Regine Müller

Professionalität im Wohlfahrtsstaat

Praxeologische Perspektiven auf den Umgang mit Kinderarmut in der Sozialen Arbeit
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023
(336 S.; ISBN: 978-3-7799-7668-4; 48,00 EUR)

Zur Professionalisierung (in) der Sozialen Arbeit werden aktuell sowohl in theoretischen als auch empirischen Hinwendungen Neuausrichtungen eingefordert. Darunter finden sich Bemühungen, professionelles Handeln stärker mit Blick auf gesellschaftsstrukturelle Aspekte zu diskutieren (z.B. soziale Normen, Sehmer 2025 [1], Armut resp. soziale Ungleichheiten, Simon 2023 [2], Demokratie, Oehler 2018 [3] oder Ethnizität, Kuhn 2013 [4]). Zudem wird die in den Begriffen rund um ‚Professionalität‘ angelegte Normativität dahingehend kritisiert, dass Potenziale für Forschungen limitiert werden können. In Publikationen, wie den vorangehend angeführten, wird die Gefahr gesehen, dass eine rein evaluative Beschäftigung mit Fragen des alltäglichen Handelns von Fachkräften motiviert wird.

An diesen Diagnosen knüpft die vorliegende Studie, die zugleich die Dissertationspublikation der Autorin ist, an. Die Frage, „‘inwiefern’ und ‘wie’ im Umgang mit der Programmatik Kinderarmut ‘Professionalität in der Sozialen Arbeit hergestellt wird’“ (11, Hervorh. i. O. kursiv), steht dabei im Mittelpunkt. Diese Ausrichtung macht deutlich, dass das wohlfahrtsstaatliche Arrangement der Sozialen Arbeit in der Herstellung von Professionalität einbezogen werden soll. Der Frage soll empirisch über die Rekonstruktion von Gruppendiskussionen mit Netzwerkkoordinierenden im Bereich Kinderarmut nachgegangen werden.

Mit der praxeologischen Wissenssoziologie geht die Autorin von „‘einem gemeinsamen Erlebniszusammenhang’ professioneller Fachkräfte“ (11, Hervorh. i. O. kursiv) aus. Damit konkretisiert sie die Frage darauf, „inwiefern und wie wohlfahrtstaatliche Programmatiken als Teil der Sozialpolitik in Form von Orientierungsproblemen in der Handlungspraxis professioneller Akteur*innen auftaucht, in welcher Art und Weise auf diese Bezug genommen wird und auf welche Weise in diesem Umgang Professionalität hergestellt wird“ (13). Die Auseinandersetzung mit Kinderarmut stellt somit primär ein analytisches ‚Vehikel‘ dar, durch das die Hervorbringung wohlfahrtsstaatlicher Programmatiken unter Fragen von Professionalität untersucht werden könne (13).

Die neun Kapitel sind nach der Einleitung in drei Abschnitte gegliedert und folgen übersichtlich gestaltet dem Forschungsprozess der praxeologischen Wissenssoziologie respektive der dokumentarischen Methode der Interpretation. Im ersten Abschnitt werden Grundlegungen und forschungsleitende Analyseperspektiven entfaltet (Kap. 2 bis 4), im zweiten Abschnitt Rekonstruktionen hergeleitet und insbesondere typologisch verdichtet (Kap. 5 bis 7) und im letzten Abschnitt (Kap. 8 und -9) werden die Befunde methodologisch fokussiert diskutiert.

Die Auseinandersetzung mit Wohlfahrtsstaatlichkeit und Professionalität (Kap. 2) erfolgt über eine Differenzierung von „Außen- und Innenperspektive“ (16), d.h. es geht einerseits um die Verortung Sozialer Arbeit im Wohlfahrtsstaat und andererseits um disziplinäre Diskurse zur Verhältnisbestimmung von Sozialer Arbeit und Gesellschaft resp. Wohlfahrtsstaat. In diesen Kapiteln (2 und 3) sind die Ausführungen sehr verdichtet und schlaglichtartig, für diejenigen, die die Diskurse kennen, jedoch nachvollziehbar dargestellt. Dies zeigt sich etwa, wenn in legitimatorischer Absicht der praxeologischen Ausrichtung auf Professionalität (zu) überspitzt bilanziert wird, dass „sowohl der professionstheoretische (…) als auch der disziplinäre (…) Diskurs der Sozialen Arbeit als heuristische Folie zur Rekonstruktion von Professionalität ‘nicht’ geeignet [seien], da (…) beide (…) von normativen Prämissen geprägt sind und dazu führen, Professionalität in der Sozialen Arbeit ‘deduktiv’ zu (re-)konstruieren“ (46, Hervorh. i. O. kursiv).

Über die Begriffe Wissen, Reflexion und Gesellschaft wird eine Brücke geschlagen zur Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes (Kap. 3). Darauf erfolgt eine umfassende und anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Forschungsansatz, der – und das ist ein erstes Ergebnis – durch eine „wohlfahrtsstaatliche Programmatik“ (78) erweitert wird. Diese Mehrebenen-Heuristik im Anschluss an professionalisierte (sich professionalisierende) Milieus bei Bohnsack ist besonders spannend, weil ausgearbeitet wird, in welcher Weise Adressierungen wohlfahrtsstaatlicher Programmatiken sowohl bezogen auf die Fachkräfte als auch auf Adressat*innen empirisch berücksichtigt werden können. Die wohlfahrtsstaatliche Programmatik wird für Regine Müller als Normen und Erwartungen im professionellen Handeln virulent (73). Innerhalb der konstituierenden Rahmung können sich daher „auf habitueller Ebene Subjektfiguren in Form unterschiedlicher Modi der Inverhältnissetzung zwischen Aneignungs- und Passungsverhältnissen zeigen“ (76).

