Körperliche Schulstrafen im Wertewandel 1870–1980
Berlin/ Boston: de Gruyter Oldenbourg 2023
(494 S.; ISBN: 978-3-11-062761-9; 79,95 EUR)
Sarina Hoff befasst sich in ihrer vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2020 angenommenen Dissertation mit der Fragestellung, warum sich körperliche Strafen trotz kritischer Diskurse über deren gewaltsame sowie entwürdigende Effekte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in den Schulen behaupten konnten. Hoff verortet ihre Arbeit an der Schnittstelle von „Bildungs- und Gewaltgeschichte“ (15) und operationalisiert ihre Untersuchung bezugnehmend auf Ansätze der „Mainzer historischen Wertewandelsforschung“, insbesondere auf das Konzept des „Wertewandeldreiecks“ (17). Im Anschluss an die Überlegungen der Historiker Andreas Rödder, Bernhard Dietz und Christopher Neumeier geht sie der These nach, „dass sich Werte nicht etwa als lineare Folge sozialstrukturellen Wandels verändern, sondern dass diskursiv verhandelte Werte, soziale Praktiken und institutionelle Rahmenbedingungen […] sich gegenseitig beeinflussen, sodass sich ein dreiecksförmiges Gefüge von Wechselwirkungen ergibt“ (17). Bezogen auf ihre Fragestellung interessiert sie konkret, „welche veränderten Werthaltungen“ zur Revision der Ansichten über die Körperstrafe als Erziehungsmittel beitrugen (16).
Für die Rekonstruktion der „Mechanismen des Wandels“ sei es notwendig, so Hoff, „erstens die Debatten, zweitens die Gesetze, Erlasse und strafrechtlichen Bewertungen, die den institutionellen Rahmen des Züchtigungsrechts festlegten, sowie drittens die soziale Praxis“ zu berücksichtigen und deren wechselseitige Beeinflussung zu betrachten (18). Angesichts des vergleichsweise langen Untersuchungszeitraums grenzt sie ihren Gegenstandsbereich ein, indem sie sich ausschließlich auf Körperstrafen in der Schule konzentriert und andere Strafformen sowie körperliche Strafen in der Heimerziehung und in der Familie im Wesentlichen ausklammert.
Um die Auseinandersetzung über die körperliche Strafe in ihrer Breite erforschen zu können, legt Hoff ihrer Studie ein vielschichtiges Quellenkorpus zugrunde, für dessen Zusammenstellung sie sich an den drei Polen des „Wertewandeldreiecks“ orientiert. Zur Erfassung der „Debatten“ (23), auf der ersten Ebene, bezieht sie wissenschaftliche Publikationen aus Pädagogik, Psychologie und Rechtswissenschaft in Lexika, Lehr- und Handbüchern sowie Fachzeitschriften ein. Bei der Rechtswissenschaft kommen Dissertationen, Gesetzeskommentare und Entscheidungssammlungen der Rechtsprechung hinzu. Die „fachlich-praxisbezogenen Diskussionen“ der Lehrkräfte (23) finden durch die Aufnahme der Beiträge einschlägiger Zeitschriften, der Vereinspresse sowie interner archivalisch überlieferter Unterlagen von Vereinen und Verbänden Eingang in das Korpus. Über Presseartikel sowie Sachbücher wird zudem die gesamtgesellschaftliche Diskussion abgebildet.
Auf der zweiten Ebene, den institutionellen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen, geht es um Gesetze und Verordnungen, deren Genese anhand von Parlamentsprotokollen und Akten der Kultusadministration rekonstruiert wird. Angesichts unzureichender Überlieferungen gestaltete sich der Zugang zur dritten Ebene, der „sozialen Praxis“, am schwierigsten. Hoff greift hier auf „aktenkundige Untersuchungen“ zurück, die im Rahmen von Straf- und Disziplinarverfahren wegen Verstößen gegen das Züchtigungsrecht durchgeführt worden sind (25). Methodisch rekurriert sie auf „hermeneutische Verfahren“ (17), welche allerdings nicht weiter erläutert werden. Hier wären entsprechende methodologisch-konzeptionelle Vorüberlegungen zur Erschließung der verschiedenen Quellensorten notwendig gewesen.
