Jan-Hendrik Hinzke / Tobias Bauer / Alexandra Damm / Marlene Kowalski / Dominique Matthes

Dokumentarische Schulforschung

Schwerpunkte: Schulentwicklung – Schulkultur – Schule als Organisation
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(360 S.; ISBN: 978-3-7815-2580-1; 29,90 EUR)

Die Dokumentarische Methode ist ein etabliertes Programm erziehungswissenschaftlicher Forschung qualitativ-rekonstruktiver Prägung. Während die Methode ihre Ursprünge in den 1980er-Jahren im Kontext der Jugendforschung fand, gewinnt sie seit den 2000er-Jahren zunehmend auch für schulpädagogisch Forschende an Bedeutung [1]. Vor dem Hintergrund der stetigen Ausdifferenzierung von Erkenntnissen mit Bezug auf Schule, die in der dokumentarischen Interpretation ganz unterschiedlicher Aspekte des Schulischen und unter Einbezug verschiedener Datenformen hervorgebracht werden, scheint ein Band mit dem Titel „Dokumentarische Schulforschung“ überfällig.

Er stellt dabei den Auftakt einer gleichnamigen Reihe im Verlag Julius Klinkhardt dar [2]. Die Entstehungen der Reihe und des Bandes aus dem ‚Netzwerk Dokumentarische Schulforschung (NeDoS)‘ werden in zwei einleitenden Beiträgen dargestellt, wobei die Herausgeber*innen den Anspruch formulieren, „die Erforschung als auch die Erforschbarkeit schulischer Kontexte mit der Dokumentarischen Methode“ (10) abzubilden. Konkreter wollen sie mit dem vorliegenden Band auf „Gegenstandsfelder einer Dokumentarischen Schulforschung“ (18) hinweisen. Dass dabei die Zusammenarbeit der Herausgeber*innen mit weiteren „Expert*innen“ (16, FN) immer wieder nacherzählt wird, ist – ganz im Horizont der Forschungspraxis der Dokumentarischen Methode – als (Selbst-)Reflexion der „Standortgebundenheit“ [3] der Herausgeber*innen zu lesen. Als Gegenstandsbereiche einer Dokumentarischen Schulforschung werden schließlich drei identifiziert, die den Untertitel des Bandes erklären: „Schwerpunkte: Schulentwicklung – Schulkultur – Schule als Organisation“.

Anschließend an die beiden einleitenden Texte gliedert sich der Band in drei Teile. Im ersten Teil werden in fünf Beiträgen methodologische Einwürfe gemacht, die als bedeutsam für das „prozessuale[] Gebilde“ (58) einer Dokumentarischen Schulforschung veranschlagt werden. Dabei kommen Autor*innen zu Wort, die für unterschiedliche, bisweilen konkurrierende methodisch-methodologische Weiterführungen der Dokumentarischen Methode stehen. Angelika Paseka entwirft in ihrem Beitrag eine Perspektive einer praxeologisch-wissenssoziologischen Schulentwicklungsforschung. In der für die Praxeologische Wissenssoziologie konstitutiven Annahme der „‚Doppeltheit‘ des Wissens“ (72) liege demnach das Potenzial, sowohl auf die „sich verändernden Normen im Rahmen von Schulentwicklung“ (75) als auch auf das als diskrepant entworfene Verhältnis dieser zu „den bisherigen Routinen“ (ebd.) zu blicken. Rolf-Torsten Kramer sucht Impulse für eine Dokumentarische Schulforschung in der Schulkulturforschung und in der Praxistheorie Bourdieus. Obgleich Nähen zu Pasekas Perspektive bestehen, wird in Kramers Überlegungen zu einer Dokumentarischen Schulforschung die „Diskrepanz [zwischen Norm und Habitus] etwas relativiert“ (99). Vor dem Hintergrund der praxeologisch-wissenssoziologischen Konstruktion der „doppelten Doppelstruktur“ (111 ff.) organisationaler Erfahrungsräume schlägt Ralf Bohnsack in seinem Beitrag das Vokabular von „Schulmilieu und Schulidentität“ (121ff.) vor.

