Christoph Bressler

Lehrende und Lernende: eine asymmetrische Beziehung

Eine rekonstruktive Studie zu Erfahrungen und habitualisierten Orientierungen von Lehrpersonen
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(299 S.; ISBN: 978-3-7815-2564-1; 46,00 EUR)

Die Ausgestaltung der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden in der Schule wird im öffentlichen wie auch im Forschungsdiskurs als zentrale Herausforderung für Lehrpersonen diskutiert. In Formeln wie derjenigen einer ‚Begegnung auf Augenhöhe‘ wird zum einen auf die asymmetrische Beziehung zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen (im Folgenden: LSB) als Merkmal verwiesen. Zum anderen wird dabei als angemessene Ausgestaltung der Asymmetrie ein Umgang mit ihr entworfen, der dieser gerade entgegenarbeitet. ‚Symmetrisierungsappelle‘ wie diese stehen in einem Spannungsverhältnis zu Thesen aus dem Forschungsdiskurs, die auf die Asymmetrie als unhintergehbares Merkmal pädagogischer Beziehungen verweisen (11-12). Trotz der hohen Bedeutung, die der asymmetrischen Struktur der LSB in verschiedensten Diskursen beigemessen wird, liegen bisher kaum konzeptionelle Bemühungen vor, diese systematisch zu bestimmen. In der hier rezensierten Dissertationsschrift widmet sich Christoph Bressler diesem Desiderat (13).

Gewissermaßen als Herzstück der Studie wird im zweiten Kapitel eine systematische Bestimmung der asymmetrischen Beziehungsstruktur zwischen Lehrenden und Lernenden in Form einer theoretisch-heuristischen Annäherung vorgeschlagen. Grundlegend knüpft Bressler dabei an eine Unterscheidung in zwei Asymmetriedimensionen (Wissensdimension und Machtdimension) nach Werner Helsper und Sabine Reh [1] an und differenziert hierfür weitere sog. Asymmetriefacetten aus. Hierfür liefern strukturtheoretische Bestimmungsansätze pädagogischer Professionalität sowie systemtheoretische Überlegungen zur pädagogischen Kommunikation und zum Interaktionssystem Unterricht die wesentlichen Impulse, die überzeugend systematisiert und für das Erkenntnisinteresse fruchtbar gemacht werden. Bei der Darstellung der einzelnen Facetten geht es Bressler zum einen darum, genauer zu bestimmen, worin deren Bearbeitungsbedürftigkeit besteht, zum anderen befragt er sie dahingehend, ob sie sich als konstitutiv für die LSB erweisen. Besonders gelungen ist, dass dabei nicht affirmativ an große soziologische Thesen angeschlossen wird, sondern diese überzeugend modifiziert werden. Eine interessante Perspektive eröffnet beispielsweise die Auseinandersetzung mit der bekannten These Niklas Luhmanns zum Erziehungssystem, dass dieses unweigerlich „Selektion“ – Bewertung und Auslese – notwendig mache [2]. Hier führt Bressler die Unterscheidung zwischen ‚aneignungsprüfender‘ und ‚karrierewirksamer Selektion‘ ein, die bei Luhmann nicht scharf voneinander getrennt werden. Dabei erweist sich erstere, verstanden als ein Interesse daran, ob die Aneignung des Vermittelten ‚richtig‘ erfolgt, als konstitutiv für das Handeln mit pädagogischer Absicht. Die zweite jedoch, die karrierewirksame Selektion, verstanden als die (formalisierte) Bewertung von Leistung zum Zwecke der Verteilung von Chancen, sei nicht notwendig mit pädagogischer Kommunikation verbunden (2.2.4). Die theoretisch-heuristische Annäherung ist somit schon für sich genommen lesenswert. Sowohl für Leser:innen, die sich für den verhandelten Gegenstand interessieren, als auch für solche, die ein gelungenes Beispiel einer fundierten Auseinandersetzung mit Struktur- und Systemtheorie rezipieren möchten.

Im dritten Kapitel stellt Bressler dann „keinen Forschungsstand im üblichen Sinne“ (63) vor, da bisher kaum Studien vorliegen, deren Forschungsinteresse sich ausdrücklich auf den Umgang von Lehrpersonen mit der Asymmetrie in ihrer Komplexität richten. Stattdessen arbeitet er entlang der in der Heuristik herausgestellten Asymmetriefacetten Befunde bestehender Studien heraus, die sich indirekt als instruktiv für deren Betrachtung erweisen (63). Für die einzelnen Facetten der Heuristik ergeben sich vielfach Anschlussmöglichkeit aus den Bereichen der Schul-, Unterrichts- und Lehrpersonenforschung. Dennoch bekräftigt die Analyse das die Dissertation grundierende Desiderat, die Asymmetrie systematisch in seiner Komplexität zu betrachten (127).

