Thomas Grunewald

Frühneuzeitliche Schularchitekturen

Internationale und interdisziplinäre Perspektiven
Hallesche Forschungen 67

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2024
(406 S.; ISBN: 978-3-447-12212-2; 87,00 EUR)

Wer die Franckeschen Stiftungen in Halle besucht, wird von den baulichen Dimensionen dieses Schulensembles aus der Frühen Neuzeit, in dem bis heute zahlreiche Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen beherbergt sind, beeindruckt sein. Es ist deshalb naheliegend, dass in den Stiftungen selbst die Frage aufgeworfen wird, ob „es einen systematischen intentionalen Bezug zwischen Bildungs- und Erziehungspraxis einerseits und Schularchitektur anderseits“ bereits in der Frühen Neuzeit gegeben hat [1]. In der Pädagogik ist es unumstritten, dass die Architektur von Schulen einen Einfluss auf die Erziehung hat und dass der Zusammenhang vom Raum und seinen Wirkungen auf die Personen, die in ihm leben und lernen, ein lohnendes Forschungsfeld ist. Auch sind inzwischen Untersuchungen zum historischen Schulbau zahlreich, konzentrieren sich jedoch, wie Thomas Grunewald in der Einleitung zu dem hier zu rezensierenden Sammelband darlegt, auf das 19. und 20. Jahrhundert [2]. Hingegen sind die Frühe Neuzeit und auch das 18. Jahrhundert wenig erforscht [3]. Ähnliches gilt für die außereuropäische Schularchitektur. Der hier zu besprechende Sammelband präsentiert in vier thematischen Blöcken die dreizehn Beiträge einer von den Franckeschen Stiftungen initiierten internationalen Tagung im Jahr 2022, auf der Ergebnisse aus verschiedenen Disziplinen zusammengetragen und zukünftige Forschungsfragen generiert werden sollten.

Im ersten Teil widmen sich Christoph Fasbender und Michael von Engelberg den „Grundlagen frühneuzeitlicher Bildungstheorie und -architektur“. Fasbender beschreibt die konkrete Gestaltung zweier Schulbauten aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert. Er identifiziert die Aussen- beziehungsweise Innendarstellungen in den beiden Schulen als mediale Träger von Bildungswissen. Neben dieser künstlerischen Repräsentation von Bildungsstoffen zieht Fasbender Thomas Campanellas Beschreibung der Wandbilder in den fiktiven Gebäuden des „Sonnenstaates“ (1602) heran, um Bildungstheorien frühneuzeitlicher Schulen auf die Spur zu kommen [4]. Im Anschluss an diesen Betrag wendet sich Michael von Engelberg der Frage zu: Was wurde im 17. Jahrhundert gebaut und wie wurde es theoretisch reflektiert? Der Autor kommt zu dem ernüchternden Befund, dass – jedenfalls in dieser Zeit – nicht von einem engen Zusammenhang zwischen Architekturtheorie und tatsächlichen Bauten ausgegangen werden kann, auch wenn es gelegentlich zu Berührungspunkten zwischen beiden Bereichen gekommen sei.

Im zweiten Teil geht es um „Frühneuzeitliche Schularchitekturen in europäischer Perspektive“. Neben Aufsätzen zur Schularchitektur in England, den böhmischen Kronländern und jüdischen Schulen in Deutschland sollen zwei Beiträge hervorgehoben werden. Sie widmen sich Schulgründungen mit ähnlichen räumlichen Dimensionen und pädagogischen „Generalplänen“ wie das Hallische Waisenhaus. Insofern liegt die Annahme nahe, dass ein Zusammenhang von Erziehungszielen und Schulbau besteht. Rui Lobos gibt einen Überblick über die frühen Jesuitenkollegien, die sich alle durch architektonisch ähnliche Merkmale auszeichnen: Bebauung um einen Innenhof und planmäßige Anlage von Schlaf- und Unterrichtsräumen für eine große Zahl von Schülern. Bei der Maison Royale de Saint Louis in Saint-Cyr, die Lars Cyril Norgaard vorstellt, handelt es sich um einen mehrflügeligen Funktionsbau des Hofarchitekten Jules Hardouin-Mansart (1646-1708) für ein Erziehungsinstitut, in dem ca. 300 Töchter des französischen Adels leben und lernen sollten. Gegründet wurde das Internat 1685 im königlichen Auftrag von Françoise d’Aubigné (1635-1719), bekannter als Madame de Maintenon und Gattin Ludwig XIV.. Die Einrichtung durch die Stifterin fand unter Hinzuziehung des von August Hermann Francke geschätzten Pädagogen François Fénelon (1651-1715) statt und folgte ausdrücklich pädagogischen Zielsetzungen.

