Wenn Kinder nicht wollen können
Bad Heilbrunn / Stuttgart: Verlag Julius Klinkhardt / UTB 2024
(287 S.; ISBN: 978-3-8252-6336-2; 21,90 EUR)
Bereits die Einleitung von Hehmsoths Handbuch erzeugt durch eine drastische Vignette emotionale Eindrücke: „Cleo, 11, wird regelmäßig geschlagen. Sie bekommt nur unregelmäßig zu essen und teilt sich ihr Zimmer mit ihrer Schwester. Sie riecht, als ob sie sich nur selten wäscht. Mohammed kommt aus Syrien und ist über das Mittelmeer mit seinen Eltern geflohen. Er hat gesehen, wie andere Menschen ertranken. In Syrien konnte er Bomben fallen sehen, hören und fühlen. Torbens Eltern haben sich vor Kurzem scheiden lassen. Eine Welt bricht für ihn zusammen. Ninas Eltern sind drogensüchtig. Sie sagen ihr, dass sie dumm und wertlos sei. Joosts Mutter ist psychisch krank und erkennt ihn häufig nicht“ (9).
Diese Fallvignetten, von denen das Buch insgesamt 120 enthält, illustrieren exemplarisch die Lebensrealitäten von Schüler:innen, die unter traumatischen Belastungen leiden. Die gewählte Darstellung ist eindrücklich, tendiert jedoch zu Stereotypisierung und einer dramaturgischen Zuspitzung. Während diese Fallbeispiele als narrativer Zugang in die Thematik fungieren, stellen sie zugleich die Grundlage für Hehmsoths Argumentation dar. Das Buch arbeitet konsequent mit dieser Form der Veranschaulichung, wodurch Leser:innen eine Nähe zur Lebenswirklichkeit betroffener Kinder und Jugendlicher ermöglicht wird. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass durch die Zuspitzung der Beispiele die Bandbreite traumatischer Erfahrungen nicht ausreichend differenziert dargestellt wird. Einerseits wird Trauma hier vor allem als ein individuelles Schicksal beschrieben, während strukturelle und gesellschaftliche Bedingungen, die Traumatisierung begünstigen oder verstärken, eher in den Hintergrund treten. Andererseits bleibt unklar, ob es sich bei den Vignetten um reelle, empirische oder konstruierte Fallbeispiele handelt.
Der Autor Hehmsoth ist Sonder- und Heilpädagoge mit einem Forschungsschwerpunkt auf Psychotraumatologie in der Schule. Sein Buch basiert auf seiner Dissertation und integriert internationale Perspektiven. Laut Klappentext richtet sich das Handbuch an „Studierende, Referendare und Lehrkräfte sowie Schulleitungen“ und verspricht strukturierte Einblicke in den „Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen“. Diese Zielgruppendefinition legt nahe, dass das Werk sowohl wissenschaftlich fundierte als auch praxisrelevante Inhalte liefern möchte. In der Tat gelingt es dem Autor, grundlegende Konzepte der Traumapädagogik verständlich zu erläutern, wobei die wissenschaftliche Reflexion an einigen Stellen hinter der anwendungsorientierten Darstellung zurücktritt.
Im ersten Kapitel mit dem Titel ‚Traumapädagogik‘ beschreibt Hehmsoth die Traumapädagogik als „Paradigmenwechsel der Hilfen für traumatisierte Kinder und Jugendliche“ (15). Er problematisiert jedoch den Begriff ‚Pädagogik‘ in diesem Zusammenhang, da die Traumapädagogik eher eine interdisziplinäre Verknüpfung von psychotraumatologischen (medizinisch-psychologischen) Erkenntnissen mit (sozial-)pädagogischen Ansätzen sei – eine Art „Traumapädalogie“ (23). Der Autor zeigt die Schwierigkeit auf, Traumapädagogik theoretisch einzuordnen, und bietet einen transnationalen Blick auf das Thema. Besonders hervorzuheben ist die Darstellung des Trauma-Informed Approach, der im angloamerikanischen Raum als systemische Perspektive auf Trauma dient. Allerdings bleibt er am Ende des ersten Kapitels in seiner Unterscheidung zwischen „traumasensibel“ und „traumapädagogisch“ (28) vage. Auch bleibt unklar, wie genau die Schule als „Helferin und nicht als Täterin“ (32) auftreten kann, wenn das System Schule, sprich das Bildungssystem, selbst nicht näher analysiert bzw. kritisch reflektiert wird.
Die Frage ‚Welche Akteure sind beteiligt?‘, die zugleich den Titel des zweiten Kapitels bildet, beantwortet der Autor, indem er drei zentrale Arbeitsbereiche vorstellt, die maßgeblich zur Unterstützung ‚traumatisierter Kinder‘ beitragen. Er beschreibt die Rolle von Sozialpädagogik, Sonderpädagogik, Psychotraumatologie sowie klinischer Psychologie und die Aufgaben der einzelnen Expert:innen. Der interdisziplinäre Ansatz ist lobenswert, insbesondere die Betonung der multiprofessionellen Zusammenarbeit. Lehrkräfte in der Schule fungieren dabei als Schnittstelle zwischen Schüler:innen und externen Expert:innen, was eine effektive Unterstützung ermöglichen soll. Problematisch ist jedoch das unangefochtene Primat der medizinischen Psychotraumatologie. Eine medizinische Diagnose wird als Voraussetzung für jegliche Ressourcen und Hilfen dargestellt: „Wenn es keine umfassenden Diagnosen der Mediziner gibt, bekommen Lehrkräfte im Alltag keine Hilfen, wie Integrationshelfer, Nachteilsausgleiche, Förderbedarfe“ (40). Diese biologistische Pathologisierung zeigt sich auch in den verwendeten Metaphern, etwa wenn „Traumatisierte“ mit einem „kaputten Auto“ verglichen werden, das repariert werden muss (57), oder wenn Trauma mit einem Virus assoziiert wird, das in den Zellkern eindringt (48).
