt sich diskutieren, inwieweit nicht auch mittelalterliche wissenschaftstheoretische Umbrüche und Neuerungen einer Berücksichtigung wert gewesen wären, nicht zuletzt, weil einige Autor:innen gerade im 12. und 13. Jahrhundert eine „intellektuelle Revolution“ [2] verorten. Der Umstand dieses zeitlichen Sprungs mag jedoch der Kompaktheit des Bandes geschuldet sein. In Kapitel 5 erörtert Danner, inwiefern sich Francis Bacon vom aristotelischen Deduktivismus abgrenzt und wie sich seine wissenschaftstheoretischen Neuerungen auch im 21. Jahrhundert noch zeigen, bspw. in der Dominanz des Experiments (50).
Nachdem die Kapitel zu Platon, Aristoteles und Bacon kaum explizit sozialwissenschaftliche Bezüge erkennen lassen, will Danner in Kapitel 6 dem Anspruch seines Buches gerecht werden und „der Frage nachgehen, inwiefern diese Konzepte ihre Spuren im Denkstil der Sozialwissenschaften hinterlassen haben“ (51). Dabei fokussiert er die Beziehung des Allgemeinen zum Besonderen und arbeitet heraus, dass selbst die qualitative Forschung, die von Einzelphänomenen und -wahrnehmungen ausgeht, den Anspruch hat, daraus allgemeine Erkenntnisse zu entwickeln. Einige Beispiele für Forschung, die er diskutiert, zeigen exemplarisch, wo die Betonung des Spezifischen vor dem Allgemeinen Platz gefunden hat.
Einen weiteren Umbruch wissenschaftlichen Denkens verortet Danner bei Galileo Galilei (Kap. 7). Sein mathematischer Denkstil sei nicht nur wesentlich für die quantitative sozialwissenschaftliche Forschung, sondern auch für die Ästhetik wissenschaftlicher Darstellung. Danner spricht hier von einer „Reinheit im Schreibstil“ (79–81) und dem „geometrischen Stil in sozialwissenschaftlichen Schaubildern“ (81–85). Der letzte Gedanke erscheint dabei besonders interessant und für zukünftige Forschung äußerst vielversprechend: Danner argumentiert, dass eine Dominanz geometrischer Schaubilder für sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in Publikationen und Vorträgen festzustellen sei. Diese sei problematisch, da die soziale Realität „nur mäßig geordnet“ und „nie symmetrisch“ (83) erscheine.
In Kapitel 8 zeichnet Danner die Entwicklung positivistischen Denkens im Anschluss an Comte und Mill nach und zeigt anschließend daran den Einfluss dieses Denkstils in den Sozialwissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts sowie davon abweichende Konzeptionen auf.
Der kritische Rationalismus Poppers als Weiterentwicklung des Positivismus wird im nächsten Abschnitt (Kap. 9) dargestellt, wobei auch hier – wie in den vorangehenden Abschnitten – aktuelle sozialwissenschaftliche Forschung in Bezug dazu gesetzt wird.
Zwei eher kürzere Kapitel zu nicht thematisierten Hintergrundannahmen der Wissenschaften (Kap. 10) sowie zu gesellschaftlichen Widersprüchen bzw. emanzipatorisch ausgerichteter Forschung (Kap. 11) schließen den Hauptteil der Arbeit ab.
Im letzten Kapitel mit dem Titel „Offenes Ende“ (125) weist Danner darauf hin, dass mit seiner Darstellung zahlreiche Fragen offenbleiben und die Kontexte der jeweiligen Autor:innen nicht umfassend behandelt werden konnten. Besonders aufschlussreich ist hier die Frage, welchen Vorteil heterogene Forschungsteams für die Erweiterung wissenschaftstheoretischen Wissens und die Reflexion bislang unreflektierter Grundannahmen bieten können.
Folgt man Martin Carrier [3] und verortet die Wissenschaftstheorie „in einem Spektrum von Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichte“, so stellt Danners Werk ein prototypisches Beispiel einer solchen Auseinandersetzung dar, indem auf Basis historischer Beispiele Elemente wissenschaftlicher Denkstile herausgearbeitet und in langen, direkten Zitaten sichtbar gemacht werden. Das Buch ist sprachlich klar und flüssig geschrieben und wird dem Anspruch gerecht, sich an „Studierende und Dozierende in sozialwissenschaftlichen Bachelor- und Masterstudiengängen“ (Klappentext) zu richten. Die collageartige Darstellung, die direkten Zitaten von Autor:innen aus Primär- und Sekundärliteratur den Vorzug gibt, ist in den meisten Fällen ausreichend durch Kommentare und Erläuterungen ergänzt, sodass die Zitate nicht allzu sehr dem individuellen Verständnis und der Interpretation der Leser:innen überlassen bleiben – ein Aspekt, der insbesondere für Studierende in niedrigeren Semestern eine Herausforderung darstellen könnte. Für einen ersten Einblick in wissenschaftstheoretische Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkstile scheint das Werk also durchwegs sehr gut geeignet.
[1] Ein erster Beleg dafür findet sich in dem folgenden Einführungswerk bereits in der Einleitung, wenn der Autor davon schreibt, dass er sich „sowohl auf philosophischer als auch auf naturwissenschaftlicher Seite bemüht habe, so wenig wie nur irgend möglich vorauszusetzen“ und dabei soziologische bzw. sozialwissenschaftliche Ansätze außen vorlässt. Siehe: Wiltsche, H. A. (2021). Einführung in die Wissenschaftstheorie (2., korrigierte Auflage). Vandenhoeck & Ruprecht.
[2] Matthias Lutz-Bachmann, Alexander Fidora und Pia A. Antolic (2004, VII) schreiben dazu: „Das 12. und 13. Jahrhundert veränderten die überlieferte Wissenskultur der Gesellschaft des frühen lateinischen Mittelalters grundlegend. Denn in diesen zwei Jahrhunderten kam es nicht nur zu einer Neuformation der Schulen der höheren Bildung, zur Neubegründung wissenschaftlicher Disziplinen und ihrer Zusammenführung in der Universität als einer neuartigen Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, sondern auch zur Entfaltung, zum Austausch und zur Weitergabe von neuem, wissenschaftlichem Wissen, womit sich Institutionen, Inhalte und Methoden der überlieferten Wissenskultur gleichermaßen wandelten.“ In dem Zusammenhang sprechen sie auch von einer „intellektuellen Revolution“ (VII). Lutz-Bachmann, M., Fidora, A. & Antolic, P. A. (2004). Vorwort. In dies. (Hrsg.): Erkenntnis und Wissenschaft. Probleme der Epistemologie in der Philosophie des Mittelalters (Wissenskultur und Gesellschaftlicher Wandel, Bd. 10) (VII-VIII). Akademie Verlag.
[3] Carrier, M. (2006). Wissenschaftstheorie zur Einführung. Junius Verlag GmbH.