Im dritten Teil „Die Franckeschen Stiftungen. Eine einzigartige frühneuzeitliche Schularchitektur?“ wird der Zusammenhang von Erziehungszielen und Architektur differenziert vorgestellt. Thomas Eißing arbeitet heraus, wie die frühe Planung Franckes, die unter dem Einfluss philadelphischer, d.h. religiös bestimmter Vorstellungen stand, nach 1718 eindeutig durch pragmatischere Lösungen ersetzt wurde. Ausführlich werden für die erste Bauphase die architektonischen Parallelen zum salomonischen Tempel diskutiert, der für die philadelphische Weltsicht im Zeitalter der aufkommenden Naturwissenschaft eine hohe wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung hatte, die jedoch im Verlauf des 18. Jahrhunderts offenbar keine Rolle mehr spielte [5]. Johannes Süßmann untersucht mit Rückgriff auf Max Weber die Habitusformierung der Kinder durch die Architektur der Stiftungen. Man muss von einem archivalischen Glücksfall sprechen, dass der Autor dafür eine Fülle von bislang unerschlossenen Archivalien, in diesem Fall Planskizzen für die Gestaltung der Innenräume der Stiftungen nutzen kann. Hier schließt Michael Rocher an. Auch er kann auf der Basis von Bauplanungsunterlagen, Protokollen und Praktiken der Einstufung von Schülern nach Fachleistung zeigen, wie im Pädagogium der Franckeschen Stiftungen bereits im frühen 18. Jahrhundert Raumgestaltung und Klassenordnungen zur Etablierung eines Leistungsprinzips führten, das mit dem sogenannten „normativen“, in diesem Fall pietistischen Konzept in der Einrichtung in Einklang stand [6].

Vier Beiträge zu „Ausstrahlung der Schularchitektur der Franckeschen Stiftungen im internationalen Vergleich“ werden im letzten Teil gebündelt. Fanny Isensee und Daniel Töpper müssen feststellen, dass in Deutschland das Konzept der Franckeschen Stiftungen als Baukörper, der verschiedene Schultypen in sich vereinigte, in dem von ihnen als „pädagogischer Diskurs der Sattelzeit“ bezeichneten Quellenbestand nicht rezipiert wird. Die Untersuchung der prominenten US-amerikanischen Reiseberichte aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kommt zum gleichen Ergebnis. Als Erklärung verweisen die Autoren auf die Ausdifferenzierung des Schulwesens nach sozialen Kategorien im 19. Jahrhundert, der in den Franckeschen Stiftungen nicht Rechnung getragen worden sei. In anderen Weltgegenden hingegen lässt sich eine „Ausstrahlung“ Halles feststellen. Institutionell bestanden naturgemäß enge Verbindungen zwischen Halle und der Dänisch-Hallischen Mission in Tranquebar. Bei den indischen Gründungen ging es jedoch weniger um eine einseitige „Ausstrahlung“ von Halle als vielmehr um eine Austauschbeziehung in beide Richtungen. Die indische Lehr- und Lerntradition, so kann Christoph Haar im Anschluss an die Arbeiten von Heike Liebau [7] zeigen, wirkte sich auch auf die bauliche Konzeption der „Tranquebarschen Anstalten“ aus. Hier haben wir es mit entangled history im engen Sinn zu tun. Diese hat ihre eigenen historiographischen Schwierigkeiten, weil die missionsgeschichtlichen Narrative manches verdecken. Die einseitig europäische Perspektive musste Sven Reinhardt beiseite räumen, um Christoph Samuel Johns Gründung der „Schulanstalt für Europäische Kinder und Malabrische Jünglinge“ überhaupt zu entdecken. Die Schule kann mit Heike Liebau als „interkulturelles Experiment“ bezeichnet werden. Es war die explizite Absicht des Missionars und ehemaligen Lehrers an der Lateinschule des Hallischen Waisenhauses, dass diese Schule im Sinne des Franckeschen „Pflantzgartens“ allen befähigten Kindern in Tranquebar, zahlenden und nicht zahlenden, zur Verfügung stand.