Die Strukturierung der Arbeit orientiert sich an einer groben chronologischen Gliederung mit einzelnen Kapiteln zu den Zeiträumen 1870-1900, 1900-1933, 1933-1945, 1945-1968 [sic] und 1970 bis 1979, die in ihrer Unterteilung den drei Dimensionen des „Wertewandeldreiecks“ folgen, wobei die institutionellen Rahmenbedingungen anhand von regionalen Fallbeispielen einzelner Länder bzw. Bundesländer dargestellt werden. Daran schließen sich acht „Längsschnitte“ an (397), u.a. zum Wandel der geschlechtsspezifischen Konnotation der ‚Debatten‘ oder dem veränderten Verständnis einzelner Begriffe wie Ehre, Menschenwürde, Gewalt, Gehorsam und Autorität.
Hoff zeichnet ein facettenreiches Bild der Auseinandersetzungen über die Bedeutung der körperlichen Strafe in der Schule. Die breite Quellengrundlage ermöglicht es, den sich nur langsam verändernden Bedingungszusammenhang für die Beharrungskraft der körperlichen Züchtigung als Erziehungsmittel multiperspektivisch zu rekonstruieren. Bemerkenswert ist dabei die gesellschaftliche Durchsetzungskraft der verschiedenen Gruppen aus Wissenschaft, Praxis und Politik, welche sich für eine Beibehaltung der körperlichen Strafe einsetzten und denen es in wechselnden Koalitionen bis in die 1960er-Jahre immer wieder gelang, die Initiativen der Gegner körperlicher Züchtigung zu konterkarieren und das mit der Strafe verbundene Leid der Kinder durch die Skandalisierung der gesellschaftlichen Auswirkungen vermeintlicher moralischer Fehlentwicklungen zu kaschieren. Hoff kann zeigen, dass die grundlegenden Argumente gegen die körperliche Züchtigung wie z.B. „der Verweis auf die Menschenwürde des Kindes, auf Erziehungsziele wie Selbstwertgefühl oder auf psychologische und medizinische Gefahren von Schlägen“ bereits seit dem 19. Jh. dargelegt wurden (457). Sie analysiert die „Verschiebungen“ in der Meinungsführerschaft (457) und arbeitet heraus, wie die körperliche Strafe als Erziehungsmittel gegen Kritik immunisiert werden konnte. Maßgeblich für den Erfolg dieser Strategie war die schon fast obsessive Inszenierung der Möglichkeit, das Kind sittlich bessern zu können, was gleichzeitig mit der Dramatisierung eines Autoritätsverlusts der Lehrkräfte verbunden war (457-458).
Aufschlussreich ist hierbei die Praxis der Rechtsprechung, die die körperliche Züchtigung im Wesentlichen als Gewohnheitsrecht rechtfertigte, das sittlich geboten sei. Am Beispiel einzelner Fälle wird deutlich, welche Verletzungen Schüler:innen in der Schule erleiden mussten und inwieweit sich die gewalttätigen Lehrkräfte auf die Aufrechterhaltung ihrer Autorität und das ‚moralische‘ Erfordernis berufen konnten, den Gehorsam bei den Kindern durchzusetzen. Selbst zwischenzeitlich eingeführte gesetzliche Verbote der körperlichen Züchtigung, wie z.B. 1922 in Sachsen, konnten wieder rückgängig gemacht werden.
