Morten Timmermann Korsgaard

Retuning Education

Bildung and Exemplarity Beyond the Logic of Progress
London and New York: Routledge 2024
(196 S.; ISBN: 978-1-03-256457-9; 0,00 EUR)

Die Frage nach der ‚Eigenlogik‘ von Erziehung zählt zu den Dauerproblemen, die im Kontext der erziehungswissenschaftlichen Grundlagenforschung unter veränderten Konstellationen immer wieder neu formuliert und bearbeitet werden. Im deutschsprachigen Raum weist die Problemstellung dementsprechend eine lange Tradition auf, ist aber in den letzten Jahrzehnten deutlich in den Hintergrund des fachlichen Interesses gerückt.

Die vorliegende Monographie von Morten Timmermann Korsgaard lässt sich als ein Beitrag zur Klärung der ‚Eigenlogik‘ von Erziehung verstehen, worauf der Autor explizit hinweist, wenn er die eigenen Überlegungen in die deutschsprachige Tradition einer Allgemeinen Pädagogik stellt (8ff.). Dies ist deshalb bemerkenswert, weil grundlagentheoretische Überlegungen in Sachen Erziehung im internationalen Kontext üblicherweise der “Philosophy of Education“ zugerechnet werden, die aber nur bedingt als ein funktionales Äquivalent zur Allgemeinen Pädagogik im deutschsprachigen Raum begriffen werden kann. Korsgaard bezeichnet den eigenen Entwurf als eine „ontology of education“ (32), in deren Zentrum die Frage steht, „what education is, in a non-functionalist way and beyond the logic of progress“ (15). Die Bearbeitung dieser Frage soll eine Alternative zu einem heute weit verbreiteten Denkmuster in Sachen Erziehung ermöglichen, in dem diese auf ein Mittel zur Erreichung vorgegebener Zielsetzungen reduziert wird. Erziehung jenseits einer gesellschaftlichen Fortschrittslogik in den Blick zu nehmen, bedeutet für Korsgaard insbesondere, mit der Voraussetzung zu brechen, Erziehung von einem (vermeintlich) feststehenden Ende her zu bestimmen. Dieser allgemeine Zuschnitt der Arbeit wird von Korsgaard spezifiziert, indem er zwischen der Frage nach der Aufgabe von Erziehung und deren Begründung („Why do we educate?“) sowie der Frage nach der Form von Erziehung („How do we educate?“) unterscheidet. Die Arbeit gliedert sich vor diesem Hintergrund in zwei Teile, wobei jeder Teil einer der beiden Problemstellungen gewidmet ist. Beide Teile umfassen jeweils fünf Kapitel.

Die Arbeit beginnt mit einer Einleitung, in der Korsgaard mit großer Klarheit in die Problemstellung der Untersuchung einführt und den Grundgedanken seiner Position erläutert: „Education is the particular and peculiar time and space that we offer to newcomers so that they may establish a relation to the world around them and come to know how and where to direct their gaze. Not as we, the old, see fit but as it develops in encounters with objects of the world that we place in the common space of education“ (3). Korsgaard fertigt eine Beschreibung von Erziehung an, in der diese als eine spezifische Form des Miteinanderumgehens von mindestens zwei Menschen in den Blick kommt. Das Spezifikum dieser Form erkennt Korsgaard darin, dass Heranwachsende Hilfe dabei erfahren, ihren Blick auf Herausforderungen zu lenken, die eine Welt bereithält, die wir gemeinsam teilen. Hierzu vollziehen Erwachsene Aktivitäten, die darauf gerichtet sind, Heranwachsende in eine Auseinandersetzung mit Sachverhalten zu verstricken. Das Hineinziehen von Heranwachsenden in eine Vertiefung in und eine Besinnung auf Sachverhalte zielt nicht darauf ab, die Zu-Erziehenden auf gegebene oder stellvertretend-antizipierte Orientierungsmuster zu verpflichten. Erziehung wird vielmehr als eine Form des Miteinanderumgehens bestimmt, in der Heranwachsenden die Möglichkeit eröffnet wird, sich zu einer gemeinsam geteilten Welt in ein Verhältnis zu setzen und damit zugleich Neues in dieser Welt zu beginnen. Dieses Sich-Verhalten von Heranwachsenden zur Welt bezeichnet Korsgaard explizit als Bildung. Operiert Korsgaard mit dem Begriff „education“, so hat er stets beides im Blick, nämlich „processes of “Bildung“ and “Erziehung““ (9).

Leser:innen stehen damit vor der Aufgabe, im Einzelfall zu prüfen, welcher Aspekt dieses Zusammenhangs von Korsgaard jeweils in den Blick genommen wird, nämlich entweder der Prozess „of how one relates to the world“ (Bildung) oder die Form des Miteinanderumgehens, in der Menschen versuchen, „to affect this process of becoming“ (Erziehung) (9).

