Florian Ohnmach

Antirassismus und Privilegien

Rassismuskritische Subjektbildungen in der postmigrantischen Gesellschaft
Bielefeld: transcript 2023
(394 S.; ISBN: 978-3-8376-6696-0; 54,00 EUR)

Wie Einzelsubjekte innerhalb rassistischer Strukturen Selbst- und Weltverständnisse entwickeln, ist in der Rassismusforschung mit einem Fokus auf rassistisch belangbare Subjekte vielfach in den Blick genommen worden. Arbeiten, die sich mit weißer Subjektbildung im Kontext von Rassismus auseinandersetzen, liegen hingegen noch vergleichsweise wenig vor. Mit seiner qualitativ-empirischen Dissertationsstudie „Antirassismus und Privilegien. Rassismuskritische Subjektbildungen in der postmigrantischen Gesellschaft“ knüpft Florian Ohnmacht an dieses Desiderat an. Dabei spitzt er den Blick auf Subjektivierungsprozesse von Personen zu, die sich im Rahmen eines antirassistischen Engagements in aktivistischen Kontexten bewegen, in denen die kritische Reflexion “weißer“ Privilegien, postkolonialer Machtverhältnisse und der eigenen Position darin eine wichtige Rolle spielt. Anhand von biographischen Erzählungen von zehn männlich gelesenen, weißen Personen unterschiedlichen Alters analysiert Ohnmacht die biographischen Prägungen durch Rassismen und fokussiert dabei auf die Entwicklung rassismuskritischer und antirassistischer Strategien. Die in der Studie vorgenommene wissenschaftliche Fokussierung auf die privilegierte Position des weißen Mannes situiert Ohnmacht dabei kritisch-reflexiv im Spannungsfeld von Essentialisierungsgefahr auf der einen und einem Machtrelativismus auf der anderen Seite.

Das Buch führt im ersten Teil in die vier theoretischen Grundpfeiler der Studie ein: Rassismen, Antirassismus, Subjektivierung, postmigrantische Gesellschaft. Aufbauend auf einer Einführung in zentrale Konzepte und Diskussionen der Postcolonial Studies sowie der kritischen Weißseinsforschung/Critical Whiteness Studies, entwickelt Ohnmacht ein Verständnis von Rassismus als gesellschaftliches Machtverhältnis und symbolischer Ordnung, die Diskurse, institutionelle Strukturen, Praktiken und Subjektvorstellungen formt. Zentral ist für ihn die Kategorie der Rassismuserfahrung, die er für seine Befragtengruppe vor allem als Privilegierungserfahrungen konkretisiert. Angesichts der Unmarkiertheit weißer Positionen geht es Ohnmacht v.a. um die empirisch zu ergründende Frage, „ob eine politische Positionierung als Antirassist oder rassismuskritischer Aktivist hier einen Einfluss auf das Wissen über und die Wahrnehmung der eigenen sozialen Position und der damit zusammenhängenden sozialen wie politischen Positionierung hat“ (85). Was dabei unter Antirassismus und antirassistischem Engagement zu verstehen ist, ist, wie Ohnmachts Rekonstruktionen der breiten Landschaft des Antirassismus und antirassistischer Kämpfe zeigen, selbst Teil diskursiver Aushandlung.

Um das Verhältnis von diskursiven Strukturen und konkreten Subjekten zu konzeptualisieren und empirisch erforschbar zu machen, wird im nächsten Schritt ein an Althusser, Foucault und Butler anschließendes subjektivierungstheoretisches Analyseinstrumentarium vorgestellt. Methodologisch übersetzt im Sinne einer empirischen Subjektivierungsforschung [1] vermag dieses sowohl die Unterwerfung der Subjekte unter machtvolle gesellschaftliche Ordnungen wie Rassismus, als auch die relative Handlungsmacht der Subjekte in den Blick zu nehmen. Mittels eines Gesellschaftsverständnisses als postmigrantisch stellt Ohnmacht schließlich mit konkreterem Bezug auf den österreichischen Kontext unterschiedliche wirkmächtige Rassismen heraus (etwa Antisemitismus, antimuslimischer und antiziganistischer, postkolonialer, migrantischer und antislawischer Rassismus).

Diese umfassenden und kenntnisreichen theoretischen Ausführungen dienen sodann nicht nur als theoretische Forschungsperspektive, sondern angesichts des Erkenntnisinteresses an “weißer“ Subjektbildung im Kontext des Antirassismus ebenso als Kontextualisierung des Gegenstandes selbst.

In den daran anschließenden methodischen Überlegungen erfolgt eine knappe Diskussion der Verbindung von Diskurs- und Biographieforschung sowie die Vorstellung des narrativ-biographischen Interviews und der Rekonstruktion narrativer Identität. Weitere methodologische Ausführungen dazu, wie sich die Wahl der Auswertungsmethode angesichts einer zuvor erfolgten Abgrenzung vom Identitätsbegriff zugunsten des Konzepts der Subjektivierung verhält, wären an dieser Stelle spannend gewesen.

