Erziehung und Bildung zwischen Erbe und Zukunft
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2024
(255 S.; ISBN: 978-3-7799-7554-0; 39,00 EUR)
Der Sammelband „Generation und Weitergabe. Erziehung und Bildung zwischen Erbe und Zukunft“, herausgegeben von Malte Brinkmann, Gabriele Weiß und Markus Rieger-Ladich, stellt eine vielschichtige erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Generationenverhältnis dar. Der Band umfasst 13 Beiträge und ist in vier thematisch aufeinander abgestimmte Teile gegliedert. Der Einstieg erfolgt mit einer grundlegenden These: Im einführenden Kapitel, verfasst von Malte Brinkmann (7-19), wird eine Krise der Generationenverhältnisse diagnostiziert. Während das Verhältnis zwischen Generationen traditionell als Weitergabe und Tradierung auf der einen Seite sowie als Annahme und Transformation auf der anderen Seite gedacht wird, stellen aktuelle gesellschaftliche Umwälzungen diesen Ablauf infrage. Der Band identifiziert dabei einen dreifachen Problem- und Fragehorizont: Erstens wird das generationale Verhältnis als solches problematisiert, zweitens die Praktiken der Weitergabe und drittens die ethische Legitimation der Weitergabe. „Das Wer, Was und Wie der generationalen Weitergabe steht also zur Disposition“ (9). Veränderungen im sozialen und kulturellen Gefüge und Phänomene wie Klimagerechtigkeitsbewegungen, verdeutlichen die Notwendigkeit, die Tradierungs- und Weitergabeprozesse sowie die Dynamiken des Annehmens und Transformierens zwischen Generationen auf den theoretischen Prüfstand zu stellen.
Der Sammelband basiert auf der gleichnamigen Jahrestagung der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, die im September 2021 digital stattfand. Die versammelten Beiträge eint die Reflexion über die Prekarität der generationellen Weitergabe angesichts geschichtlicher und gesellschaftlicher Veränderungen. Die Gliederung in vier Teile greift spezifische thematische Schwerpunkte auf: Der erste Teil befasst sich mit erziehungs-, bildungs- und erzähltheoretischen Perspektiven und der zweite Teil widmet sich der Bedeutung von Macht, Politik und Geschlechtlichkeit in Generationenverhältnissen. Im dritten Teil werden Fragen nach Zukunft und Gerechtigkeit der Generationen erörtert, während der vierte Teil Praktiken des Gebens und Nehmens ins Zentrum rückt.
“’Teil I Weitergabe, Erziehung und Erzählung zwischen den Generationen“‘
Der erste Teil des Sammelbands bietet eine historische und theoretische Aufarbeitung des Generationenverhältnisses aus pädagogischer Perspektive. Den Auftakt bildet Michael Winklers Beitrag zur „Bildung im Generationenverhältnis“ (22-41). Darin beleuchtet er die Entstehung der akademischen Pädagogik und die Rolle des Generationenverhältnisses für die pädagogische Theoriebildung. Winkler stellt die These auf, dass Friedrich Schleiermacher – anders als oft angenommen – das Generationenverhältnis nicht als grundlegende Begründung pädagogischen Handelns versteht. Stattdessen nutze Schleiermacher es als eine theoretische Hilfskonstruktion, um die gesellschaftliche und historische Einbettung pädagogischen Handelns analytisch zu fassen. Winklers Beitrag liefert damit eine Reflexion über die Begrenztheit generationeller Theorien als Fundament für Erziehung und Bildung. Implizit wird dies auch im zweiten Beitrag „Zwischen Sein und Sollen.
