Eine empirische Untersuchung an der Schnittstelle Behinderung und Migration
Bielefeld: transcript 2022
(236 S.; ISBN: 978-3-8376-6058-6; 39,00 EUR)
Im Rahmen quantitativ-empirischer Forschung stellen intersektionale Theorieperspektiven bislang eher die Ausnahme dar. Chantal Hinni nimmt in ihrer bildungssoziologischen Dissertation eine solche Verknüpfung vor. Von besonderem Interesse sind dabei die Kategorien Migration(-shintergrund), Behinderung, sozioökonomischer Status und Geschlecht als Determinanten des schulischen und beruflichen Bildungserfolgs sowie das Konzept des Sozialkapitals. Im Fokus von Hinnis Arbeit steht die quantitative „Untersuchung von Effekten der Sozialstrukturkategorien auf die Wahrscheinlichkeit, einem bestimmten Sozialkapitalprofil anzugehören“ (27).
In Kapitel 2 erfolgt zunächst eine theoretische Auseinandersetzung mit den Begriffen Sozialstruktur(-analyse) und soziale Ungleichheit. Darüber hinaus stehen empirische Befunde zu Bildungsungleichheiten im Fokus, die Herkunftseffekte auf Leistungen, Bildungswege und Bildungsabschlüsse von Schüler:innen ausweisen.
In Kapitel 3 widmet sich die Autorin dem Konzept des Sozialkapitals. Dabei stellt sie verschiedene Ressourcen in der Vermittlung von Sozialkapital vor und geht zum Beispiel auf Familien- und Gruppensolidarität sowie auf das Vorhandensein von Information(-skanälen) oder von Macht durch sozialen Einfluss als Ressourcen ein. Anhand empirischer Befunde zeigt die Autorin auf, dass die bisherigen Untersuchungsergebnisse zur Bedeutung von Sozialkapital im schulischen Bereich (allgemein und insbesondere bezogen auf die Kategorien Migration und Behinderung) uneinheitlich und widersprüchlich sind. Sie verdeutlicht dies u.a. anhand der Ergebnisse vorliegender Studien zu den Effekten von Sozialkapital auf den Schulerfolg. Entsprechende Studien zeigen beispielsweise unterschiedliche Effekte der Häufigkeit elterlicher Mitarbeit auf die Wahrscheinlichkeit des Schulabbruchs der Kinder. Ähnlich differente Ergebnisse weist die Gegenüberstellung von Studien zu Peer-Beziehungen von Schüler:innen mit Behinderung auf. Die Studienergebnisse führen teils zu dem Schluss, dass Schüler:innen mit Lernbehinderung über Freundschaften verfügen, die im Zeitverlauf ebenso stabil bleiben, wie die ihrer Mitschüler:innen ohne Lernbehinderung. Andere Studien zeigen hingegen, dass Schüler:innen mit Behinderung über weniger reziproke Freundschaften verfügen und ein höheres Risiko aufweisen, von sozialer Isolation betroffen zu sein.
Die Auseinandersetzung mit Intersektionalität in Kapitel 4 lenkt den Blick zunächst auf die Historie des Konzepts. Die Autorin skizziert zudem, inwiefern sich die Kategorien ‚Behinderung‘, ‚Migration‘, ‚sozioökonomischer Status‘ und ‚Geschlecht‘ als Analysekonstrukte eignen. Anhand der Ergebnisse qualitativer und quantitativer Studien, die Bildungsungleichheiten aus einer intersektionalen Perspektive betrachten, legt sie verschiedene „Hinweise auf eine Intersektionalität der Strukturkategorien Behinderung, Migration, sozioökonomischer Status und Geschlecht“ dar (104).
