Begriffliche und berufspraktische Aushandlungen von Gesamtschul- und Gymnasiallehrer*innen
Wiesbaden: Springer VS 2024
(447 S.; ISBN: 978-3-658-43726-8; 84,99 EUR)
Katharina Graalmann setzt sich in ihrem Buch ‚Rekonstruktion von Bildungs(un-)gerechtigkeit – Begriffliche und berufspraktische Aushandlungen von Gesamtschul- und Gymnasiallehrer*innen‘ umfassend und differenziert mit der Thematik Bildungs(un)gerechtigkeit auseinander. Sie untersucht anhand von Interviews, die mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet werden, wie Lehrpersonen an Gymnasien und Gesamtschulen mit diesem Konzept umgehen, es reflektieren und reproduzieren. Dazu analysiert die Autorin die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der befragten Lehrer:innen und verdichtet sie zu Typen der Orientierung bezüglich Bildungs(un)gerechtigkeit. Die Dissertation der Autorin und das daraus hervorgegangene Buch leisten damit einen fundierten Beitrag zur rekonstruktiven Bildungsforschung an der Schnittstelle von Bildungssoziologie und Schulpädagogik zu einem wichtigen sowie aktuellen Thema: der Rolle von Lehrpersonen bei der (Re-)/(Ko-)/Produktion von Bildungs(un)gerechtigkeit.
Das Buch folgt einem klar strukturierten Aufbau. Dabei setzt es sich nach einem einleitenden Problemaufriss, in dem die Forschungsfragen samt deren Entstehungskontext und Relevanz erläutert werden, zunächst mit den grundlegenden Begriffen der Untersuchung – Bildungs(un)gerechtigkeit, soziale Herkunft und lehrer:innenhabituelle Passung – auseinander. Der Fokus liegt dabei zum einen auf der verbindenden Auseinandersetzung mit Bildung, Gerechtigkeit, Gerechtigkeitstheorien im Schulkontext und bildungspolitischen Schlagwörtern sowie der darauf basierenden Herleitung von Bildungs(un)gerechtigkeit als erziehungswissenschaftlichem Begriff und zum anderen auf sozialer Herkunft als Heterogenitätsdimension im Kontext von Kapital und Habitus. In der Diskussion wird die Vielschichtigkeit des Phänomens deutlich, seine unterschiedlichen (oft normativ geprägten) Bedeutungen im pädagogischen, politischen und gesellschaftlichen Diskurs werden aufgezeigt. Auch wenn dieser Teil des Buches das Ziel verfolgt, „Ordnung in den jeweiligen gegenstandstheoretischen Diskurs zu bringen und alle miteinander zu verknüpfen“ (13), bleiben die umfangreichen, vielfältige Perspektiven aufgreifenden Ausführungen trotz der grundsätzlich klaren und verständlichen Darstellung naturgemäß komplex. Daher wirkt die überblicksartige Zusammenfassung der diskutierten Kernbegriffe am Ende der Ausführungen nicht redundant, sondern im Gegenteil hilfreich für die Orientierung und trägt zur Leser:innenfreundlichkeit des Buches bei.
Im nächsten Kapitel werden methodologisch-methodische Entscheidungen erläutert und das Forschungsprojekt entsprechend eingeordnet – vom qualitativen Forschungsansatz über die Wahl der leitfadengestützten Expert:inneninterviews mit integrierten Vignetten (n=16) zur Datenerhebung bis zur Datenauswertung mittels der Dokumentarischen Methode. Die Autorin begründet ihre Wahl dabei sehr fundiert und macht den Prozess der Entwicklung des aufwändigen Forschungsdesigns, das eine Vorstudie mit offenen Fragebögen und deren inhaltsanalytischen Auswertung als Basis für die Erstellung passender Vignetten beinhaltet, transparent. Sie beschreibt sowohl Erhebungsinstrumente als auch Auswertungsmethode im Detail. Im online verfügbaren Anhang sind darüber hinaus weitere Informationen wie Interviewleitfaden mit Vignetten, Übersicht über das Sample oder eine exemplarische Fallzusammenfassung zu finden, anhand derer der Forschungsprozess gut nachvollzogen werden kann. Graalmann argumentiert klar, inwiefern sich das gewählte Forschungsdesign für eine tiefgehende Analyse eignet, um darauf basierend implizite Orientierungsmuster, die pädagogische Praktiken der Lehrpersonen oft unbewusst prägen, zu rekonstruieren.