Praxistaugliche Perspektiven auf Erziehung“ (42-59) deutlich. In Form eines Dialogs zwischen Erziehung- und Praxistheorien reflektiert Johannes Türstig theorieimmanente Differenzen, die in beiden Perspektiven zentral erscheinen (z. B. zwischen Sozialität und Individualität) und argumentiert, dass die Praxis der Erziehung in der Differenz zwischen Sein und Sollen verortet ist und durch eine Vermittlung zwischen Verstetigung und Veränderung gestaltet werde. Dem Generationenverhältnis wird dabei keine zentrale Bedeutung zugeschrieben, da Türstig Erziehungsprozesse auch außerhalb traditioneller Generationenkonstellationen verortet. Im Beitrag „Wer über Generationen erzählt erzieht“ (60-76) untersucht Clemens Bach die Rolle der Erzählung als Medium der generationellen Weitergabe. Anhand des literarischen Werks von Maxim Biller, zeigt Bach, dass Literatur, die verschiedene Generationen anspricht und reflektiert die Möglichkeit schafft, multiple Perspektiven auf Geschichte und Identität zu eröffnen. Die Erzählung wird hier als Mittel verstanden, das Lernprozesse anstößt und damit eine pädagogische Funktion erfüllt. Abgerundet wird der erste Teil zu Weitergabepraktiken mit einem Beitrag von Sigrid Weigel (77-92), die aufbauend auf genealogischen und gesellschaftlich-historischen Generationenbegriffen Weitergabe in Form des Erbes denkt, das Generationen miteinander verbindet. Diesem Grundgedanken spürt sie in verschiedenen theoretischen Überlegungen nach, wie u.a. in Hannah Ahrendts Perspektiven zur Natalität als Fähigkeit eines “Neuankömmlings“ zur Handlung oder der Idee des archaischen Erbes bei Sigmund Freud.
Insgesamt eröffnet der erste Teil des Sammelbands eine differenzierte theoretische und historische Perspektive auf das Generationenverhältnis. Die Beiträge bieten einen vielschichtigen Einblick in die philosophische und pädagogische Interpretation von Weitergabepraktiken, die als erzählerische, historische und konzeptuelle Formationen neu gedacht werden.
“’Teil II Macht, Politik und Geschlechtlichkeit der Weitergabe in Generationenverhältnissen“‘
Der zweite Teil des Sammelbands beleuchtet die Dimensionen von Macht, Politik und Geschlechtlichkeit, die das generationelle Weitergabeverhältnis prägen. Der erste Beitrag von Kerstin Jergus untersucht die pädagogische Beziehung als generationales Verhältnis (94-114). Sie zeigt, dass pädagogische Beziehungen u.a. in Machtverhältnisse eingebettet sind und weitere Fragen nach dem pädagogischen Eros und den Grenzen pädagogischer Wirksamkeit aufwerfen. Für Jergus bleibt das Generationenverhältnis ein zentraler Bezugspunkt für das pädagogische Nachdenken, da es sowohl die Einführung in gesellschaftliche Ordnungszusammenhänge als auch den „Streit um die Geltung des Bestehenden“ (109) thematisiere. Die Einführung in Ordnungszusammenhänge wird im Beitrag „Reflexive Reartikulationen und generationale Wissensdifferenzen“ von Melanie Schmidt und Daniel Wrana (115-135) empirisch am Beispiel der Lehramtsausbildung aufgegriffen. Sie untersuchen in ihrer qualitativen Studie Reflexionsgespräche zu studentisch verantworteten Unterrichtsstunden mit Dozierenden, Lehrkräften und Studierenden und rekonstruieren dabei drei Spielarten der generationalen Weitergabe pädagogischen Wissens.
Diese reichen von der Adressierung der Studierenden als lernende Noviz*innen über eine disziplinierende Unterwerfung unter eine ‚richtige‘ Praxis bis hin zu einer Vermittlung zwischen differenzierten (vermeintlich richtigen und anderen) Lesarten. Jeannette Windheuser (136-154) beleuchtet schließlich den Aspekt der Geschlechtlichkeit in generationellen Weitergabeprozessen und führt in Bezugnahme auf Elena Ferrante das Konzept der „Frantumaglia“ (136) als Symbol und Metapher für die Verknotung von Generation und Geschlechtlichkeit ein. Sie analysiert die Positionen der Aktivistin des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) Helke Sanders. Anhand der Diskussion um Betreuungsfragen im Kontext der bevorstehenden Vietnamkonferenz 1968 wird einerseits die Idee und Entstehung der Kinderladenbewegung rekonstruiert und andererseits deutlich gemacht, dass auch die progressive 68er-Bewegung von patriarchalen Strukturen geprägt war.
Der zweite Teil bietet eine kritische Betrachtung politischer und gendertheoretischer Aspekte des Generationenverhältnisses und hebt dessen Verstrickung mit Macht- und Geschlechterdimensionen hervor.
