Ditzingen: Philipp Reclam jun. 2024
(100 S.; ISBN: 978-3-15-020714-7; 12,00 EUR)
In der Reclam-Reihe ‚100 Seiten‘ werden sehr unterschiedliche Themen von ‚Hannah Arendt‘ über ‚Menschenrechte‘ bis hin zu ‚Yoga‘ erörtert. Die Gestaltung des Einbandes ist wiedererkennbar. Immer wird eine Word Cloud mit benachbarten Begriffen und ein typisches Bildsymbol dargestellt (beim ‚Quanten‘-Band ist es eine Katze und bei ‚Sherlock Holmes‘ eine Pfeife). Beim ‚Klassismus‘-Band ist als Symbol eine Leiter abgebildet. Dass der Reclam-Verlag Marlen Hobrack als Autorin verpflichtete, ist kein Zufall, da sie mit ihrem Sachbuch ‚Klassenbeste‘ (2022), aber in gewisser Weise auch mit ihrem Roman ‚Schrödingers Grrrl‘ (2023) das Thema für den deutschen Sprachraum kenntnisreich und innovativ bearbeitet hat. [1] Mit dem Zitat „Du kannst die Frau aus der Arbeiterklasse holen, aber du kannst die Arbeiterklasse nicht aus der Frau holen“ auf dem Cover von ‚Klassenbeste‘ ist der thematische Zusammenhang auf den Punkt gebracht. Es geht bei Klassismus nicht nur um die Zugehörigkeit zu einem ökonomisch geprägten Klassenkonzept, sondern es geht um die Einschreibungen und Zuschreibungen, die solche Klassenzugehörigkeiten mit sich bringen und die Thematisierung von darauf sich beziehenden Diskriminierungen.
(I) Klassenbeste
Aus autobiografischen Reflexionen soziologische und politische/ökonomische Einsichten zum Leben von Menschen in der Arbeiterklasse zu gewinnen, ist seit Autor:innen wie Didier Eribon, Edouard Louis, Annie Ernaux oder auch JD Vance ein etabliertes Verfahren, dessen sich auch Hobrack in ‚Klassenbeste‘ bedient. Besonders ist dabei allerdings, dass sie nicht sich selbst ins Zentrum rückt, sondern ihre Mutter und damit den Fokus auf die Arbeiterin legt. Ihre Beobachtung, dass in den autosoziobiografischen Meistererzählungen vor allem von dem männlichen Arbeiter ausgegangen wird, die Frau nur als Mutter und Frau des Arbeiters in den Blick kommt, werde der Wirklichkeit der Arbeiterin nicht gerecht, die Hobrack deshalb ins Zentrum der Analyse rückt. Dass diese Arbeiterin ihre Mutter ist, die selbst wiederum aus einem Arbeiterhaushalt kommt, der von Hobracks Großmutter geprägt ist, ergibt einen Drei-Generationen-Korpus dessen spezifische Situiertheit im Osten Deutschlands zwar für die gesellschaftliche Stellung und Akzeptanz der Arbeiterin bedeutsam ist, gleichwohl aber auch verallgemeinerbare Aussagen über die Rolle und Funktion des Arbeiterinnenhaushalts zulässt. So zum Beispiel die Einsicht, dass, auch wenn die zeitweise vorhandenen Männer und Väter patriarchale Attitüden und Verhaltensweisen an den Tag legen, diese in der von der Arbeiterin geprägten Familie nicht mehr material unterlegt sind und die Abwesenheit des Mannes für diese Familienkonstellation keine substanzielle Einschränkung, in vielem aber eine Erleichterung, bedeutet. Hobracks Rekonstruktionen sind dabei alles andere als sozialromantisch. Sie schildert präzise, wie Armut, Gewalt, Kinderarbeit selbstverständlich sind. Sie zeichnet sensibel Klassenunterschiede auch in einer Gesellschaft nach, deren Protagonist:innen sie auf dem Weg zur Klassenlosigkeit wähnten, denn durch das kleinkriminelle Vorstrafenregister ihres Großvaters war die Familie nicht wirklich Mitglied der als ‚führend‘ titulierten Arbeiterklasse, sondern wurde als dem „arbeitsscheuen Milieu“ (Klassenbeste, 35) zugerechnet, einer Art Subproletariat, obwohl dieses Leben schon von früher Kindheit an von körperlicher Arbeit geprägt war. In der Analyse dieses ‚Aufstieges‘ über drei Generation veranschaulicht Hobrack ihre These, dass „die Ausgrenzung, die die Familie meiner Mutter in der DDR erfuhr, […] über den Begriff des Klassismus hinaus erklärungsbedürftig [ist] und […] dass wir den marxistischen Standpunkt und identitätspolitische Überlegungen nicht in Abgrenzung voneinander denken, sondern ihre jeweiligen Perspektiven vereinen sollten“ (Klassenbeste, 35). Identitätspolitische Differenzkategorien, wie vor allem Gender, Ost-West oder Alter, nicht gegen klassentheoretische Perspektiven auszuspielen, sondern sie als einander ergänzend analytisch zu verwenden, macht sich die Autorin zur Aufgabe und zeigt, wie ausgesprochen produktiv diese synoptische Perspektive ist.
