Analysen und didaktische Impulse
Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2024
(174 S.; ISBN: 978-3-8474-3099-5; 46,00 EUR)
Die Herausgeber:innen des Bandes fassen den 7. Oktober 2023, den Tag des Überfalls der Hamas, als „historischen Einschnitt“ auf (7), durch den der Nahostkonflikt an Relevanz für Bildungsinstitutionen gewonnen hat. Sie weisen auf das „Missverhältnis“ (8) zwischen gesellschaftlicher Bedeutung und pädagogischer Bearbeitung hin. Die Konzeption des Bandes erfolgte allerdings vor diesem Zeitpunkt.
Insbesondere für schulische Zusammenhänge gilt, dass eine genauere Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen von Antisemitismus lange zu kurz gekommen ist. Demgegenüber bietet die außerschulische politische Bildung seit etwa zwanzig Jahren Konzepte für die Pädagogik gegen Antisemitismus. Diskutiert wird hier zugleich der „Wandel des bundesdeutschen staatlichen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses als Migrationsgesellschaft“ (11).
Der Band ist in zwei Teile gegliedert. Unter „wissenschaftliche Perspektiven“ werden der Antisemitismusbegriff und die damit verbundenen Charakteristika des israelbezogenen Antisemitismus entfaltet. Unter „Praxisperspektiven“ werden Projekte aus der Jugendarbeit und dem Schulunterricht vorgestellt und eingeordnet.
Für den wissenschaftlichen Teil bietet das Interview mit dem Soziologen und Historiker Thomas Haury grundlegende Einsichten. Aus der zionistischen Besiedlung Palästinas entwickelte sich ein „nationaler Realkonflikt“ (23), der die Entgegensetzung von „palästinensischem Volk“ und Juden/Jüdinnen/Israel herstellte. Der Antisemitismus richtete sich zunächst gegen den Zionismus und nach der Staatsgründung gegen Israel. Historisch und gegenwärtig ist Antisemitismus geprägt von einem positiven nationalen Selbstbild und durch ein „spiegelbildlich dazu entworfenes antijüdisches Feindbild“ (25), demzufolge alles Jüdische böse sein muss.
Haury versteht israelbezogenen Antisemitismus nicht als eigenen Typus, sondern im klassischen, sekundären, marxistisch-leninistischen wie islamistischen Antisemitismus „mit inbegriffen“ (29). Juden und Jüdinnen gelten in allen diesen Formen als antagonistische Feinde jeder Identität. Viele Elemente wie das Gut-Böse-Denken, Täterprojektionen und ein diffuses Gefühl von Überforderung angesichts der modernen komplexen Welt sind Bestandteile eines Alltagsdenkens, die nicht antisemitismusspezifisch sind, doch können sie für antisemitische Artikulationen genutzt werden.
Zu Beginn ihrer Ausführungen zur Verankerung der beiden Themenaspekte israelbezogener Antisemitismus und Nahostkonflikt in schulischen Curricula halten Kai E. Schubert und Christoph Wulf fest, dass aktuelle Abwertungen des Staates Israel „auf judenfeindlichen Motiven basieren“ (35), was die antisemitische Grundierung unterstreicht, wie sie von Haury erläutert worden ist. Das Thema ‚Nahostkonflikt‘ wurde als „zeitgeschichtliches Thema“ vorwiegend durch die Geschichtsdidaktik bearbeitet, und der Staat Israel galt in der frühen Bundesrepublik kaum als politischer Akteur, sondern vielmehr als Repräsentant des Judentums. Mit den 2000er Jahren ändert sich die pädagogische Sichtweise auf Antisemitismus, und es wurden vermehrt Zusammenhänge zum Nahostkonflikt angesprochen. Es wird deutlich, dass der Rückgriff auf die „Holocaust-Education“ nicht geeignet ist, um aktuellen Formen des Antisemitismus entgegenzutreten.
Am Beispiel einer Fallanalyse geht Sebastian Salzmann auf den Schulunterricht ein, dem im Zuge der antisemitischen Artikulationen und Vorfälle nach dem 7. Oktober 2023 immer wieder ein ‚Versagen‘ unterstellt worden ist. Er schildert einleitend, wie oft antisemitische Äußerungen im Alltag folgenlos bleiben und wie sich das auf das Sicherheitsempfinden von Juden und Jüdinnen in Deutschland auswirkt. Analysiert wird eine Unterrichtseinheit an einem Berufskolleg vom Frühjahr 2023 mit der Leitfrage, wie das Sprechen über Antisemitismus zur Reproduktion desselben beiträgt. Die Einheit war Teil einer Unterrichtsreihe zum Thema ‚Rassismus‘, was sich als fatal erweist, da es immer wieder zu rassistischen Aussagen über Juden und Jüdinnen kommt, die unwidersprochen bleiben. Weder über Rassismus noch über Antisemitismus wird hier aufgeklärt. Es kommt zu einem „Spiel mit Unklarheit, Gerücht und Meinung“ (55), dem die Lehrkraft nichts entgegensetzt. Der Autor macht an den Sequenzen deutlich, wie kontraproduktiv Unterricht sein kann. Es folgen weitere Fallbeispiele und eine Darstellung zur Arbeit mit dem Film „Lemon Tree“ (2008) im Unterricht.