Was unter Bildung und dem damit verknüpften Anspruch an Erziehung genau zu verstehen ist, entwickelt Korsgaard im ersten Teil seiner Untersuchung. Das Auftaktkapitel dient insbesondere dazu, das Missverständnis abzuwehren, bei der beschriebenen Aufgabe von Erziehung handele es sich um eine weitere gesellschaftliche Erwartung an Erziehung. Korsgaards These lautet stattdessen, dass diese Aufgabe der Erziehung gleichsam ‚eingeschrieben‘ sei. Den spezifischen Neuigkeitswert der eigenen Überlegungen erkennt Korsgaard in einer Präzisierung und Zuspitzung der Aufgabenstellung. Die Erziehung sei insbesondere dazu da, Heranwachsende darin zu unterstützen, „a sense of community“ zu entwickeln, „a sense of belonging to the world as a common habitat“ (31). In diesem Zusammenhang bestimmt Korsgaard das Zeigen als diejenige Aktivität, mittels derer Erwachsene die Aufmerksamkeit von Heranwachsenden auf die Welt lenken. „Through this gesture we reveal the commonness of the objects and things of the world, and the fact that we can engage with these anew” (32). Im zweiten Kapitel grenzt sich Korsgaard von erziehungs- und bildungstheoretischen Entwürfen ab, in denen eine spezifische Selbstbeschreibung des Menschen als „rational autonomous (hu)man“ (42) als normativer Bezugspunkt fungiert. Entsprechenden Entwürfen stellt er eine Alternative zur Seite, in der „the purpose of education“ nicht darin erkannt wird „to find a firm ground to stand upon in individuality“, sondern vielmehr die Idee leitend ist, dass „education concerns the establishment of a relation to the world and a sense of sharing this world with others“ (46). Das dritte Kapitel dient der weiteren Explikation des ‚Gemeinschaftsbezugs‘ von Erziehung. Korsgaard rückt Erziehung hierzu als eine Form des Miteinanderumgehens in den Blick, die sich von alternativen (z.B. politischen, religiösen, ästhetischen, moralischen oder ökonomischen) Formen unterscheidet und zugleich irreduzibel mit diesen verbunden ist. „Education at one and the same time is obviously entrenched in these structures but at the same time continually escapes the societal determinations by creating surplus commons in the form of students being formed in unexpected ways and through the practice of bringing the world and the newcomers into presence of each other“ (61). Im vierten Kapitel bestimmt Korsgaard Bildungsprozesse, die Heranwachsende unter den Bedingungen von Erziehung durchlaufen, entsprechend als Vorgänge, die ohne eine Bezugnahme auf eine widerständige Welt nicht möglich sind. Bildung setze vielmehr voraus, dass Heranwachsende sich auf die Welt einlassen – und damit auch auf mögliche Differenzerfahrungen, die sich in diesem Zusammenhang einstellen. In diesem Sinne impliziere Bildung stets ein Moment des „being pushed beyond our selves and in the process hopefully gaining some kind of insight, not into ourselves, but the world around us“ (81). Bildung sei deshalb, wie Korsgaard im fünften Kapitel ausführt, immer auch als Entfremdung zu verstehen – eine Entfremdung, die im Kontext von Erziehung provoziert wird, indem Sachverhalte zum Gegenstand gemeinsamer Aktivitäten von Erziehenden und Zu-Erziehenden avancieren.

Mit dieser Überlegung setzt der zweite Teil der Untersuchung ein, in dem die Frage im Mittelpunkt steht, wie Bildung edukativ ermöglicht wird. Im sechsten Kapitel operiert Korsgaard mit der Metapher der ‚Perlenfischerei‘, um zu verdeutlichen, dass Erziehende in diesem Zusammenhang vor der Herausforderung stehen, Sachverhalte von besonderer Qualität zu identifizieren, die es wert sind, zu einer Angelegenheit der gemeinsamen Auseinandersetzung gemacht zu werden. Als „pearls“ werden von Korsgaard „exemplary objects“ bezeichnet, die für Heranwachsende als „entryway into a subject matter” fungieren können (114). Im siebten Kapitel wendet sich Korsgaard dem Fall zu, dass Personen als Exempel fungieren. Eine Charaktererziehung in aristotelischer Tradition, wie sie Korsgaard am Beispiel von Lynda Zagzebskis Position diskutiert, wird dabei als „inherently conservative“ (129) zurückgewiesen. Die von Korsgaard präferierte „Arendtian alternative“ (123) wird im achten Kapitel vorgestellt. Exempeln wird dabei die Funktion von Gesprächspartner:innen zugeschrieben, die unterschiedliche Perspektiven repräsentieren und in diesem Sinne Anregung dazu bieten, dass Heranwachsende sich an eigenen Urteilen in Bezug auf einen Sachverhalt versuchen. Korsgaard verpflichtet sich hier – wie überhaupt in seinen Überlegungen – auf Hannah Arendts Beschreibung von Erziehung und – damit verbunden – ihre Idee der Natalität, d.h. „the appearance of the new and unique in the world“ (135). Im neunten Kapitel greift Korsgaard die Frage auf, welche Inhalte es wert sind, im Unterricht thematisiert zu werden. Korsgaard knüpft hier insbesondere an Überlegungen Martin Wagenscheins an und beschreibt Unterricht „as a task of selecting materials and creating situations in which students can have formative experiences which are made possible through an experience of stepping in or passing through into a subject” (155). Im Rückgriff auf Beispiele Wagenscheins illustriert Korsgaard eindrucksvoll, wie Unterricht gestaltet werden kann, der über eine Arbeit an exemplarischen Inhalten Schüler:innen verschiedene Zugänge zur Welt eröffnet – und in diesem Sinne Bildung ermöglicht. Im zehnten Kapitel führt Korsgaard seine Überlegungen zusammen. Darüber hinaus macht er auf spezifische Limitationen der eigenen Arbeit (z.B. die Bindung an einen spezifischen Begriff von Bildung) aufmerksam (179).