Der vergleichsweise umfangreiche Untersuchungszeitraum birgt aber auch die Gefahr, einzelne Gruppierungen in ihren Argumentationszusammenhängen zu harmonisieren und die Brüche im Diskurs aus dem Blick zu verlieren. Dies lässt sich am Beispiel der Reformpädagogik verdeutlichen, für die, neben Friedrich Wilhelm Foerster, Ellen Key herangezogen wird. So wird z.B. Keys Kritik an der körperlichen Züchtigung als „eine der frühesten und radikalsten Ablehnungen körperlicher Strafen“ paradigmatisch für die in dieser Zeit „typischen Aufbruchs- und Fortschrittsgedanken“ der ‚reformpädagogischen Bewegung‘ insgesamt dargestellt (122-123), dabei jedoch nicht berücksichtigt, dass Key für die ersten drei Lebensjahre des Kindes „eine Art Dressur“ als „notwendig“ erachtete und dabei davon ausging, „daß ein leichter, physischer Schmerz oder Genuß oft die einzige Sprache ist, die [… das Kind] ganz versteht“, da es „in so hohem Grade sinnlich“ sei. [1] Der Sachverhalt wird von Hoff in dem Längsschnittkapitel „Gehorsam“ lediglich in einer Fußnote erwähnt: „Diese Gewöhnung an das Gehorchen sollte für Key idealerweise im später nicht mehr bewusst erinnerten Klein(st)kindalter stattfinden und konnte dann auch Schläge enthalten“ (440, Fußnote 180).
Für die ‚theoretische Pädagogik‘ z.B. konstatiert Hoff seit 1965 „eine absolute, keine Ausnahmen zulassende Gegnerschaft“ (377). Tatsächlich fiel die eindeutige Distanzierung von der körperlichen Strafe indes schwer. So schreibt z.B. Heinrich Rombach 1967, dass die „körperliche Züchtigung“, „wegen ihrer elementaren Bedeutung als eine Grundform des Strafens immer als Möglichkeit zur Verfügung“ stehe und deren „Berechtigung oder Nichtberechtigung […] pädagogisch vom jeweils erreichten Strafniveau“ abhänge [2], Wolfgang Scheibe „entschuldigt“ diese Strafe 1967, bei aller Kritik, „in einer verzweifelten Lage mit schlechtem pädagogischen Gewissen als Ausnahme in einer Art Selbstwehr“ [3] und Ernst Cloer formuliert noch 1982 im Anschluss an Günter Schreiner, dass die „Körperstrafe nicht in jedem Fall ein Tabu“ sei. [4]
Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Entscheidung, das Forschungsinteresse ausschließlich auf die körperliche Strafe zu begrenzen, da so die erziehungstheoretischen Legitimationsdiskurse alternativer Strafformen aus dem Blick geraten und die Geschichte der Prügelstrafe schnell, wie Hoff dies selbst feststellt, zu einer Fortschrittsgeschichte geraten kann (461). Häufig haben Gegner der körperlichen Strafe jedoch alternative verletzende Strafformen diskutiert und eingesetzt, wie z.B. die Instrumentalisierung des ‚Ehrgefühls‘ des Kindes durch dessen Beschämung.
Mit ihrer Studie hat Sarina Hoff jedoch einen umfassenden und detailreichen Überblick zur Geschichte der Prügelstrafe vorgelegt, der zugleich den weiteren Forschungsbedarf für eine Historiografie der pädagogischen Strafe aufzeigt, insbesondere zu den alternativ eingesetzten Strafformen und deren erziehungstheoretischer Rechtfertigung (461-462).
[1] Key, E. (1902). Das Jahrhundert des Kindes. Studien. Autorisierte Übertragung von Francis Maro. (S. 86). Fischer.
[2] Rombach, H. (1967). Das Wesen der Strafe. In Willmann-Institut (Hrsg.). Pädagogik der Strafe. (S. 3-31, hier S. 23). Herder.
[3] Scheibe, W. (1967). Die Strafe als Problem der Erziehung. Eine historische und systematische pädagogische Untersuchung. (S. 353). Beltz.
[4] Cloer, E. (1982). Disziplinieren und Erziehen. Das Disziplinproblem in pädagogisch-anthropologischer Sicht. (S.129). Klinkhardt.