Ledige badische Mütter in Basel im 19. Jahrhundert
Göttingen: Wallstein 2022
(335 S.; ISBN: 978-3-8353-5234-6; 39,90 EUR)
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Kinder, die außerhalb der Ehe geboren wurden, in Mittel- und Westeuropa stark an. Die Zunahme der so genannten Unehelichenquote von ca. 3 bis 4 auf durchschnittlich rund 20 Prozent aller Geburten beschäftigte nicht nur die Zeitgenossen, sondern ist seit den 1970er Jahren auch ein etablierter Gegenstand historischer Forschung, etwa im Bereich der Historischen Demographie, der Sozial-, Frauen- und Geschlechtergeschichte. Dabei wurde unter anderem nach den Ursachen für diese Entwicklung gefragt, wobei verschiedene Erklärungsmöglichkeiten angeboten wurden. Karin Orth möchte die in diesem Zusammenhang formulierte These, dass die durch Industrialisierung, Urbanisierung und Mobilität geprägten „neuen ökonomischen Möglichkeiten und Zwänge zur Erschütterung des [traditionellen, SKB] ländlichen Systems der Eheanbahnung geführt hätten“ (9), empirisch überprüfen. Im Zentrum ihrer Studie stehen daher „Strukturen und Formen der Nichtehelichkeit in den unterbäuerlichen und unterbürgerlichen Schichten“ (9-10) des südwestlichen Großherzogtums Baden einschließlich der Stadt Basel als einer Region, die im europäischen Vergleich sehr hohe Illegitimitätsraten aufwies.
Orth verfolgt einen regional- bzw. mikrohistorischen Ansatz, indem sie exemplarisch eine Gruppe von rund 800 ledigen Müttern aus Baden untersucht, die nach Basel migrierten und dort in den 1860er und 1870er Jahren insgesamt 835 Kinder zur Welt brachten. Ihr Interesse gilt sowohl den Strukturen, die uneheliche Geburten begünstigten, als auch den Geschichten der Frauen und der Frage, was es für sie bedeutete, Nichtehelichkeit zu leben. Dazu hat sie eine beeindruckende Anzahl an gedruckten und ungedruckten Quellen akribisch ausgewertet, zu denen unter anderem Protokolle von Ortsbereisungen und Kirchenvisitationen sowie Ehe- und Kriminalgerichtsakten gehören. Auch wenn keine Ego-Dokumente der ledigen Mütter vorliegen, werden die obrigkeitlichen Überlieferungen reflektiert als „Sonden“ (57) in die Familien- und Reproduktionsverhältnisse der Zeit sowie ihre Wahrnehmung genutzt.
Die Studie ist sehr gut lesbar, was auch am überzeugend gewählten Aufbau liegt. Die Leser:innen verfolgen den Weg der zwischen 1830 und 1860 geborenen Frauen des unterbäuerlichen Milieus aus den ländlichen badischen Regionen des Markgräflerlands und des Hotzen- und Klosterwalds nach Basel und erfahren dann, wie dort das Anbahnen von „Männerbekanntschaften“, Schwangerschaft und Geburt sowie der weitere Lebensweg verliefen. Orth ordnet ihre Ergebnisse dabei konsequent in den Forschungsstand ein und macht deutlich, inwiefern ihre Fallstudie vorliegende Ergebnisse bestätigt oder davon abweicht.
Im ersten Teil geht es zunächst um die Ausgangslage in Baden, insbesondere um die Rahmenbedingungen bzw. Faktoren, die für uneheliche Geburten eine Rolle spielten. Dazu zählt Orth das Heimat-, Ehe- und Erbrecht, religiöse Traditionen sowie die obrigkeitliche Haltung gegenüber der Ehe. So galt dort beispielsweise zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und der Gründung des Kaiserreiches ein restriktives Verehelichungsrecht (35-36). Die Verfasserin kommt zu dem Schluss: „In beiden Regionen eigneten sich die betrachteten Frauen und Männer bzw. ganze Familien Nichtehelichkeit als Lebensform an, um unter den bestehenden Bedingungen und unter den sie einschränkenden rechtlichen, politischen und ökonomischen Zwängen Sexualität leben und Kinder haben, eine Familie gründen zu können“ (97). Die dabei ausgeprägten Formen und Muster wurden an die nächste Generation weitergegeben und bei der Wanderung nach Basel mitgenommen.
Der zweite Teil widmet sich dann der in vielerlei Hinsicht prekären Lebenssituation der badischen Arbeitsmigrantinnen in Basel. Sie waren überwiegend als Fabrikarbeiterinnen und im Gesindedienst tätig; ihr Rechtsstatus als „Aufenthalterinnen“ war an die Dauer des Arbeitsvertrags gebunden. Die Männer, die sie bei der Arbeit, im Wohnviertel oder bei Vergnügungsveranstaltungen kennenlernten, gehörten ebenfalls der Unter- oder unteren Mittelschicht an, waren größtenteils mit 20 bis 30 Jahren in einem ähnlichen Lebensalter und stammten teilweise ebenfalls aus Baden. Bis 1875 stand vor- und außereheliche Sexualität in Basel unter Strafe; außereheliche Schwangerschaften mussten der Obrigkeit gemeldet werden. Die Väter entzogen sich vielfach der Verantwortung, während die Frauen vor dem Ehegericht wohl auch aus prozessstrategischen Gründen mehrheitlich angaben, der Mann habe ihnen ein Eheversprechen gegeben.