An dieser Stelle kann nur auf ein Beispiel eingegangen werden, das als erziehungswissenschaftliche Kategorie hilfreich ist. Für das Konzept der bürgerlichen Familie in den westlichen Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts hatte sich der Begriff der ‚Helikoptermütter‘ etabliert, für eine Praxis, in der Eltern (und insbesondere Mütter, die in der Familienphase keiner Erwerbsarbeit nachgingen) beständig über ihre Kinder wachen, sie zur Schule und zu zahlreichen Nachmittagsveranstaltungen fahren und auch dort präsent sind und so den Kindern kaum selbständige Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Hobrack prägt demgegenüber den Begriff der „Fallschirmmütter“ (Klassenbeste, 56ff.), um berufstätige Mütter zu beschreiben, deren Kinder nach der Schule allein nach Hause kommen (Schlüsselkinder), dann zum Spielen auf den Hof des Blocks gehen, wo günstigstenfalls ein Fenster zu einer Wohnung geöffnet ist, und wenn der Lärm zu laut wird, eine erwachsene Person aus dem Fenster schaut, um zu sehen, was die Ursache ist. „Fallschirmmütter“ sind in der Regel abwesend, die Kinder in Kita, Schule, Hort und für sich selbst verantwortlich, aber in herausfordernden Situationen sind solche Fallschirmmütter zur Stelle und unterstützen ihre Kinder. (Das im Unterschied zu dem Aufwachsen von Hobracks Mutter, die, nachdem sie sich einen Arm gebrochen hatte, von ihrer Mutter noch verprügelt wurde.) Fallschirmmütter sind nicht weniger liebevoll als Helikoptermütter, müssen aber einer Erwerbsarbeit nachgehen und können sich keine Au-pairs oder Kindermädchen leisten. Eine Infrastruktur von Kinderkrippe, Kindergarten, Schulhort erleichtert solch ein Fallschirmmutterkonzept, ist aber nicht seine Bedingung.
(II) Klassismus
Auch in ihrem Klassismus-Band bezieht sich Hobrack auf die eigene Familie als Referenz und macht das Konzept damit ausgesprochen plastisch. Das erste Kapitel ‚Wrestling und Eistorte‘ setzt ein mit dem Freizeitverhalten in ihrer Herkunftsfamilie. Wenn Grundschulkinder spätabends, statt zu schlafen, mit ihrer Mutter vor dem TV sitzen, die Wrestler anfeuern und Eistorte in sich reinstopfen, „da muss man sich doch nicht wundern, wenn nichts aus diesen Kindern wird!“ (Klassismus, 1) Mit dieser Szene verdeutlicht Hobrack, wie Klassismus wirkt: „Klassismus ist die Benachteiligung oder Abwertung einer Person aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit“ (Klassismus, 2). Dies ist jedoch nur der Einstieg in einen komplexeren Verweiszusammenhang, weil das Freizeitverhalten ja nicht zwingend etwas mit einer ökonomischen Klassenzugehörigkeit zu tun haben muss.