Die Arbeit besticht insgesamt durch ihre hohe systematische Kraft. Die Voraussetzungen der eigenen Überlegungen werden offengelegt und damit transparent gemacht. Die Begriffe, mit denen Korsgaard operiert, werden in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten bestimmt. Korsgaard entwickelt die eigene Position darüber hinaus diskursiv in Auseinandersetzung mit alternativen Positionen. Dabei bleibt die Argumentation stets auf das Problem bezogen, Erziehung als Ermöglichung von Bildung jenseits einer gesellschaftlichen Fortschrittslogik zu bestimmen. Die Arbeit offeriert zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten, etwa an die ‚Lehrkunstdidaktik‘, wie sie insbesondere von Hans Christoph Berg im Anschluss an Wagenschein entwickelt worden ist.

Was kann man einwenden? Ich nenne drei Problemkomplexe, die mir im Hinblick auf die weitere Ausarbeitung des Theorieentwurfs als bedeutsam erscheinen: Erstens: Die wissenschaftstheoretischen und methodologischen Voraussetzungen der vorliegenden ‚Ontologie der Erziehung‘ bleiben weitestgehend unaufgeklärt. Dies betrifft insbesondere die Frage, in welchem Sinne es überhaupt möglich ist, den Geltungsanspruch zu bewähren, die ‚Eigenlogik‘ von Erziehung zu erfassen, wenn davon auszugehen ist, dass wissenschaftliche Beobachter:innen immer schon bestimmte theoretische Voraussetzungen in Anspruch nehmen, wenn sie Erziehung thematisieren. Zweitens: Die eigene Theoriearbeit wird nicht hinreichend historisch kontextualisiert. Eine entsprechende Kontextualisierung würde auf eine Pluralität an alternativen Lösungsvorschlägen zu den von Korsgaard formulierten erziehungs- und bildungstheoretischen Problemstellungen stoßen, die nicht einfach übergangen werden sollte. Es stellt sich nämlich über das Problem des Geltungsanspruchs von ontologischen Aussagen hinaus die Frage, welchen Neuigkeitswert der vorliegende Entwurf genau besitzt, wenn man ihn mit den entsprechenden Alternativen relationiert. Drittens: Die von Korsgaard in Anspruch genommenen erziehungs- und bildungstheoretischen Voraussetzungen werden nicht hinreichend begründet. Dies erweist sich unter den Bedingungen einer spätmodernen demokratischen Gesellschaft als problematisch, ist in diesem Kontext doch gerade nicht davon auszugehen, dass sich etwa das für Korsgaards Entwurf maßgebliche Votum für eine Anerkennung der Natalität von Heranwachsenden von selbst versteht.

Diese Hinweise sollen die Bedeutung der vorliegenden Studie für grundlagentheoretische Debatten in der Erziehungswissenschaft nicht schmälern. Der Arbeit ist vielmehr eine intensive Rezeption zu wünschen, zeigt diese doch, wie die Frage nach der ‚Eigenlogik‘ von Erziehung im Anschluss an die europäische Tradition auf originelle Weise und hohem Niveau bearbeitet werden kann. Dabei zeichnet den Entwurf selbst ein edukativer Anspruch aus, lassen sich Korsgaards Ausführungen doch auch als der Versuch deuten, an den ‚Eigenwert‘ von Erziehung zu erinnern – und diese damit selbst als einen Sachverhalt von gemeinsamer Bedeutung in den Fokus der Aufmerksamkeit der Leser:innen zu rücken.

Zur Zitierweise der Rezension
Thomas Rucker (Landau): Rezension von: Morten Timmermann Korsgaard: Retuning Education. Bildung and Exemplarity Beyond the Logic of Progress. London and New York: Routledge 2024 (196 S.; ISBN: 978-1-03-256457-9; 0,00 EUR). In: EWR 24 (2025), Nr. 1 (Veröffentlicht am: 13. Februar 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/02/retuning-education/