Die empirische Studie der Arbeit zielt auf die handlungsleitenden Orientierungen von Lehrkräften im Umgang mit der Asymmetrie (129). Insgesamt wurden hierfür acht Gruppendiskussionen erhoben, von denen vier das Basissample bilden, die mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet wurden. Die Herleitung der methodologischen und methodischen Anlage der Studie ist durchgehend plausibel und gut verständlich geschrieben. Die Befunde werden in Form von Fallportraits (Kap. 5) und einer sinngenetischen Typologie präsentiert (Kap. 6). In der Typologie werden die verschiedenen Umgangsformen der Lehrpersonen mit der Asymmetrie in zwei Dimensionen zueinander relationiert. Als Dimensionen dienen Gemeinsamkeiten, die alle Gruppen in der Auseinandersetzung mit der Asymmetrie teilen. So setzen alle Gruppen in ihrer beruflichen Handlungspraxis ihre ‚superiore Position‘ selbstverständlich voraus. Hier gibt es zum einen solche, die die Inanspruchnahme der superioren Stellung an persönlichen Interessen und Bedürfnissen orientiert verhandeln (Typus: ‚Selbstbezüglichkeit‘) und zum anderen solche, die sich bei der Inanspruchnahme daran orientieren, was sie als ‚beruflich notwendig‘ erachten (Typus: ‚Bezug auf das beruflich Notwendige‘). Die zweite Gemeinsamkeit basiert auf der Wahrnehmung der Asymmetriegestaltung als kokonstruktiven Prozess, also als einen, der abhängig von der Interaktion mit den Lernenden ist. Hierbei lässt sich zwischen einem ‚oppositionellen‘ und einem ‚komplementären‘ Typus unterscheiden. Ersterer erlebt die Interaktion mit den Lernenden und die Inanspruchnahme einer superioren Position als konfliktreich, als etwas, das erkämpft werden muss. Zweiterer verhandelt die Interaktion als grundsätzlich harmonisch. Die Asymmetrie bildet hier einen stabilen, von den Lernenden akzeptierten Fixpunkt.

Im abschließenden Kapitel werden die Befunde auf unterschiedlichen Ebenen weiterführend diskutiert. Dabei wird vor allem der Ertrag der Unterscheidung zwischen ‚Selbstbezüglichkeit‘ und ‚Bezug auf das beruflich Notwendige‘ hervorgehoben. So zeigt sich zunächst, dass dieser Unterschied auch die andere Dimension, die Wahrnehmung der Interaktion mit den Lernenden, überlagert, also von ihr geprägt ist (7.1). Ähnliches zeigt sich auch mit Blick auf die Relationierung von Empirie und Heuristik: Die durch die Heuristik angestoßene Sensibilisierung für eine mögliche Facettenabhängigkeit bei der Bearbeitung der Asymmetrie zeigt sich gerade nicht. In der beruflichen Handlungspraxis nehmen Lehrkräfte die Asymmetrie als zusammenhängendes Ganzes wahr und die unterscheidbaren Facetten weisen hinsichtlich des handlungspraktischen Umgangs mit ihnen eine Homologie auf. Dies führt Bressler zu der „These einer habituell-handlungspraktischen ‚Amalgamierung‘ der Asymmetrie“ (246) zusammen (7.2). Mit Blick auf andere dokumentarische Studien, die zwar andere Praxisdimensionen des Lehrer:innenhandelns beleuchten, jedoch mit Blick auf die Unterscheidung zwischen ‚Selbstbezüglichkeit‘ und ‚Bezug auf das beruflich Notwendige‘ bemerkenswerte Parallelen aufweisen, deuten sich für Bressler Erträge über das spezifisch gegenstandtheoretische Interesse der Studie hinaus an. So können die Befunde weitere Forschung dazu anregen, auf die Suche nach grundlegenden, die Handlungspraxis von Lehrpersonen insgesamt umspannenden Handlungsprinzipien zu gehen (7.3).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der in der Dissertationsschrift interessierende Analysegegenstand – die Asymmetrie der LSB in seiner Komplexität – sowohl theoretisch in Form der ausgearbeiteten Heuristik, als auch empirisch in Form der rekonstruierten Typologie, fundiert geschärft wurde. Das Buch ist insofern zum einen empfehlenswert für Leser:innen, die ein gelungenes Beispiel hinsichtlich der Verknüpfung theoretischer und empirischen Auseinandersetzungen in einer Dissertationsschrift rezipieren wollen. Darüber hinaus liegen innovative Erträge der Arbeit in der weiterführenden Diskussion der Befunde, von der sich die dokumentarische Forschung (zu Lehrpersonen) anregen lassen kann.

[1] Helsper, W. & Reh, S. (2012). Nähe, Diffusität und Asymmetrie in pädagogischen Interaktionen. Herausforderung pädagogischer Professionalität und Möglichkeitsräume sexualisierter Gewalt in der Schule. In W. Thole, M. Baader, W. Helsper, M. Kappeler, M. Leuzinger-Bohleber, S. Reh, & C. Thompson (Hrsg.), Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik (S. 265–290). Barbara Budrich.
[2] Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Suhrkamp.

Zur Zitierweise der Rezension
Linda Schneider (Halle): Rezension von: Christoph Bressler: Lehrende und Lernende: eine asymmetrische Beziehung. Eine rekonstruktive Studie zu Erfahrungen und habitualisierten Orientierungen von Lehrpersonen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023 (299 S.; ISBN: 978-3-7815-2564-1; 46,00 EUR). In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am: 29. April 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/04/lehrende-und-lernende-eine-asymmetrische-beziehung/