“’Teil III Zukunft und Gerechtigkeit der Generationen“‘
Im ersten Beitrag dieses Abschnittes diskutiert Fabian Kessl (156-169) am Beispiel der Fridays for Future-Bewegung eine symbolische Umkehrung des traditionellen Generationenverhältnisses. Diese Umkehr entstehe, da jüngere Generationen die Rolle der Vernünftigen und Mündigen einfordern und älteren Generationen Verantwortungslosigkeit vorwerfen würden. Kessl sieht darin zugleich ein pädagogisches Programm: Eine „Pädagogik der Verzweiflung“ (163), die das unvernünftige Verhalten der Älteren thematisiert und gleichzeitig auf den Verlust utopischen Denkens hinweist. Ein etwas anderes pädagogisches Programm wird im Anschluss von Kirsten Meyer im Beitrag „Bildung als Beitrag zur Generationengerechtigkeit“ (170-186) formuliert. Sie sieht im Topos Generationengerechtigkeit ein zentrales Bildungsziel und reflektiert, wie in der Schule Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit als Themen im Kontext ethischen Urteilens behandelt werden können. Steffen Hamborg ergänzt diese Perspektive mit einer dekonstruierenden Betrachtung des Nachhaltigkeitsdiskurses und problematisiert das Konzept der Generativität in Bildungskontexten (187-202). Er argumentiert, dass mit dem Diskurs zu Bildung für nachhaltige Entwicklung auf Krisen der Moderne mit den Mitteln der Modernen reagiert werde (z.B. Zentralität des Individuums oder Höherbildung der Menschheit). Darin bestehe u.a. die Gefahr einer Instrumentalisierung von Zukunftsthemen und einer Verantwortungsdiffusion, bei der die Lösung heutiger Probleme auf die jüngere Generation übertragen werde.
Dieser Abschnitt des Sammelbandes beleuchtet das Thema Generation im Kontext von Zukunft und Gerechtigkeit anhand aktueller Entwicklungen wie Klimagerechtigkeit und Bildung für nachhaltige Entwicklung. Anregend wirken dabei Thesen zur Umkehr des Generationenverhältnisses sowie die kritische Dekonstruktion normativer Bildungskonzepte.
“’Teil IV Geben und Nehmen zwischen den Generationen“‘
Im ersten Beitrag in diesem Teil von Anselm Böhmer „Fremden geben. Überlegungen zu einer Formenlehre politischer Bildung im Modus der Gabe“ (204-220) wird argumentiert, dass in modernen Gesellschaften Generationen zunehmend als getrennte „Singularität“ (204) betrachtet werden und dass das Fremde, das jede Generation für die andere darstellt, in der politischen Bildung als Gabe interpretiert werden kann. Auf dieser Basis unternimmt Böhmer den Versuch, eine generationssensible Formenlehre politischer Bildung zu entwerfen.
Dabei wird politische Bildung als generationale Auf-Gabe betrachtet, die als Form solidarischer Übergabe, solidarischer Beratung oder als Relationierung von Solidarität und Fremdheit gedacht werden könne. Mit der Frage was passiert, wenn eine solche Gabe nicht angenommen wird, beschäftigt sich der anschließende Beitrag von Kai Wortmann und Bianca Thoilliez (221-237). Sie beleuchten anhand der literarischen Erzählung „Comfort“ von Alice Munro die Problematik, wenn eine Generation die Gabe der Bildung und Erziehung bewusst zurückweist oder scheitern lässt. In der Geschichte von Munro geht es um einen Lehrer, der nach dem vermeintlichen Scheitern seines pädagogischen Auftrags eine radikale Entscheidung trifft. Diese Erzählung wird genutzt, um – unter Rückgriff auf Hannah Arendts Konzeptionen von Natalität – über die Möglichkeit und die Folgen einer Ablehnung der generationellen Weitergabe nachzudenken. Abschließend greift Jörg Zirfas in seinem Beitrag (238-254) das Konzept der Gabe aus erziehungsphilosophischer Sicht auf und untersucht, inwiefern Erziehung selbst als Gabe interpretiert werden kann. In der Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu wird hinterfragt, ob Erziehung als ökonomische Tauschbeziehung verstanden werden kann, bevor Marcel Mauss‘ Konzept der Gabe im Kontext des Schenkens und Jacques Derridas Idee der Verausgabung betrachtet werden. Letztere unterscheidet sich von der Tauschlogik, da sie als a-ökonomisch gilt – ohne den Anspruch auf Gegenseitigkeit. Obwohl alle drei Ansätze nur eingeschränkt auf Erziehungsbeziehungen übertragbar sind, lässt sich nach Zirfas Erziehung als „intendierter Tausch in der Hoffnung auf Antwort“ (251) verstehen, da insbesondere durch das Einbringen von Vertrauen soziale Verbundenheit und Anerkennung entstehen können.