Den Wirkungen des deutsch-israelischen Jugendaustauschs widmet sich Elizaveta Firsova-Eckert und betont die unterschiedlichen Narrative und die Mühen des Perspektivenwechsels. Anhand einer empirischen Studie von 2021 zeigt sie den „positiven Einfluss auf die Differenziertheit der Wahrnehmung des Nahostkonflikts“ (93) durch den Jugendaustausch, allerdings mit einem „stärkeren Einfluss auf das Verständnis der israelischen Seite“ (ebd.). Letzteres erfordert die Stärkung trilateraler Konzepte, die palästinensische Perspektiven deutlicher berücksichtigen.
Praxisperspektiven, die im zweiten Teil des Bandes vorgestellt werden, sind teilweise schon im ersten Teil enthalten und werden nun anhand verschiedener Bildungsmaterialien und institutioneller Kontexte ausgeführt. Die Trennung zwischen Wissenschaft und Praxis überzeugt hier nur bedingt, zumal gleich im ersten Beitrag zu den „Israel-Palästina-Bildungsvideos“ der zugrunde liegende Antisemitismusbegriff ebenso deutlich wird wie die migrationspädagogischen Ausganspunkte. Beides ist wissenschaftlich fundiert. Die beim Jugendaustausch eingeforderten trilateralen Konzepte werden in dem Dreier-Gespräch zwischen Helen Sophia Müller, Amina Nolte und Johanna Voß mit den Konfliktbeziehungen durch palästinensische, jüdische und israelische Biografien eingebracht, ebenso der Anspruch an Kontroversität und Perspektivenwechsel, wobei Letzteres auf Grenzen stößt, wenn Gewalt legitimiert wird. Die Gesprächspartner:innen zeigen ein hohes Reflexionsniveau, insbesondere bei der Berücksichtigung möglicher Antisemitismus- und Rassismuserfahrungen ihrer Teilnehmer:innen.
Auf die in Wissenschaft und Bildungspraxis vernachlässigte Beziehung von Antisemitismus- und Rassismuskritik geht Rosa Fava ein und reflektiert Situationen aus der Offenen Jugendarbeit im Kontext des Gaza-Konfliktes. Die Zielgruppen in den Jugendtreffs sind häufig von Rassismus und schulischen Frustrationen betroffen und erleben sich kaum als zugehörig zur deutschen Gesellschaft. Deshalb besteht eine „oft antirassistisch begründete große Identifikation mit Palästinenser*innnen in Nahost und palästinensisch-deutschen Mitschüler*innen“ (113). Fachkräfte benötigen in dieser Situation sowohl Kenntnisse, um falschen Narrative über den Nahostkonflikt entgegenzutreten als auch ein Bewusstsein für die Deklassierung unterschiedlicher Gruppen palästinensischer Zugehörigkeit.
Als Bezugspunkt für kollektive Identitäten betrachtet Michael Sauer den Nahostkonflikt. Damit geht häufig eine „Antiposition zur Erinnerungskultur der deutschen Mehrheitsgesellschaft“ (129) einher, weil die etablierten Formen des Erinnerns und Gedenkens an den Holocaust als Angelegenheit einer weißen deutschen Dominanzgesellschaft eingeordnet werden. Mit der Theorie des ‚Conceptual Change‘ plädiert er für sozial anschlussfähige Argumentationen gegen israelbezogenen Antisemitismus, die auch in der eigenen Community von Minderheiten mit Migrationsgeschichte vertreten werden können, ohne einen Ausschluss zu riskieren.
Weitere Beiträge beschäftigen sich mit den Möglichkeiten der Thematisierung von israelbezogenem Antisemitismus an Haupt- und Werkrealschulen und mit der Bedeutung von social media.
Der Band bietet Grundlagen für die Auseinandersetzung mit aktuellem Antisemitismus in Bildungskontexten und methodische Anregungen für Unterricht und Bildungsarbeit. Die Beiträge beziehen sich auf wesentliche Konfliktfelder in dem Themenfeld und bieten Zugänge für eine gelingende Praxis ohne Simplifizierungen. Der Kontext der Migrationsgesellschaft bildet den anerkannten Rahmen und wird mehrfach explizit zum Thema, wenn es um Diskriminierungserfahrungen und Zugehörigkeiten geht. Angesichts dieser sehr zu begrüßenden Kontextualisierung hätte das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus expliziter und in mehreren der Beiträge vertieft werden können. Schließlich betrifft dieses sowohl den Nahostkonflikt selbst wie dessen Vermittlung.
Empfehlenswert sind die Beiträge sowohl für Lehrkräfte an Schulen als auch für Vermittler:innen in außerschulischer Bildungsarbeit. Die didaktischen Impulse bieten über die Anregungen für die Bildungspraxis hinaus Einblicke in gesellschaftlich etablierte Denkmuster und in die Grenzen der Pädagogik. Sie führen zudem die erziehungs- und sozialwissenschaftliche Debatte um aktuelle Formen des Antisemitismus und um dessen Bekämpfung weiter.