In Kapitel 5 schlägt die Autorin zwei theoretische Bezüge für die analytische Auseinandersetzung mit Sozialkapital aus intersektionaler Perspektive vor. Dabei handelt es sich um die Theorie der Kreuzung sozialer Kreise nach Blau und Schwartz sowie um die Theorie des sozialen Tauschs, die u.a. über Bezüge auf Lévi-Strauss, Bourdieu, Gouldner und Blau dargelegt wird. Die Theorie der Kreuzung sozialer Kreise wird „als beschreibende Charakteristik sozialer Strukturen“ eingeführt (106). Sie besagt, dass „Menschen durch die Kreuzung ihrer sozialen Kreise Möglichkeiten erwachsen[,] Sozialkapital zu generieren“ (108). Das Konzept des sozialen Tauschs hingegen bezieht sich auf das soziale Handeln. Aus intersektionaler Perspektive lässt sich für den Kontext Schule fragen, „welche Gruppen von Schülerinnen und Schülern im sozialen Tausch und damit in der Herstellung von Sozialkapital mit ihren pädagogischen Bezugspersonen, in erster Linie den Lehrpersonen, mehr oder weniger erfolgreich sind“ (111).
In Kapitel 6 werden die Fragestellungen abgeleitet. Als Leerstelle wird dabei die „intersektionale Analyse der Wechselwirkungen zwischen den Kategorien Behinderung, Migration, sozioökonomischer Status und Geschlecht bezogen auf das individuelle Mass [sic] an Sozialkapital aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern, deren Hauptbezugs- sowie deren Lehrpersonen“ identifiziert (115-116). Angesichts dieser Leerstelle werden zwei Fragestellungen unterschieden: Die Untersuchung der Sozialkapitalprofile von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu zwei Untersuchungszeitpunkten, im Alter von 14 und 21 Jahren, zielt erstens auf die Beantwortung der Frage, „ob und wie sich das Sozialkapital bei den Probandinnen und Probanden bezüglich der Dimensionen netzwerkbasierte Ressourcen, Vertrauen und Werte unterscheidet beziehungsweise über die Zeit verändert“ (116). Daran schließt sich zweitens die Frage an, welche „Effekte der Sozialstrukturkategorien Behinderung, Migration, sozioökonomischer Status und Geschlecht auf die Sozialkapitalprofile“ sich zeigen (116).
Kapitel 7 enthält Informationen zum methodischen Vorgehen der durchgeführten Sekundäranalyse und zum Schweizer Kinder- und Jugendsurvey COCON als Datengrundlage. Neben der Beschreibung der Stichprobe stehen die Operationalisierung der Variablen und die Begründung für die Wahl der statistischen Verfahren im Vordergrund. Dabei wird die latente Klassenanalyse als ein statistisches Verfahren vorgestellt, dessen Anwendung es ermöglicht, Individuen in Gruppen einzuteilen, so dass von latenten Klassen gesprochen werden kann. Das bedeutet, dass Personen bzw. deren Antwortmuster in der statistischen Analyse „mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einer bestimmten latenten Klasse zugeordnet“ werden können (138). Es kann beispielsweise untersucht werden, welche Individuen zu welcher latenten Klasse gehören.
Die Ergebnisdarstellung und -diskussion in Kapitel 8 und im ersten Teil von Kapitel 9 zeigen, dass das allgemeine Sozialkapital bei einem Großteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Zeitraum zwischen den beiden Messzeitpunkten deskriptiv betrachtet abnimmt. Dies wird am Beispiel der Dimensionen der Empathie und allgemeinen Werte sowie des freundschaftsbezogenen Sozialkapitals zum ersten und des peerbezogenen Sozialkapitals zum zweiten Messzeitpunkt dargestellt. Am Beispiel des freundschafts-/peerbezogenen Sozialkapitals zeigt sich die Abnahme beispielsweise wie folgt: Zum ersten Messzeitpunkt im Alter von 14 Jahren verfügen drei Viertel der Jugendlichen über ein hohes bis sehr hohes Sozialkapital in diesem Bereich. Zum zweiten Messzeitpunkt im Alter von 21 Jahren berichtet hingegen nur noch ein Viertel der jungen Erwachsenen über peerbezogenes Sozialkapital. Darüber hinaus lassen sich zu beiden Messzeitpunkten „nur wenige Effekte der Sozialstrukturkategorien auf die Klassenzugehörigkeitswahrscheinlichkeit“ nachweisen (177). So zeigen sich zum zweiten Messzeitpunkt keine Effekte der Kategorien Behinderung und Migration. Die Kategorien haben keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, einer bestimmten Klasse anzugehören. Anders verhält sich dies bei der Kategorie Geschlecht. Junge Frauen haben „eine sehr viel grössere [sic] Wahrscheinlichkeit als junge Männer, einer der Klassen mit höheren Empathiewerten anzugehören“ (177). In der Diskussion der Ergebnisse wird unter anderem der Aspekt der elterlichen Kontrolle in den Mittelpunkt gestellt. Hervorgehoben wird, dass ein großer Teil der Jugendlichen „über positive Formen von starken Bindungen verfügt“ (183). Die Autorin leitet dies aus den relativ niedrigen Werten für strenge elterlichen Kontrolle und den hohen Werten für emotionale Nähe zu den Eltern ab. Auch die Effekte der beiden zentralen Kategorien des Migrationshintergrundes und der Behinderung werden diskutiert, wobei auffällt, „dass die Kategorie Behinderung, sowohl allein wie auch mit den anderen Kategorien, keine Effekte zeigte“ (188) und keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der Klassenzugehörigkeit hat.