Im dritten Kapitel, das mit der Frage ‚Welche Einflüsse wirken auf das Kind?‘ betitelt ist, geht der Autor auf Ursachen von Traumafolgestörungen ein und präsentiert das Modell der ‚Wirkfaktoren‘. Dieses hebt sich vom klassischen Konzept von Risiko- und Schutzfaktoren ab, indem es deren duale Wechselwirkungen betont. Der Autor beschreibt sechs Faktoren: ökonomische Versorgung, Medien, Familie, Migration, Freizeit und Freunde sowie Schule. Während Hehmsoth in diesem Kapitel erstmals die Schule nicht nur als „Helferin“, sondern auch als „Täterin“ thematisiert (149), bleibt eine tiefere systemische Analyse aus. Besonders problematisch ist die Verknüpfung von Migration und Schule unter der Unterüberschrift „Schule, Werte und Kultur“, wo der Autor „kulturelle Unterschiede“ und Werte in einer problematischen Weise beschreibt: „Fleiß, Ausdauer, Pünktlichkeit mögen abgegriffen sein, für die Schule haben diese Werte aber eine enorme Bedeutung. Für viele Kinder aus dem Nahen Osten, die Flucht und Verfolgung erlitten, haben sie eine andere Konnotation“ (151). Solche Formulierungen bergen die Gefahr, Stereotype zu reproduzieren, und hätten einer differenzierteren Betrachtung bedurft. Gerade in einer traumasensiblen/-informierten Pädagogik sollte jedoch der Anspruch bestehen, kulturelle und soziale Hintergründe nicht pauschalierend zu kategorisieren, sondern die individuellen Erfahrungen von Schüler:innen in den Mittelpunkt zu stellen.
Mit ‚Traumasensible Hilfen und Unterstützung‘, dem vierten und letzten Kapitel des Handbuchs, bietet der Autor Handlungsanleitungen für eine traumasensible Schule. Besonders aufschlussreich ist der Abschnitt ‚Unterricht‘, in dem traumasensibles Handeln auf zwei Prinzipien basierend vorgestellt wird: Vertrauen und Verlässlichkeit (267). Gleichzeitig zeigt sich hier eine problematische Fokussierung auf „academic performance“. Einerseits wird „internalisiertes“ Trauma oft übersehen, da es nicht immer zu auffälligem Verhalten führt. Andererseits suggeriert das Buch, dass schulisches Lernen für traumatisierte Kinder „nachrangig“ sei (253), ohne differenziert zu analysieren, dass nicht jedes disruptive Verhalten traumabedingt ist.
Hehmsoths Buch liefert wertvolle Einblicke in die Faktoren, die Trauma beeinflussen, und vermittelt ein Spektrumverständnis von Trauma. Allerdings gibt es zentrale Kritikpunkte. Die vorgestellten Konzepte sind reaktiv und nicht proaktiv: Trauma wird erst dann thematisiert, wenn es sich in auffälligem ‚externalisierten Verhalten‘ zeigt. Die Systemkritik bleibt oberflächlich – das System Schule wird als ‚Wirkfaktor‘ erwähnt (148), aber nicht grundlegend hinterfragt. Lehrkräfte reflektieren ihre eigene Rolle und ihre ‚Haltung‘ kaum, obwohl der Autor die Traumapädagogik als ‚Haltungs-Pädagogik‘ versteht. Trauma wird trotz Problematisierung des Störungsbegriffs (57) letztlich doch als defizitorientiertes Label genutzt. Ein intersektionaler, dekolonialer, machtkritischer und vor allem inklusionsorientierter Blick wäre hier notwendig. Dennoch ist das Buch eine lesenswerte Einführung in die Thematik. Besonders für Lehrkräfte bieten Kapitel 3 und 4 nützliche Einblicke und Handlungsansätze. Es bleibt jedoch eine zentrale Schwäche: Die Gefahr der titelgebenden Etikettierung von Kindern als ‚traumatisiert‘ und die damit verbundenen reduktionistischen Perspektiven auf ihre Entwicklung werden nicht hinreichend reflektiert. Diese Reflexion wäre besonders wichtig, um eine wirklich traumasensible Schule zu gestalten, die nicht nur Symptome behandelt, sondern auch die strukturellen Bedingungen für diese Problematiken ernsthaft hinterfragt. Wie Alex Shevrin Venet (2023) es formuliert: „Trauma Is A Lens, Not A Label“ [1].
[1] Venet, A. S. (2023). Equity-centered trauma-informed education. Routledge. (S. 55).