Der empirische Teil der Arbeit widmet sich vier Fallrekonstruktionen, die diskursive Bezüge, Positionierungen und Praktiken herausarbeiten sollen. Dabei wird dem facettenreichen empirischen Material viel Raum geschenkt, indem auch Interviews jenseits der umfassenden Fallrekonstruktionen im Rahmen von kürzeren Falldarstellungen vorgestellt und somit in der Gesamtschau besprochen werden. Die empirischen Rekonstruktionen führen eindrücklich vor, wie unterschiedlich Rassismus und die eigene Positionierung innerhalb rassistischer Verhältnisse verstanden und biographisch verarbeitet werden. Gerade der biographische Zugang macht hier sichtbar, inwiefern die Befragten in rassistische Wissensbestände hineinsozialisiert wurden. Dabei wird dieses Wissen „zum Teil reflektiert und verlernt, andernorts ist es aber grundlegend für soziale wie politische Positionierungsprozesse“ (322). Ohnmacht hält fest, dass – trotz Selbstbeschreibung der Befragten als antirassistisch engagiert – etwa in der Hälfte der Interviews Rassismus nicht thematisiert wird, was er auf Wissensdefizite, fehlende Privilegierungserfahrungen und eine angelernte Ignoranz für Rassismuserfahrungen zurückführen kann. Als durchaus ambivalente antirassistische Selbsttechniken, die in unterschiedlichem Maße in den Interviews kritisch reflektiert und auf eigene Positioniertheiten bezogen werden, stellt der Autor Reisen (v.a. in postkoloniale Kontexte), Auseinandersetzung mit kritischen theoretischen Lektüren sowie Anknüpfungen an antirassistische Traditionslinien heraus. Im Rahmen der Frage nach rassismuskritischer Subjektbildung wird deutlich, dass sich Scheitern in der Auseinandersetzung mit Rassismus und Antirassismus für die kritische Auseinandersetzung als produktiv erweist („Voran-Scheitern“, 333f.), sich Prozesse der Re-Positionierung, der Wieder- und Neubesetzung privilegierter Positionen, mit solidarischen politischen Positionierungen kombinieren und Erfahrungen mit Rassismus und Privilegierung, sowohl eigene als auch die anderer, anerkannt statt angeeignet werden können.

Ohnmachts empirische und durchaus kontrastreiche Analysen führen dabei eindrucksvoll vor, wie mittels verschiedener diskursiver Bezüge antirassistisches politisches Engagement sehr unterschiedlich konstruiert wird und zeigen dabei das Untersuchungsfeld selbst als vielstimmige diskursive Praxis und Feld diskursiver Aushandlungen. Neben dem Fokus auf rassistische Strukturen macht die Studie implizit auch die Rolle von klassenbezogener Privilegierung im Kontext antirassistischer Engagements sichtbar, die v.a. in den Thematisierungen von Reisen, aber auch intellektueller Räume und Studienbiographien sichtbar wird. Gerade aus subjektivierungstheoretischer Perspektive wäre es – sicherlich auch für das auf Subjektbildung gerichtete Erkenntnisinteresse – interessant gewesen, die Interviewsituation selbst als Situation der performativen Hervorbringung, Wiederholung und Brechung diskursiver Stränge analytisch zu beleuchten. Angedeutet wird die Relevanz des Interviews als Positionierungs- und Aushandlungsraum z.T. in den kurzen Beschreibungen der Interviewsituation. Dies verweist auf das Potenzial, insbesondere angesichts geteilter und nicht-geteilter Positionierungen mit dem Forscher (“weiß“, männlich, ‚antirassistisch‘ ‚gebildet‘, Alter) Räume des (Un-)Sagbaren auch empirisch zu rekonstruieren.

Gleichwohl handelt es sich bei Florian Ohnmachts Studie um eine äußerst lesenswerte, theoretisch wie empirisch überzeugende Arbeit, von der sicherlich nicht nur eine an “weißen“ Subjektpositionen interessierte Rassismus- und Subjektivierungsforschung angeregt werden kann, sondern aus der auch über wissenschaftliche Kontexte hinaus Gelingensbedingungen antirassistischer und rassismuskritischer Einsätze privilegiert Positionierter abgeleitet werden können.

[1] Bosancic, S.; Brodersen, F.; Pfahl, L.; Schürmann, L.; Spies, T. & Traue, B. (2022): Following the Subject. Grundlagen und Zugänge empirischer Subjektivierungsforschung. Springer VS Wiesbaden.

Zur Zitierweise der Rezension
Marie Hoppe (Bremen): Rezension von: Florian Ohnmach: Antirassismus und Privilegien. Rassismuskritische Subjektbildungen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript 2023 (394 S.; ISBN: 978-3-8376-6696-0; 54,00 EUR). In: EWR 24 (2025), Nr. 1 (Veröffentlicht am: 13. Februar 2025), URL: https://ewrevue.de/2025/02/antirassismus-und-privilegien/