Kompetenzen feststellen – Entwicklungsbedarfe identifizieren – Förderplanung umsetzen
Weinheim Basel: Beltz 2021
(728 S.; ISBN: 978-3-407-83200-9; 58,00 EUR)
Das ‚Handbuch Inklusive Diagnostik‘ adressiert Lehrpersonen und nimmt dabei Bezugsdisziplinen wie Sonderpädagogik, Allgemeine Pädagogik, Therapie, Psychologie und Medizin neben der Inklusionspädagogik zu Hilfe, um (schul)praktische wie (bildungs- und sozial-)wissenschaftliche Aspekte zu thematisieren. In fünf Bereiche gliedert sich das umfangreiche Handbuch, das
theoretische Grundlagen, methodische Ansätze und praktische Umsetzungsmöglichkeiten aufzeigt, um Kompetenzen und Entwicklungsbedarfe zu erfassen sowie Förderkonzepte zu entwickeln.
Teil 1 ‚Grundlagen‘ startet mit einem Beitrag, der unter anderem inklusive Standards und Rahmenbedingungen inklusiver Didaktik darlegt, sowie die Gefahr der Stigmatisierung durch die Konstruktion von Gruppen von Menschen, die nicht entsprechen, anspricht. In weiteren Beiträgen folgen die Auseinandersetzung mit Formen, Zielsetzungen und Funktionen von Diagnostik, Kompetenzorientierung und Fragen der Unterrichts- und Schulqualität sowie mit medizinischen Klassifikationssystemen. Auch die von der WHO herausgegebenen, interdisziplinär gedachte ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) wird vorgestellt, welche als bio-psycho-soziales Modell neben Gesundheit, Körperfunktionen und -strukturen auch Teilhabe und Aktivitäten sowie sowohl personenbezogene Faktoren als auch Umweltfaktoren miteinbezieht. Auch wenn hier wieder in Kategorien gedacht wird, so entsteht ein ganzheitlicheres Bild von Schüler:innen und ihrem Umfeld.
Unterschiedliche im ersten Abschnitt präsentierte Verfahren zur Lern- und Entwicklungsstands-Erhebung wie quantitative Tests, quantitative Methoden wie Beobachtungen (die in einer Grafik mit informeller Diagnostik verbunden dargestellt werden, wobei diese als wissenschaftliche Methode eigentlich qualitativen Gütekriterien entsprechen sollten) und auch dialogische Ansätze oder Portfolios, die sich im Rahmen eines formativen Assessments einsetzen lassen, bieten Potentiale und Chancen. Diese werden – auch in anderen Teilen des Buches – diskutiert.
Zudem wird mehrfach auf die UN-Behindertenrechtskonvention, die die uneingeschränkte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen und somit auch schulischen Leben anspricht, verwiesen sowie gegenwärtige Entwicklungen, die mit Standardisierung, formalistisch und juridisch begründetem Vorgehen sowie Argumenten wie Zeit, Tradierung und Gewohnheit inklusive Entwicklungen erschweren, angesprochen. Hier wird das Spannungsfeld, in welchem sich die Schule bzw. die Pädagog:innen befinden, deutlich.
Teil 2 widmet sich den verschiedenen fachorientierten Fragestellungen und thematisiert u.a. Herausforderungen beim Schriftsprache-Erwerb oder im mathematischen Bereich sowie qualitative Analysen von Schreibprodukten. Mehrsprachigkeit im Unterricht wird ebenso zum Thema wie Diagnostik im Kontext von Bewegung und Wahrnehmung oder der bildnerisch-ästhetische Aspekte. Dieser Teil des Handbuches stellt anhand von Beispielen für Lernstandserhebungen, die auch Stärken und Fähigkeiten sichtbar machen bzw. dort ansetzen, mit illustrierenden Abbildungen sowie für Konzepte der Förderung einen gut nachvollziehbaren Bezug zum unterrichtspraktischen Tun her.
Der dritte Teil fokussiert die Förderplanung. Mögliche Ablaufschritte und die Wirkung der Förderplanung auf die Wahrnehmung und Begleitung der Schüler:innen wird aufzeigt, besonders wenn diese kollaborativ und kommunikativ-partizipativ erstellt, reflektiert, evaluiert und fortgeschrieben sowie als Teil der Schulkultur betrachtet wird. Bedeutsame Elemente förderorientierter Prozesse wie formatives Assessement, Portfolio-Arbeit oder Feedback werden praxisbezogen dargestellt und auch der Bezug zu ICF und Teilhabezielen hergestellt. Die zunehmende Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien und deren Möglichkeiten, Chancen und Herausforderungen, werden an dieser Stelle ebenfalls skizziert.
Teil 4 widmet sich spezifischen Fragestellungen. So werden neben der Frühförderung, Autismus, unterstützter Kommunikation und Übergang ins Berufsleben, Themen in den Förderschwerpunkten Sprache, sozial-emotionale Kompetenzen und Verhalten, Lernen, Kognition sowie Begabung und Fluchtgeschichte behandelt.
Manche der hier genannten Tests und Verfahren werden nicht von Lehrpersonen durchgeführt. So gehören beispielsweise Intelligenztestungen sowie autismusspezifische Tests wie ADOS oder ADI-R in den Tätigkeitsbereich von (Klinischen) Psycholog:innen. Interdisziplinäre Vernetzung und Zusammenarbeit ist bei der inklusiven Diagnostik bedeutsam. Eine Klärung von Rollen und Aufgabenbereichen einzelner Professionist:innen ist für gelingende Kooperation bedeutsam und könnte deutlicher gemacht werden.
