Katharina Gather/Ulrich Schwerdt/Norbert Grube

Das Historische als Argument

Geschichtsbezüge in Bildungsdebatten
Frankfurt a.M.: Peter Lang 2024
(220 S.; ISBN: 978-3-631-89573-3; 44,95 EUR)

Historische Argumentationsfiguren finden sich nicht nur in der gern bemühten Phrase eines ‚früher war alles besser‘, sondern ebenso in (bildungs-)politischen Debatten und dienen dort der Bekräftigung der je eigenen Argumentation. Dabei bleibt die Historizität der Argumentation i.d.R implizit. In der neu aufgelegten Reihe der „Studien zur Bildungsreform“ erscheint als zweiter Band nun eine Anthologie unter dem Titel „Das Historische als Argument“. Herausgegeben von Katharina Gather, Ulrich Schwerdt und Norbert Grube – die auch die Buchreihe selbst verantworten – gehen die Beiträge des Tagungsbandes von der Forderung Gerhard Klucherts aus, „Geschichte als Argument in der bildungspolitischen Debatte“ [1] zu untersuchen. Entsprechend kreisen die Beiträge um die „Frage, wie und in welchen pädagogischen Zusammenhängen auf geschichtliche Dimensionen und Ereignisse, auf Vergangenheiten, ein vages ‚Früher‘ und auf geschichtskulturelle Narrative rekurriert wird und wie das Historische in Kontexten von Bildung und Erziehung überhaupt als solches in den jeweiligen Debatten emergiert“ (18). Dabei gehen die Herausgeber:innen in ihrer Einleitung davon aus, dass Erziehung, Bildung und Geschichte in der Moderne angesichts des Zukunftsbezugs von Pädagogik und den ihr inhärenten historischen Bezügen „funktional verflochten“ (20) seien. Die Suche nach entsprechenden argumentativen Indienstnahmen von Geschichte zieht sich dabei als roter Faden durch die einzelnen, thematisch doch sehr unterschiedlich gelagerten Beiträge.

Der Band gliedert sich in drei thematische Abschnitte, was eine grobe Sortierung ermöglicht. Den ersten Abschnitt „Bildungsreformdebatten und fachliche Diskurse“ eröffnet der Beitrag „Bildung, Geschichte und Nation“ von Julia Kurig. Ausgehend von der „These“, „dass die Schwelle zwischen spätem Mittelalter und früher Neuzeit eine für die Entwicklung neuzeitlicher pädagogischer Argumentationsmuster in Deutschland bedeutsame Periode war“ (37) arbeitet Kurig heraus, wie sich um 1500 im Anschluss an den italienischen Humanismus ein deutscher Humanismus formiert, der das Historische als argumentatives Muster aufgreift, um durch „neue ‚ruhmvolle‘ historische Narrative und Konstruktionen“ (47) zur Nationenbildung beizutragen. Sabrina Sattler schließt mit „Historische Legitimationsstrategien der mehrsprachigen Bildungsplanung des Luxemburger Schulwesens seit dem 19. Jahrhundert“ an und untersucht, wie das Historische schon während der Nationenbildung „als sprachplanerische[r] Legimitationsbezug“ (57) herangezogen wurde. In Luxemburg stehen bis heute verschiedene Sprachen in Konkurrenz zueinander, wobei Luxemburgisch als „‚Sprungbrettsprache‘“ (S. 70) vom Deutschen hin zum Erwerb des Französischen gilt; eine Annahme, die selbst als historisches Narrativ zu verstehen ist. Es folgt der Beitrag zu „Geschichtsbezügen in westdeutschen Bildungsreformdebatten der 1960er und 70er Jahre“ der Herausgeber:innen Gather, Grube und Schwerdt. Anhand von drei Bildungsreformdebatten zeichnen die Autor:innen unterschiedliche argumentative Verwendungen des Historischen nach: „Geschichte als Unausweichlichkeit und Auftrag zur Überwindung von Vergangenheit“ (79), „Geschichte als Handlungsimperativ“ (86) und das „Historische als Struktur des ‚Allgemein-Bedeutsamen‘“ (93). Deutlich wird hier, wie das Historische insbesondere implizit Bedeutung erlangt und eher im Sinne einer „geteilte[n] Verständnisbasis“ (99) agiert. Im den Themenblock abschließenden vierten Beitrag fragt Sebastian Gräber nach dem „Geschichtsbegriff und seiner argumentativen Funktion bei Herwig Blankertz“. Gräber arbeitet ein Changieren von Blankertz‘ Geschichtsbegriff „zwischen Geisteswissenschaftlicher Pädagogik und Kritischer Theorie“ mit der Absicht, diese „zu harmonisieren“ (109), heraus. Eine Analyse von Blankertz‘ Lehrunterlagen und Briefen offenbart drei Phasen seines Umgangs mit Geschichte: Auf die Übernahme des historisch-systematischen Ansatzes der geisteswissenschaftlichen Pädagogik folgt eine die Kritische Theorie affirmierende Gegenposition, was schließlich im Versuch ihrer Synthese mündet.

