Bildungshistorische Perspektiven
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2024
(270 S.; ISBN: 978-3-7815-2621-1; 24,90 EUR)
Es ist richtig wohltuend, einen Band mit Beiträgen zur Geschichte der Universität in die Hände zu bekommen, der seine Analysen und Reflexionen nicht unter dem Titel der „Idee der Universität“ bündelt. Das gewählte Dual – „Beharrung und Reform“ – ist, trotz „Reform“!, auch nicht etwa Indiz für enge bildungshistorische Perspektiven, denn „universitas semper reformanda“[1] gehört zu den beliebten Topoi der Universitätsgeschichte, auch dort häufig mit „Beharrung“ gekoppelt. Das „spannungsreiche Wechselspiel“ (9) von „Beharrung und Reform“ war deshalb auch für die Jahrestagung der Sektion Historische Bildungsforschung, wie sie 2021 in Kassel stattfand, eine einladende Fragestellung, wie es die hier publizierten Beiträge jetzt deutlich bestätigen. 15 Abhandlungen behandeln das Thema in quellennahen, in den Informationen neuen und in den konkreten Perspektiven anregenden Studien. Die Herausgeber:innen ordnen in ihrem „Vorwort“ – auf kaum fünf Seiten allerdings sehr knapp – zuerst das Thema in die allgemeine universitätshistorische Forschung ein, betonen die spezifischen Möglichkeiten, die sich für bildungshistorische Forschung im Kontext einer lehrenden und forschenden Institution wie der Universität ergeben, und skizzieren auch noch, als Hommage an den Tagungsort durchaus angemessen, die 50 Jahre der Entwicklung von der Gesamthochschule zur Universität Kassel. Aber man muss doch sogleich bedauern, dass deren wechselvolle Geschichte und die der Gesamthochschulen insgesamt als Exempel für die Reformgeschichte der deutschen Universität nach 1970 in diesem Band so wenig behandelt wird wie die Universitätsgründungen nach 1960. Über die Gründe kann man nur spekulieren, aber schon mit dieser Leerstelle wird die für einen Sammelband immer naheliegende Frage aufgeworfen, welchen Zusammenhang und systematischen Ertrag die Fallstudien jenseits des konkreten Falls erbringen.
Zunächst geht es aber um die Abhandlungen selbst, die in sechs Abschnitten geordnet wurden. Drei dieser Abschnitte folgen den Epochen der Universität seit der Frühen Neuzeit. Dem Humanismus (I) gelten zwei Beiträge.
Der erste zeigt die sprachliche Bildung in den Artistenfakultäten in ihrer Rolle für berufliche Verwertbarkeit (Julia Kurig), der zweite präsentiert eine an der Sprachenfrage sich entzündende Reformdebatte in Leipzig (Karsten Engel). Der historisch-internationalen Perspektive (II) gelten drei Beiträge: Der erste analysiert aus den Kontroversen über die Möglichkeit einer katholischen Universität in Preußen im 19. Jahrhundert, wie dabei die belgische Universität Löwen als Argument in und für eine Universität in Münster fungierte (Andeas Oberdorf); Marcelo Caruso hat untersucht, wie in der kolonialen indischen Universität „‘pedagogy‘ und Lehrerbildung“ zwischen 1882 und 1922 organisiert waren, und Toshiko Ito belegt, personenbezogen, wie in Japan das Autonomie-Problem zwischen Staat und Universitäten um und nach 1900 verhandelt wurde. „Strukturelemente deutscher Hochschulentwicklung“ (III), ein großes Thema, wird an den Reformplänen des Leipziger Historikers Karl Lamprecht für die Debatte vor 1914 behandelt (Jonas Flöter), und „wissenschaftliche Schulen“ werden am Beispiel der ihrem Lehrer, dem preußischen Historiker Hans Delbrück, strikt folgenden Schüler als „Beharrungsfaktor der Hochschulentwicklung“ entdeckt (Jonas Klein). Für Praktiken der „Hochschulbildung an vielfältigen Orten“ (IV) ist ein universitär angelagertes Erziehungsinstitut im frühen 19. Jahrhundert in Marburg ein Beispiel (Christina Stehling); für die Produktivität seiner diversen, öffentlichen wie geheimen, Sozialisationsetappen steht die – privilegierte – Bildungsbiografie von Janusz Korczak zwischen Warschau, Berlin, Paris und London (Kristina Schierbaum). Die beiden letzten Abschnitte gelten „Lehren und Lernen“ (V) – und hier heißt das Dual „Tradition und Innovation“ – sowie (VI) „Wissenserwerb und Wissensvermittlung“, jetzt wieder „zwischen Beharrung und Reform“ – wobei die Differenz der Ordnungsbegriffe nicht ganz deutlich wird, denn um Lernen und Lehren und die damit verbundenen Ambivalenzen geht es allemal. Gleichwie, drei Beiträge (zu V) umfassen eine Fallstudie zum Akademischen Museum der Universität Göttingen (Cristiana Bers), „studentische Selbstbildung“ und „neuphilologische Vergemeinschaftung“ für Leipzig vor 1914 und den „Akademisch-Neuphilologischen Verein“ (Martin Reimer) sowie „Formen der Selbstbildung“, dargestellt für allgemeine Bildung, „in deutschen und französischen Studentenorganisationen“ (Antonin Dubois). Hier wird noch einmal die Vielfalt, aber auch die kulturelle Differenz in der Praxis akademischer Geselligkeit und in den Erwartungen an ihre Funktion herausgearbeitet, wie sie sich außerhalb der Universitäten beidseits des Rheins bis 1914 etabliert hat. Im letzten Abschnitt (VI) zeichnet Patrick Bühler nach, welche – restringierten – Chancen angesichts der universitären Distanz zu Freud und des latenten Antisemitismus die Psychohygiene und Heinrich Meng als ihr Proponent in Basel zwischen 1930 und 1960 hatten. „Pädagogik“, als Fach ja nicht sehr reputiert, wird dagegen „als Trumpf“ in der „Karriere einer sozialistischen Professorin an der Humboldt-Universität“ am Beispiel der Krippenforscherin Eva Schmidt-Kolmer für die DDR-Zeit nachgewiesen (Carolin Wiethoff und Florian von Rosenberg). Die „Wissenskonflikte“ schließlich, die sich auch in der Schweiz von 1950 bis 1980, also auch in der „Phase neuer sozialer Bewegungen“, zwischen Wissenschaft und Politik, in der Universität und in akademischer Distanz zur studentischen Oppositionskultur bei der Gestaltung der Lehrerbildung in Zürich entzündet haben, sind das Thema des abschließenden Beitrags (Andrea De Vincenti, Norbert Grube und Andreas Hoffmann-Ocon).