Nicht alle Beiträge konnten im Rahmen dieser Rezension angemessen gewürdigt werden. Abschließend einige Überlegungen zu methodischen Fragen. Kann man die Maison Royale de Saint Louis zur Privatschule erklären? Die Schule kann genauso gut als Teil einer staatlichen Strategie des französischen Absolutismus interpretiert werden, denn das Mädchenschulwesen in Europa lässt sich bis ins frühe 20. Jahrhundert nicht mit der Dichotomie von „privat“ und öffentlich“ erfassen. Fanny Isensee und Daniel Töpper erklären ihren Befund, dass die Stiftungsschulen in den von ihnen untersuchten Diskursen nicht rezipiert wurden, mit der mangelnden sozialen Differenzierung der Stiftungsschulen. Das Argument kann in dieser generalisierten Form nicht überzeugen, denn die Stiftungsschulen waren durchaus entlang sozialer Kategorien organisiert. Andere Faktoren müssen eine Rolle gespielt haben. Ein wichtiger Faktor liegt darin, dass Schulentwicklung im 19. Jahrhundert als nationale Aufgabe in staatlichen Strukturen stattfand und nicht in großen, international vernetzten Reformprojekten wie dem Hallischen Waisenhaus. Vergleichsprojekte finden sich aber in den bedeutenden Schulgründungen der Jesuiten und auch der weiblichen Orden und Lehrkongregationen im 16., 17. Jahrhundert und frühen 18. Jahrhundert im katholischen Europa und seinen Kolonien. Weder der deutschsprachige noch der angloamerikanische pädagogische Diskurs nehmen diese Schulen und ihre Pädagogik zur Kenntnis. Insofern ist Thomas Grunewald in seinen abschließenden Überlegungen zu den Ergebnissen der Tagung zuzustimmen, dass der Versuch, „Wissenstransfer allein an die Existenz von Fachjournalen und darin enthaltene[n] Diskurse[n] anbinden zu wollen“ (342), deutlich zu kurz greift.

Unabhängig von diesen Reflexionen formuliert Thomas Grunewald abschließend Forschungsaufgaben für die zukünftige bildungshistorische Schulbauforschung. Es gälte nun,
– die bauliche Vielfalt von Schulen vor der großen Schulbauwelle des 19. Jahrhunderts zu erfassen und zu klassifizieren,
– zu klären, ob die Franckeschen Stiftungen Ausnahme sind oder nur aufgrund ihrer ungewöhnlich guten Überlieferung als Ausnahme erscheinen,
– Vergleiche mit Schularchitekturen in Asien, Afrika und Süd- und Mittelamerika vorzunehmen ohne die westliche Dominanz der Paradigmen von Aufklärung, Staatlichkeit und Modernität heranzuziehen.
Der Sammelband belegt die Produktivität interdisziplinärer bildungshistorischer Arbeit und trägt dazu bei, etablierte Kategorien der Schulgeschichte zur Diskussion zu stellen und die Perspektiven der bildungshistorischen Forschung auszuweiten.

[1] von Engelberg, M., Eißing, T., Heiser, S., Süßmann, J., & Zaunstöck, H. (2018). “Modell” Waisenhaus? Perspektiven auf die Architektur von Franckes Schulstadt. Verlag der Franckeschen Stiftungen.
[2] Explizit widmet sich dem „spacial turn“ in der historischen Bildungsforschung der Tagungsband von Jelich F.-J., & Kemnitz, H. (Hrsg.). (2003). Die pädagogische Gestaltung des Raums. Geschichte und Modernität. Klinkhart.
[3] Lange, H. (1967). Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit. Zur Entstehung und Problematik des modernen Schulwesens. Beltz.
[4] Zum Bezug der Franckeschen Stiftungen zu den großen Renaissanceutopien vgl. bereits Hinrichs, C. (1971). Preußentum und Pietismus. (S.29-47). Vandenhoeck & Ruprecht.
[5] Eißing, T. (2018). Von der Bausubstanz als Bedeutungsträger. Das Waisenhaus und das Lange Haus der Franckeschen Stiftungen – die Analyse des materiellen Bestandes als Beitrag zu Verständnis von Franckes Bauvorhaben. In M. von Engelberg, T. Eißing, S. Heiser, J. Süßmann, & H. Zaunstöck. „Modell“ Waisenhaus? Perspektiven auf die Architektur von Franckes Schulstadt. (S. 37-71). Verlag der Franckeschen Stiftungen.
[6] Rocher, M. (2025). »Mit neuem Eifer an der Bildung junger Leute zu arbeiten«. Das Pädagogium Regium Halle und das Philanthropin Dessau im bildungsräumlichen Vergleich. Hallesche Forschungen 69. Verlag der Franckeschen Stiftungen.
[7] Liebau, H. (2006). Das Schulwesen. In Liebau, H. (Hg.): Geliebtes Europa // Ostindische Welt. 300 Jahre interkulturelle Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission. (S. 136-159). Kataloge der Franckeschen Stiftungen. Harrassowitz.

Zur Zitierweise der Rezension
Juliane Jacobi (Berlin): Rezension von: Thomas Grunewald: Frühneuzeitliche Schularchitekturen. Internationale und interdisziplinäre Perspektiven Hallesche Forschungen 67. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2024 (406 S.; ISBN: 978-3-447-12212-2; 87,00 EUR). In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am: 29. April 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/04/fruehneuzeitliche-schularchitekturen/