Anschließend werden als Ergebnisse der Untersuchung vier „Typen von Lehrer:innenorientierungen auf Bildungs(un-)gerechtigkeit in Bezug auf soziale Herkunft von Schüler:innen“ (161) sehr detailreich vorgestellt (auch hier sind angesichts des Umfangs der Ausführungen zur Bewahrung der Übersicht und Fokussierung die überblicksartigen Zusammenfassungen jedes Typs am Ende der Unterkapitel hilfreich): Der Wissenschaftsorientierte Typ, der Gerechtigkeit primär als abstraktes, wissenschaftliches Konzept betrachtet und die eigene Rolle vor allem in der Vermittlung fachlicher Inhalte sieht; der Schüler:innenorientierte Typ, der Bildungsgerechtigkeit als zentrale Aufgabe des Lehrberufs wahrnimmt und sich in seinem pädagogischen Handeln aktiv für Chancengleichheit einsetzt; der Stressorientierte Typ, der Bildungs(un-)gerechtigkeit als zusätzlichen Stress- und Belastungsfaktor im Berufsalltag wahrnimmt, was eine Herausforderung, die über die eigentlichen Anforderungen hinausgeht, darstellt; und der Grenzorientierte Typ, der Ungerechtigkeiten anerkennt, die strukturellen Bedingungen aber als kaum veränderbar sieht und sich pragmatisch darauf beschränkt, nur in begrenzten Bereichen Veränderungen vorzunehmen, um mögliche Belastungen zu vermeiden. Die differenzierten Erläuterungen zu den Orientierungstypen legen die Basis für ein besseres Verständnis der sehr unterschiedlichen berufspraktischen Zugänge von Lehrpersonen zum Thema Bildungs(un)gerechtigkeit.
Im nächsten Kapitel werden ausgewählte Ergebnisse zu den inhaltlichen Schwerpunkten Belastung, Berufswahlweg, Schulform sowie Bildungs(un-)gerechtigkeit weiterführend diskutiert. Dabei wird jedes Thema auf Basis der Untersuchung fokussiert erörtert, die Ergebnisse mit dem aktuellen wissenschaftlichen Kontext verknüpft und Implikationen für Lehrer:innenbildung, Politik und Bildungsforschung abgeleitet.
Im Kapitel zu methodologisch-methodischen Reflexionen wird transparent auf Limitationen und kritische Aspekte der Studie eingegangen – sowohl auf solche, die grundsätzlich durch die Methodenwahl bedingt sind, als auch auf jene, die aufgrund der forschungspraktischen Umsetzung durch die Autorin entstanden sein können (wie mögliche Einflüsse durch die Rekrutierung der Befragten, Entwicklung des Interviewerinnenverhaltens im Laufe der Erhebung etc.). Es wird auf Verbesserungspotenziale verwiesen und Alternativen zum Forschungsdesign sowie mögliche Anschlussforschungen – beispielsweise durch einen ergänzenden ethnografischen Zugang – werden besprochen.
Die abschließenden Gedanken im letzten Kapitel greifen wesentliche Aspekte noch einmal fokussiert auf und bieten eine resümierende, strukturierte Zusammenschau der zentralen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, beispielsweise in ersten Ansätzen für Implikationen für die Lehrer:innenbildung.
‚Rekonstruktion von Bildungs(ung-)gerechtigkeit – Begriffliche und berufspraktische Aushandlungen von Gesamtschul- und Gymnasiallehrer*innen‘ ist eine sehr lesenswerte Lektüre, insbesondere für Forschende, die an Bildungssoziologie, Schulpädagogik und der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen interessiert sind. Das Buch bietet aber auch interessante Einblicke für bildungspolitische Akteur:innen, Lehrpersonen und Schulentwickler:innen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen (wollen). Dass Bildungs(un)gerechtigkeit im multiperspektivischen Zugang sowohl in den theoretischen als auch empirischen Auseinandersetzungen „ein schwer zu durchdringendes Konstrukt“ (393) bleibt, auch wenn durchaus „Ordnung in den Diskurs gebracht werden konnte“ (394), merkt die Autorin dabei selbst in ihrem Resümee an. Dies schmälert aber weder die Qualität der theoretischen Auseinandersetzung noch die spannenden Einblicke, welche die tiefgehende empirische Untersuchung ermöglicht, insbesondere bezüglich der unterschiedlichen handlungsleitenden Orientierungen von Lehrpersonen und der damit verbundenen sehr unterschiedlich ausgeprägten Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme für die Reduktion von Bildungsungerechtigkeit.