Ein breites Angebot, zweifellos, aber auch sehr spezialisiert in den einzelnen Beiträgen, ohne dass ein vergleichendes Resümee angeboten würde – oder dem Rezensenten möglich wäre. Das Dual „zwischen Beharrung und Reform“ gewinnt jedenfalls über das bekannte, triviale, Faktum hinaus, dass es sich konstant zur Stilisierung inneruniversitärer Ereignisse und für die Relation zur Umwelt nutzen lässt, wenig präzise Aussagekraft. Nicht einmal die Annahme der Herausgeber:innen, dass die Universitäten die Fähigkeit besaßen, „einen gewissen Kernbestand von Prinzipien oder Idealen über die Zeiten hinweg sorgfältig zu bewahren“ (9), wird geprüft oder auch nur zum Thema, so wenig wie die Vermutung, dass „ein Mindestmaß an grundsätzlicher Reformbereitschaft“ (9) systemisch notwendig war. Für eine Generalisierung solcher Thesen auf die gesamte Universität sind die Exempel nicht aussagekräftig, sondern zu eng und zu wenig kontextualisiert. Die Schweiz und Frankreich, Japan und Indien reichen auch nicht aus, um die internationale Dimension des Themas mehr als zu illustrieren, weil schon bedeutsame Differenzen, u.a. die europäischen zwischen angelsächsischen, französischen oder den deutschsprachigen Universitäten, zu schweigen von den USA oder China, gar nicht präsent sind. Und die bildungshistorische Spezifik? Die Herausgeber sehen sie in der Analyse von „Lehren und Lernen, Erziehung, Bildung und Sozialisation, Geschlechter- und Generationenverhältnissen“. Ja, das kommt vor, aber doch nur je lokal, nicht kontextualisiert oder generalisierbar. Erinnert sei an die fehlende Geschichte der politisch ambitionierten und z.B. in der Hochschuldidaktik – auch kein Thema – engagierten Gesamthochschulen, zu ergänzen um den Befund, dass das Studiensystem ‚nach Bologna‘ und auch die national wie international höchst intensiven Diagnosen über die ‚Krise der Universität‘ vollständig ausgeblendet bleiben – kein Thema für Bildungshistoriker:innen? Ein wenig mehr Selbstlob wäre in der Einleitung daher schon angemessen gewesen.
„Universitäten und Hochschulen“ werden nämlich „bildungshistorisch“ eben nicht, anders als die Herausgeber:innen sagen, „als Orte sichtbar […], in denen sich einerseits gesellschaftliche Entwicklungen spiegelten, die aber andererseits auch selbst zu Motoren und Katalysatoren wurden“ (13). Aber das ist wohl das Schicksal solcher Sammlungen, dass sie die Vielfalt der relevanten Fragen eher an Exempeln zeigen, als sie irgendwie umfassend zu behandeln oder, wie man das vielleicht doch von einer Einleitung hätte erwarten dürfen, systematisch zumindest deutlicher zu ordnen.
[1] Dazu nur drei Exempel und zwei Hinweise, die Exempel als Beleg für die These von der Stabilität des Topos:
Szagun, A.-K. (2003). Universitas semper reformanda. Neue Lernwege in Theologie und Religionspädagogik. LIT Verlag.
vom Bruch, R. (2009). Universitas semper reformanda. Grundzüge deutscher
Universitäten in der Neuzeit. In M. Rudersdorf, W. Höpken & M. Schlegel (Hrsg.),
Wissen und Geist. Universitätskulturen. (S. 19-41). Franz Steiner Verlag.
Rudersdorf, M. (2016). „Universitas semper reformanda.“ Die beharrende Kraft des Humanismus. Zu einem Grundkonflikt neuzeitlicher Universitätsgeschichte im Jahrhundert der Reformation. S. Hirzel Verlag.
Die Hinweise: Mit dem Topos wird keineswegs nur ein deutsches Thema bezeichnet, auch eine Keynote lecture von William Whyte, Oxford University, nimmt den Topos auf: „Semper Reformanda: Reform and the University Through History“, gehalten am 05.05.2022 in Konstanz anlässlich einer Tagung der ERUA (European Reform Universities Alliance). Der zweite Hinweis erinnert, dass diese These auch eine Variante kennt: „Ecclesia semper reformanda est“!