Hobrack begründet in dem Buch ihre These, dass Klassismus nicht einfach das ist, was die anderen, womöglich „die da oben, erzeugen oder für ihre Zwecke nutzen“ (Klassismus, 4), er stecke vielmehr in uns allen, was das ‚unlearning‘“ des Klassismus nicht einfacher mache, insbesondere in Überschneidungssituationen, wenn z.B. feministische Frauen über Frauen in der Arbeiterklasse sprechen. Weil Feminismus ein Mittelschichtphänomen war und Hobrack, Helmut Schelsky zitierend, die Bundesrepublik (alt) als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Klassismus, 5) beschreibt, blieb nicht nur in Deutschland der Klassismus-Begriff lange marginalisiert. Während rassistische Konflikte präsent sind, konnten klassistische Zusammenhänge in Wohlfahrtsstaaten lange verdrängt werden, insbesondere seit dem in den 1970er Jahren mit der Bildungsexpansion der soziale Aufstieg qua Bildung auch für Kinder aus Arbeiterfamilien möglich schien. Dass diese Möglichkeit aber nicht zu einer gleichberechtigten Teilhabe führte, zeigten erst die PISA-Untersuchungen und machten damit einen wesentlichen Teil des PISA-Schocks aus, der darin bestand, dass die Klassenzugehörigkeiten sich so deutlich in den Bildungschancen niederschlagen. Hobrack sieht, dass der Klassengegensatz „im 21. Jahrhundert in anderer Form erscheint als im 19. oder 20. Jahrhundert, heißt eben nicht, dass es ihn nicht mehr gibt“ (Klassismus, 6). Klassismus ist aber mehr und anderes als Klassenzugehörigkeit. Es geht um die Zuschreibungen, die mit dieser Klassenzugehörigkeit verbunden sind. Im Sinne der meritokratischen Logik wird die jeweilige Performanz den Individuen oder der Leistungsfähigkeit und Bereitschaft ihrer Eltern zugeschrieben. Insofern hat das Klassismuskonzept ganz direkt mit pädagogischen Zusammenhängen zu tun, weil es immer auch um die Leistungsfähigkeit in der Schule geht, die Kinder mit dem Vornamen ‚Chantal‘ nicht haben könnten (Klassismus, 12). Das Buch liest sich auch deshalb mit so viel Gewinn, selbst für diejenigen, die sich im Thema auskennen, weil es immer wieder mit überraschenden ‚Fun Facts‘ aufwartet, so z.B. der, dass es an der Universität Leipzig eine Namensberatungsstelle gibt, die Eltern auch dazu berät, wie die möglichen Vornamen ihrer Kinder gesellschaftlich wahrgenommen werden (Klassismus, 12).
Dass Klassismus etwas anderes ist als Klassenzugehörigkeit, macht Hobrack wieder am Beispiel ihrer Mutter deutlich, die zwar formal durch die Übernahme in den Beamtenstatus von der Arbeiterklasse in den Mittelstand wechselte, aber dennoch nicht nur mental „eine Frau ihrer Klasse“ (Klassismus, 13) blieb. Hobrack arbeitet heraus, dass die Klassen nicht trennscharf voneinander zu unterscheiden sind, sondern es Überschneidungsmengen gibt. Der Versuch, klassistische Begriffe zu vermeiden (z.B. Unterschicht), bedeute nicht, dass die damit verbundenen Stereotype nicht vorhanden seien. Sie könnten entweder in der Äußerung unterdrückt oder, wie Hobrack an einer Kolumne Jan Fleischauers demonstriert, als mutige Entbergung einer versteckten Wahrheit thematisiert werden.