Das Herzstück der Studie findet sich in den Falldarstellungen (Kap. 5) und ihrer Typenbildung (Kap. 6). Hier kommt – trotz steigender Komplexität metatheoretischer Auseinandersetzungen in der praxeologischen Wissenssoziologie – das empirische Material nicht zu kurz. Acht Gruppendiskussionen werden in die Auswertung einbezogen. Beteiligt sind sowohl zwischen zwei und fünf „Professionelle der Sozialen Arbeit als auch andere berufliche AkteurInnen (…) in der Sozialen Arbeit“ (86), die tätig sind im „professionellen Handlungsfeld (..) der Netzwerkkoordination zum Thema Kinderarmut“ (77). Insgesamt waren 37 Personen aus 32 Kommunen/kreisfreien Städten einbezogen (86). Leider wird zum Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Programmatiken zu Kinderarmut in den Kommunen überhaupt keine Information gegeben. Der Eingangsimpuls ist offengehalten: „Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an Kinderarmut denken?“ (88) Den methodisch sorgfältig ausgewählten Diskussionspassagen wird genug Raum gegeben, so dass diese Einblicke in die Deutungs- und Handlungspraxis bieten und ermöglichen, Rekonstruktionen in den Falldarstellungen und die sinngenetisch gebildeten Typen (Kap. 6) nachzuvollziehen. Dafür hilfreich sind die im Anhang befindlichen Materialien zur Datenerhebung. Die von ihr herausgearbeiteten Typen benennt die Autorin als „Herstellung verteilungs- und wertaffirmativer Normalität im Wohlfahrtsstaat“ (Typ I), „Vergewisserung eines ungelösten, staatlichen Versorgungs- und Produktionskonfliktes“ (Typ II) und „Stabilisierung der Hegemonie gehobener Mittelklassemilieus“ (Typ III; siehe Übersicht 182-183). Diese drei Typen werden über die drei heuristisch angelegten Ebenen (Mikro-, Meso-, Makroebene) weiter ausdifferenziert. In Kapitel 7 erfolgen weitere analytische Auseinandersetzungen (soziogenetische Interpretation und Korrespondenzanalyse) und im dritten Teil (Kap. 8 und 9) eine gegenstandstheoretisch und methodologisch interessierte Diskussion der Ergebnisse mit einem knappen – auf die praxeologische Wissenssoziologie zugeschnittenen – Ausblick.

Was kann abschließend festgehalten werden? Anhand der vorliegenden Forschungsarbeit lässt sich wunderbar studieren, wie ein metatheoretischer – hier: praxeologischer – Analyserahmen entwickelt und auf ein konkretes Vorhaben bezogen wird. Empfehlen würde ich Lesenden, bei der Typologie zu starten und von da aus einzelnen Fällen zu folgen; und dies eher Fortgeschrittenen oder denjenigen, die sich tiefer mit der praxeologischen Wissenssoziologie auseinandersetzen möchten. Die empirischen Befunde seien dabei nicht nur qualitativ-rekonstruktiv und ungleichheitstheoretisch Forschenden ans Herz gelegt.

Übergreifend fällt die eng gesteckte Grenzziehung der Arbeit auf, die sich in ihrer Anlage ausdrücklich in der praxeologischen Wissenssoziologie verortet, dabei jedoch fast ausschließlich auf interne Diskurse rekurriert und kaum angrenzende Diskurse zur Kenntnis nimmt. In der Arbeit selbst werden mit Bezug auf Nohl selbstkritische Einwürfe aufgegriffen, die eine „‘Unterkomplexität’ in der Anschlussfähigkeit an Begrifflichkeiten anderer übergreifender Paradigmata“ (306, Hervorh. i. O. kursiv) zu bedenken geben. Dies lässt sich auf die vorliegende Studie übertragen. Besonders auffällig ist, dass sich zahlreiche Anschlüsse an erziehungswissenschaftliche und sozialpädagogische Arbeiten anbieten, die spannende Verknüpfungen zugelassen hätten: Neben den Befunden selbst und der eingangs skizzierten professionalitätstheoretischen Kritik trifft dies bspw. auch auf die Hervorbringung von Wohlfahrtsstaatlichkeit durch sozialpädagogische Fachkräfte zu oder auf die Auseinandersetzungen mit Vernetzungsaufträgen (z.B. 77). Die empirischen und theoretisierten Erkenntnisse können den erziehungswissenschaftlichen resp. sozialpädagogischen Diskurs folglich nur bereichern, so dass sich hoffen lässt, dass entsprechende Rückbindungen in Zukunft noch erfolgen.

[1] Sehmer, J. (2025). Sozialpädagogische Subjekt- und Adressierungspraktiken. Ein Ansatz zur Konturierung der ethisch-normativen Ordnungen sozialpädagogischer Praxen. Springer VS.
[2] Simon, S. (2023). Armut, Bildung und Soziale Ungleichheiten. Deutungen und Bedeutungen im Feld der Pädagogik der Kindheit. Springer VS.
[3] Oehler, P. (2018). Demokratie und Soziale Arbeit. Entwicklungslinien und Konturen demokratischer Professionalität. Springer VS.
[4] Kuhn, M. (2013). Professionalität im Kindergarten. Eine ethnografische Studie zur Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Springer VS.

Zur Zitierweise der Rezension
Jessica Prigge (Kiel): Rezension von: Regine Müller: Professionalität im Wohlfahrtsstaat. Praxeologische Perspektiven auf den Umgang mit Kinderarmut in der Sozialen Arbeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023 (336 S.; ISBN: 978-3-7799-7668-4; 48,00 EUR). In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am: 29. April 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/04/professionalitaet-im-wohlfahrtsstaat/