Abgerundet wird dieser Teil mit der kritischen Auseinandersetzung mit RTI, dem Response-to-Intervention-Konzept, einem stufenweise aufgebauten, evidenzbasierten Mehrebenen-Programm zur Prävention und Intervention bei Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten, welches Fähigkeiten und die Frage nach Wirksamkeit in den Mittelpunkt rückt.
Der fünfte und letzte Teil widmet sich dem Ausblick einer inklusiven Diagnostik, die durch einen aktiven, dialogischen, ko-konstruktiven Prozess gekennzeichnet ist, und nimmt Biografisches, Lernprozesse und Lernergebnisse in den Fokus. Auch unterschiedliche Grenzen der Diagnostik werden thematisiert.
Neben Diagnostik als strukturierendem [2] Element für pädagogische Arbeit, gilt Beratung als koordinierend [2] und stellt ebenfalls eine bedeutsame Kompetenz von Lehrpersonen dar, der ebenfalls im letzten Teil Rechnung getragen wird. Kollegiale Fallberatung bei Problemstellungen kann hilfreich sein und im Verständnis, dass alle Lehrer:innen für alle Schüler:innen und die gemeinsame Schulkultur verantwortlich sind, können Lösungen im Team gefunden und umgesetzt werden.
Nicht nur innerhalb der Profession stellt Kooperation eine zentrale Gelingensbedingung dar, auch multiprofessionell und im Austausch mit außerschulischen Institutionen ist diese bedeutsam. Dem wird durch die exemplarische Darstellung der Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie Rechnung getragen und die Bedeutsamkeit von Kooperation sowie Wissen, Mut, Entschlusskraft und Respekt in Hinblick auf mögliche unterschiedliche Lebensverläufe von Kindern und Jugendlichen anschaulich gemacht.
Das Buch bietet bedeutsame Informationen, die gut nachvollziehbar in fachsprachlicher Ausführung den Wissensstand über spezifische Fachbereiche darstellt. Schlagwörter und aussagekräftige Zusammenfassungen geben einen hilfreichen thematischen Überblick. Beiträge mit Falldarstellungen und Visualisierungen von Schüler:innenarbeiten nehmen klaren Bezug zu schulischen Tätigkeitsfeldern. Die Beiträge in Teil 3 ergeben in ihrer Gesamtheit ein umfassendes Bild. Die Einbettung in umfassendes theoretisches und System reflektierendes Wissen, das in Teil 1 und 5 dargelegt wird, ermöglicht eine vertiefte Auseinandersetzung und Einordnung der Inhalte.
Diagnostik in der inklusiven Pädagogik nimmt die Individualität der Schüler:innen mit ihren einzigartigen Stärken und Schwächen entwicklungssensibel in den Blick, um gemeinsam den Lern- und Entwicklungsstand zu erfassen, Lernprozesse zu analysieren und Lernbarrieren und -ressourcen transparent zu machen [3]. Ein kritischer Blick auf den Erkenntniswert bestimmter Kategorien, der Beachtung von Intersektionen, von überschneidenden Gruppenzugehörigkeiten, sowie die Betrachtung der individuellen Lebensgeschichten samt der sozialen Umgebung ist dabei von Nöten. Hierauf könnte noch verstärkt hingewiesen werden.
Die Reflexion der Umwelt und der Versuch, Barrieren zu identifizieren und abzubauen bzw. zu verringern [3] sowie die Möglichkeiten der Adaption [2] der Lernumgebungen samt Ideen zur Unterrichtsorganisation und -gestaltung, wird im Buch, das explizit Lehrpersonen als Zielgruppe definiert, selten zum Thema gemacht und sollte in der inklusiven Schule verstärkt in den Fokus rücken.
Resümierend lässt sich festhalten, dass das vielfältige Themen aufgreifende Werk, das mit hoher Expertise aktuelle Themen anspricht, diese durchaus kritisch diskutiert und im vorliegenden Schulsystem positioniert, inhaltlich den Untertitel „Kompetenzen feststellen – Entwicklungsbedarfe identifizieren – Förderplanung umsetzen“ trifft.
Ob dies ein Handbuch zur „Inklusiven Diagnostik“ ist, kann – trotz der Bemühungen einzelner Beiträge, aktuelle Diskurse der inklusiven Pädagogik aufzugreifen –diskutiert werden. Dem Anspruch inklusiver Bildung, die Transformation der bestehenden, ableistischen Strukturen von Schule und der Gesellschaft voranzutreiben [1], die sonderpädagogische Sicht auf Diagnostik grundlegend durch eine inklusive Perspektive abzulösen [2] und die Vision einer alle willkommen heißenden Diagnostik, die als Support- und Serviceleistung für alle Schüler:innen verstanden wird [3], kann es nicht gerecht werden. Lesenswert sind die Beiträge namhafter Expert:innen jedenfalls.
[1] Buchner, T. (2022). Ableism-kritische Professionalisierung als Beitrag für Transformationsprozesse in Zielperspektive Inklusiver Bildung. In O. Koenig (Hrsg.), Inklusion und Transformation in Organisationen (S. 65-76). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
[2] Schuppener, S. & Schmalfuß, M. (2023). Inklusive Schule – Diagnostik und Beratung. Stuttgart: W. Kohlhammer
[3] Simon, J. & Simon, T. (2014). Inklusive Diagnostik – Wesenszüge und Abgrenzung von traditionellen „Grundkonzepten“ diagnostischer Praxis. Eine Diskussionsgrundlage. Zeitschrift für Inklusion, (4). Abgerufen von www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/194