Die verwendeten Begriffe Mittelstand/Mittelschicht z.B. problematisiert Hobrack sogleich wieder und zeigt, dass sie mit der ökonomischen Klassentheorie wie mit den soziologischen Milieukonzeptionen gut vertraut ist. Sie diskutiert in diesem Zusammenhang auch die Konzeptionen von Reichtum, bleibt allerdings fokussiert auf die Zusammenhänge, die mit einer Herkunft aus der Arbeiterklasse, resp. der Klasse der Arbeitslosen verbunden sind. Diese ‚feinen Unterschiede‘ arbeitet sie, wiederum illustriert am eigenen Beispiel, auch an der scheinbar homogenen Gesellschaft der DDR heraus.
In dem Kapitel ‚Klassismus ohne Klassenkampf‘ diskutiert Hobrack dann den Zusammenhang zwischen politisch-ökonomischen Klassenkonzeptionen und dem Klassismus-Begriff und zeigt die Verweiszusammenhänge auch hier auf, zeigt aber auch den Mehrwert des Klassismuskonzepts, das über die reine ökonomische Klassenzugehörigkeit hinausgeht. Dass Hobrack dabei auch das eigene Verfahren der Autoethnografie kritisch beleuchtet und die Gefahr einer ‚Therapiegemeinschaftsfalle‘ beschreibt, macht für sie die kritische Rückbindung an theoretische und empirische Einsichten notwendig. Dabei hält Hobrack an marxschen Unterscheidungen wie der zwischen Arbeiterklasse und der Klasse der Besitzenden fest, ohne die historischen Veränderungen und Entwicklungen seit dem Europa des 19. Jahrhunderts zu verkennen, wie z.B. identitätspolitische Einsichten. Wie in ‚Klassenbeste‘ auch plädiert sie für eine ergänzende Perspektive, in der Klassentheorie und Identitätspolitik nicht gegeneinander stehen. Das wird in der Auseinandersetzung mit Klassismus besonders deutlich, weil die Klassenzugehörigkeit sich qua Habitus in die Körper einschreibe (Klassismus, 38). Auch Bourdieus Kapitaltheorie wird so zu einem wesentlichen Baustein, mit dem Klassismus erläutert werden kann. Was in der ersten Hälfte des Buches theoriebezogen erarbeitet worden ist, wird in der zweiten Hälfte an sehr unterschiedlichen Beispielen erhellend illustriert und damit aber noch einmal neu gewendet. Dabei wird auch deutlich, dass die mit den Klassen verbundenen Stereotype sehr unterschiedlich sind. Die Analyse einer englischen Fernsehserie über die Nöte der Upperclass ist da ebenso erhellend wie Bilder von Wohnungseinrichtungen oder die Schilderung alltäglicher Situationen von Armut betroffener Personen, die deutlich machen, dass „klassistische Vorurteile […] so fest verankert sein [können], dass sie die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sprengen“ (Klassismus, 60).
Das letzte Kapitel verspricht einen ‚Ausblick‘ zu geben, was hier bedeutet, es ist auf der Suche nach Schritten, die Klassismus überwinden. Mit Bewusstmachen von klassistischen Praxen sei das nicht getan, aber das ist eine wesentliche Voraussetzung. Ein Schritt, um Klassismus zu begegnen, sei aufzuhören, die eigenen Privilegien zu checken. Ein anderer, sich eher zu organisieren, als sich zu therapieren, was auf die oft mit Klassismus verbundene Scham zielt, deren Artikulation dann ambivalent sei, wenn deren Benennung lähmt, statt aktiviert. Und auch das Idealisieren von Menschen aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit ist für Hobrack keine Lösung, sondern eine Art umgekehrter Klassismus und damit aber eben auch Klassismus. „Alle Vorurteile beruhen auf der Idee, dass das Fehlverhalten einer Person repräsentativ für das Verhalten der gesamten Gruppe ist. Man muss gegen diese Annahme argumentieren, statt so zu tun, als seien alle Angehörigen der Arbeiter- oder Armutsklasse über jeden moralischen Zweifel erhaben.“ (Klassismus, 100)
[1] Weil ‚Klassenbeste‘ in der EWR noch nicht besprochen wurde, der Klassismus-Band aber immer wieder darauf verweist, soll es in dieser Rezension berücksichtigt werden.