Die Ergebnisdiskussion enthält im zweiten Teil einen Ausblick mit weiterführenden Fragen, die sich insbesondere auf den ausbleibenden Effekt der Kategorie ‚Behinderung‘ beziehen. Ob dieser einer vertieften Untersuchung standhalten kann, wäre weiter zu klären. Inhaltliche Fragen werfen hingegen einige Ausführungen im Ausblick auf, die sich auf die Option der „Einbettung der Untersuchung vor dem Hintergrund kultureller Aspekte“ beziehen (193). Hier stellt die Autorin fest, dass es offensichtlich sei, dass „sich Geschlechterrollen je nach ethnischer Herkunft unterscheiden“ (194). Gleiches gelte für „die kulturell bedingte Wahrnehmung von Behinderung“; sie sei „je nach Herkunft stark“ unterschiedlich (194). Problematisch an diesen Ausführungen ist nicht nur, dass sie als kulturalisierende Zuschreibungen gelesen werden können. Sie legen auch den Eindruck nahe, dass – zumindest an dieser Stelle – eine stärkere Rückbindung an den Forschungsstand sinnvoll wäre.
Bereits vorliegende Arbeiten zeichnen ein differenzierteres Bild und untermauern die Problematik kulturalisierender Argumentationen an der Schnittstelle von Migration und Behinderung [1].
Die Publikation bietet spannende Einblicke in die Möglichkeiten, einen intersektionalen Ansatz in Verbindung mit dem Konzept des Sozialkapitals für empirisch-quantitative Analysen zugänglich zu machen. Chantal Hinni wählt einen anderen Zugang als die bisher vorliegenden, primär qualitativ-empirischen Arbeiten. Dass der im Titel prominent gesetzte Fokus auf die „Schnittstelle Behinderung und Migration“ in der Arbeit selbst durch Bezüge auf die Kategorien Geschlecht und sozioökonomischer Status ergänzt wird, erscheint vor dem Hintergrund intersektionaler Perspektiven mehr als naheliegend und anschlussfähig an den Stand der Diskussion. Wie bereits angemerkt, wäre jedoch in der Diskussion der Ergebnisse eine stärkere Anknüpfung an den Forschungsstand zur Schnittstelle von Migration und Behinderung angebracht, auch um kulturalisierenden Interpretationen vorzubeugen. Die Veröffentlichung ist insbesondere für Forschende mit einem Interesse an quantitativen Forschungsansätzen und entsprechenden methodischen Vorerfahrungen lesenswert. Für sie bieten die konzeptionelle Anlage und die Dokumentation der Umsetzung der Studie Anknüpfungspunkte für eigene Verbindungen quantitativ-empirischer Ansätze mit intersektionalen Theorieperspektiven.
[1] Amirpur, D. (2016). Migrationsbedingt behindert? Familien im Hilfesystem. Eine intersektionale Perspektive. transcript.