Den Abschnitt „Bildungspolitische Ambitionen in sozialen Bewegungen“ eröffnet der Beitrag von Elija Horn zur „doppelten Historisierung“ (134) der Indienbezüge in Jugendkulturen des 20. Jahrhunderts: Zum einen finden sich, wie bei Paul Natorp und im Wandervogel, um 1918 zahlreiche Bezüge auf ein vergangenes Indien als Wiege der Menschheit im Allgemeinen und des Deutschen im Besonderen, die letzten Endes auf eine „doppelte Aufwertung Deutschlands“ hinausliefen: „einmal durch die vermeintlich geistig-stammesgeschichtliche Verwandtschaft mit dem ‚alten‘ Indien und durch die gegenüber dem nun zurückgebliebenen Indien erlangte Überlegenheit“ (141). Zum anderen arbeitet Horn am Beispiel der religiösen 68er-Bewegung der Neo-Sannyasins deren Praxis einer „Selbst-Orientalisierung“ (143) heraus, in der Indien wiederum als verlorenes Paradies imaginiert wird. Die jeweiligen Indienbilder fungieren je als pädagogischer Impuls, an dem sich die Erziehung der „neuen Menschen“ (148) ausrichten soll. Andrea De Vincenti und Andreas Hoffmann-Ocon analysieren anschließend „Bezugnahmen auf Vergangenes in Debatten um Schule und Kindergarten in der Zürcher Lehrer:innenbildung der 1960er und 70er Jahre“. U.a. am Beispiel der Methodiklehrerin Barbara Haug zeigen sie, wie „das Kind“ eine vergangene Idealwelt verkörpert, die der „als dekadent gezeichneten Gegenwart“ (157) in Reformabsicht entgegengesetzt wird. Dem zugrunde liegt das historische Argument, „über eine Bewahrung des ursprünglichen Selbst oder dann über eine Veränderung des eigenen Selbst könne auch die Bezugsgruppe oder gar die Gesellschaft verändert werden“ (168).

Den letzten Block zu „Erinnerungs- und geschichtspolitischen Diskursen“ eröffnet der Beitrag von Habbo Knoch, der Adornos Postulat der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ als „unvollendetes Projekt“ beschreibt. Adornos Forderung nach einer Aufarbeitung der Shoa habe sich von einer normativen Zukunftserwartung zur Retrospektion einer vermeintlichen Erfolgsgeschichte gewandelt. Anstatt jedoch die Herrschaftsverhältnisse abzuschaffen, die die Shoa ermöglichten, habe die Narration der Aufarbeitung die längste Zeit im „Paradigma der opferbezogenen Erinnerung“ (186) gestanden und sei mittlerweile versöhnlich in das Selbstbild der deutschen Gesellschaft als „erfolgreiche[r] Fluchtpunkt“ (191) einer positiven Selbsterzählung integriert. Den Abschluss bildet Johannes Richters Beitrag zu Verschickungskindern in Kurheimen um Hamburg zwischen 1945 und 1980. Richter fragt nach den Motiven „aktuelle[r] Aufarbeitungsdiskurse“ und danach, weshalb diese „zur Historisierung neigen“ (199). Die Debatte um Kindesmissbrauch in den zur Rehabilitation eingerichteten Heimen berge interessanterweise keinen Aktualitätsbezug, sofern ihre Politisierung nicht mit der Forderung nach einer Reform pädagogischer Praxis verbunden wird. Richter plädiert abschließend dafür, dieses Fehlen eines Gegenwartsbezugs als einen besonderen „Modus des Gebrauchs von Geschichte“ (213) zu diskutieren.

Der Sammelband bietet einen guten Einstieg in die Thematik des Historischen als Argument und regt zur kritischen Reflexion von impliziten wie expliziten historischen Argumentationsmustern an. Angesichts der Verflochtenheit von Erziehung, Bildung und Geschichte wäre in der Gesamtschau des Bandes sicherlich eine stärkere Systematisierung der Beiträge hinsichtlich des Erkenntnisgewinns des Historischen als Argument wünschenswert gewesen. Diese wird insbesondere durch die zeitlichen und geografischen Sprünge zwischen den Beiträgen erschwert. Doch auch wenn angesichts dieser Heterogenität nicht alle Leser:innen sämtlichen Beiträgen mit demselben Interesse begegnen werden, liegt in diesem breiten Spektrum gleichsam eine Stärke des Bandes, da die jeweiligen historischen Argumentationsfiguren in sämtlichen Texten so interessant wie lesbar herausgearbeitet werden. Dadurch kann der Band einem breiten bildungsgeschichtlich interessierten Publikum zur Lektüre empfohlen werden.

[1] Kluchert, Gerhard (2018). Bildungsreform und Bildungsgeschichte. Überlegungen zu einer schwierigen Beziehung. In Wilfried Göttlicher, Jörg W. Link & Eva Matthes (Hg.), Bildungsreform als Thema der Bildungsgeschichte. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 15–34, hier: S. 16.

Zur Zitierweise der Rezension
Daniel Lieb, Sophia Schorr (Jena, Frankfurt): Rezension von: Katharina Gather/Ulrich Schwerdt/Norbert Grube: Das Historische als Argument. Geschichtsbezüge in Bildungsdebatten. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2024 (220 S.; ISBN: 978-3-631-89573-3; 44,95 EUR). In: EWR 24 (2025), Nr. 1 (Veröffentlicht am: 13. Februar 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/02/das-historische-als-argument/