Im Hinblick auf die schwierige wirtschaftliche Situation, insbesondere die Angst vor dem Verlust der Arbeitsstelle, kam es zu Abtreibungen und Kindsmorden. Dabei spielte unter anderem eine Rolle, dass die Frauen in der badischen Heimat und ihren Familien keinen „Zufluchtsort“ (219) sahen und, vor allem wenn Eltern und Geschwister bereits ein uneheliches Kind versorgten, nicht mit Unterstützung rechneten. Die Geburten, deren Umstände einen großen Teil der Studie ausmachen, fanden entweder im häuslichen Umfeld oder im Bürgerspital statt. Letzteres wurde im 19. Jahrhundert ausgebaut und professionalisiert, was sich unter anderem an der Einrichtung einer eigenen Abteilung für Geburtshilfe 1868 zeigte. Für die hochmobile Gruppe der badischen Arbeitsmigrantinnen ohne ein ausgeprägtes soziales Netz vor Ort bot das Spital einerseits bei der Nutzung von „Freibetten“ die Möglichkeit der kostenlosen Versorgung bei und nach der Entbindung. Als Gegenleistung mussten sich die ledigen Mütter jedoch andererseits als Untersuchungsobjekte für die praktische Ausbildung von Medizinstudenten zur Verfügung stellen.
Orth verfolgt schließlich in einem letzten Schritt den weiteren Lebensweg der Frauen nach der Geburt. Die meisten kehrten in ein Arbeitsverhältnis zurück und behielten ihr Kind nicht bei sich. Gängige Praxis war es, das Kind gegen „Kostgeld“ bei Pflegepersonen unterzubringen, bis es mit sechs oder sieben Jahren selbst Geld verdienen konnte. Die meisten Badenerinnen blieben dauerhaft ledig, was aber nicht ausschloss, dass sie in „wilder Ehe“ oder einer nicht genauer davon unterschiedenen „nicht obrigkeitlich legitimierten Verbundenheit“ (273) mit einem Mann eine langfristige Beziehung führten und teilweise mehrere gemeinsame Kinder hatten. Stammten die Paten aus der Familie des Vaters und der Mutter, wertet Orth dies als Indiz dafür, dass diese die jeweilige Verbindung akzeptierten. Denn die Heirat wurde vielfach durch Ehehindernisse wie fehlende finanzielle Absicherung und hohe Kosten unterbunden.
In ihrem Fazit kommt Orth zu dem Ergebnis: „Die hier vorgestellten Frauen hielten für ihre Familiengründung eine obrigkeitliche ‚Legitimierung‘ für nicht erforderlich: Sie lebten in Basel Nichtehelichkeit als Normalität“ (287). Einen wesentlichen Grund dafür sieht sie in einer entsprechenden Sozialisation der Frauen in ihren badischen Herkunftsfamilien. Dementsprechend weist sie zwar auf die Strukturen und die „sich entziehenden Männer“ (297) als Faktoren für uneheliche Geburten hin, stellt aber den Eigen-Sinn und die agency der ledigen Mütter in den Vordergrund. Diese nutzten ihre Handlungsmacht, um sich „mit den Verhältnissen in Basel zu arrangieren und in diese aktiv einzugreifen“ (297). Orth zeigt dies in zahlreichen, von ihr so genannten Miniaturen, in denen sie die gesamten Lebenswege oder einzelne Stationen der von ihr untersuchten badischen Frauen minutiös nachzeichnet. Die mit viel Mühe zusammengetragenen Miniaturen bilden eine große Stärke der Studie, indem sie detailgenaue Einblicke in die Lebenswelten lediger Mütter aus den Unterschichten ermöglichen. An einigen wenigen Stellen (z.B. 244ff.) findet sich jedoch auch eine Aneinanderreihung vieler breit ausgeführter Beispiele, und es wird teilweise sehr weit ausgeholt, etwa wenn bei der Darstellung des Markgräflerlands und des Hotzen- und Klosterwalds bis in die Frühe Neuzeit zurückgegangen wird (Kap. 2). Damit gelingt es Karin Orth, den Forschungsstand um wichtige Facetten zu erweitern. Das gilt insbesondere für die Einblicke in die Lebenswelten der Frauen und ihre Wahrnehmung im Hinblick darauf, was es für sie bedeutete, Nichtehelichkeit zu leben. Insgesamt legt sie eine quellengesättigte, lesenswerte Studie vor.