Der vierte Teil des Sammelbands bietet daher eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern Bildung und Erziehung als Gabe konzeptualisiert werden und welche Reaktionen (Annahme, Rückgabe oder Verweigerung) damit verbunden sein können.
“’Resümee“‘
Der Sammelband „Generation und Weitergabe“ greift ohne Zweifel ein zentrales und brisantes Thema für die Pädagogik auf: die Rolle des Generationenverhältnisses und die damit verbundenen Praktiken des Tradierens, Aneignens und Transformierens. Die erneute erziehungswissenschaftliche Vergewisserung dieses Verhältnisses erscheint aus mehreren Gründen relevant. Zum einen rücken aktuelle gesellschaftliche Bewegungen, insbesondere die Klimagerechtigkeitsbewegung, das Generationenverhältnis in ein neues Licht und stellen bisherige Selbstverständlichkeiten infrage. Gerade junge Menschen nehmen eine aktive Rolle im öffentlichen Diskurs ein und fordern von älteren Generationen Verantwortung und Weitsicht. Dies wirft die Frage auf, wie die Pädagogik und Erziehungswissenschaft diese Entwicklungen interpretieren und kritisch reflektieren kann. Zum anderen sind es nicht nur politische Bewegungen, sondern auch populäre, nicht immer empirisch fundierte Diskurse über Generationen, die das Bild von Generationen und deren spezifischen Eigenschaften prägen. Begriffe wie ‚Generation Y‘, ‚Generation Z‘ oder ‚Generation Alpha‘ etablieren spezifische Vorstellungen über das Wesen und die Werte einzelner Generationen und finden Einzug in öffentliche Debatten, die oft auf stereotypischen Annahmen beruhen. Eine erneute erziehungswissenschaftliche Reflexion ist daher mehr als gerechtfertigt. Die Vielfalt der Zugänge und Perspektiven mag mitunter heterogen wirken, doch gerade diese Breite ermöglicht eine eindrucksvolle Spannweite an erziehungswissenschaftlichen und philosophischen Einsichten. Viele der Ansätze – ob praxistheoretisch, erzähltheoretisch, erziehungswissenschaftlich oder historisch – enthalten anregende Ideen. Interessant erscheint, dass in einigen Beiträgen die Relevanz generationaler Verhältnisse für die Pädagogik – also der Ausgangspunkt des Sammelbandes – in Frage gestellt, negiert oder dethematisiert wird.
Darüber hinaus fällt auf, dass interdisziplinäre Differenzierungen der Generationenbegriffe nur in wenigen Beiträgen enthalten sind. Dies führt mitunter dazu, dass der Fokus implizit auf pädagogische Generationenbeziehungen beschränkt bleibt, obwohl insbesondere bei zukunftsbezogenen Themen soziologische Konzepte als Bezugspunkte anregend gewesen wären. Schließlich stechen im Sammelband auch besonders originelle Beiträge (z.B. Schmidt und Wrana, Windheuser, Kessl, Hamborg, Wortmann und Thoilliez) hervor, die Wege jenseits der historisch-theoretischen Konzeption gehen und empirisch die Praxis der generationalen Weitergabe untersuchen, eine Analyse eines literarischen Werks vornehmen, Ausrichtungen des Generationenverhältnisse neu denken oder bestehende Bildungsansätze kritisch hinterfragen. Diese spezifischen Perspektiven regen zu neuen Überlegungen an und bieten eine solide Grundlage, um das Generationenverhältnis und die Praktiken der Weitergabe zukunftsgerichtet zu denken. Diese Aspekte bieten auch Anregungspotenziale für die Erwachsenenbildungspraxis, in der dem Lernen zwischen verschiedenen Generationen im Kontext des demografischen Wandels eine wichtige Bedeutung zukommt und auch die Perspektiven der jüngeren Generationen (z.B. Kessl) hier als eine Reflexionsgrundlage für das Nachdenken über die Gestaltung von Weitergabepraktiken in informellen und non-formalen Bereichen der Erwachsenenbildung eingeordnet wird.