Während die Schulidentität als ein Wissen um eine normative Corporate Identity von Schulen zu verstehen sei, verweise das Schulmilieu in einer gewissermaßen negativen Definition, da empirisch nicht von einem einzigen Milieu einer pädagogischen Organisation zu sprechen sei, auf die Vielfalt sich überlagernder konjunktiver Erfahrungsräume in Schule. Arnd-Michael Nohl geht in seinem Beitrag von der Überlegung aus, Schule als „in relationalen Praktiken reproduziert und verändert“ (130) zu verstehen. Mit Bezug auf empirische Befunde und methodologische Überlegungen sucht er sodann nach der „(letztlich unabgeschlossene[n]) Reihe sozialer Entitäten“ (ebd.), die in relationalen und relationierenden Praktiken im Kontext des Schulischen hervorgebracht, reproduziert und mitunter verändert werden.

Im zweiten Teil des Bandes werden vier Studienreviews versammelt. Dabei strukturieren die ersten drei Berichte die eingangs aufgerufenen Gegenstandsbereiche von Schulentwicklung, Schulkulturforschung und Schule als Organisation. Der vierte Beitrag richtet den Blick auf englischsprachige Arbeiten mit der Dokumentarischen Methode. In unterschiedlicher Intensität wird sich in den Beiträgen mit den Befunden der referierten Studien auseinandergesetzt. Deutlich werden die Überschneidungen zwischen den analytisch getrennten Gegenstandsbereichen und man könnte die Frage stellen, ob nicht auch andere Kategorisierungsmöglichkeiten zielführend gewesen wären – bspw. anhand der Unterscheidung von Arbeiten zu verschiedenen Schulformen.

Den dritten Teil des Bandes bilden fünf empirische Studien und ein abschließender Text der Herausgeber*innen. Alle empirischen Beiträge überzeugen in ihrer analytischen Tiefe und in der Nachvollziehbarkeit der Ergebnisdarstellungen. Sie bieten das, was dokumentarisch Forschende primär interessieren mag: Empirie.

Insbesondere die Beiträge von Michelle Bebbon und Kolleg*innen sowie von Thorsten Hertel seien an dieser Stelle erwähnt, gelingt es in ihnen doch eindrücklich, in der Anknüpfung an jüngere Überlegungen zum Machtbegriff der Praxeologischen Wissenssoziologie dessen Potenzial für eine Dokumentarische Schulforschung aufzuzeigen. Der den Band abschließende Text der Herausgeber*innen formuliert thesenartige „Perspektivangebote zur Weiterentwicklung“ (333 ff.) einer Dokumentarischen Schulforschung.

Der Band ‚Dokumentarische Schulforschung‘ ebnet den Weg hin zu einer praxeologisch-wissenssoziologischen Theorie der Schule, welche die Vielfalt der Forschungsergebnisse zum Schulischen in unterschiedlichen Perspektivierungen der Dokumentarischen Methode zusammenführen und metatheoretisch nutzbar machen wird. Diese schultheoretischen Überlegungen werden wiederum, wie es bspw. im Kontext der praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive auf pädagogische Professionalisierung [4] gegenwärtig bereits geschieht, auch den methodisch-methodologischen Diskursen der Praxeologischen Wissenssoziologie im Allgemeinen zuträglich sein.

Dieser Mehrwert wird in den Beiträgen des Bandes deutlich und hätte in der Rahmung durch die Herausgeber*innen gewiss mit größerem Selbstbewusstsein verhandelt werden können. Selbstredend sollte der mit dem Band formulierte Wille zur Kanonisierung einer Dokumentarischen Schulforschung nicht dazu führen, solche Forschung aus dem Blick zu verlieren, die nicht dokumentarisch, aber mitunter unter ähnlichen Prämissen auf Schule blickt. So zeigt der Band selbst auf, dass Bezüge zu anderen antirationalistisch argumentierenden Perspektiven die Leerstellen deutlich machen können, denen sich eine Dokumentarische Schulforschung widmen muss. Vor dem Hintergrund der empirischen Beiträge des dritten Teils des Bandes wirft sich als solche bspw. die Frage nach dem der Praxeologischen Wissenssoziologie eingelagerten Subjektverständnis auf, wenn in dokumentarischer Forschung Lehrer*innen gleichzeitig als Agent*innen schulischer Macht und als durch Notwendigkeiten der Passung von schulischen Erfahrungsräumen und Habitus limitiert (wie im Beitrag von Pallesen und Matthes angedeutet) hervortreten können. Obgleich der Band darüber hinaus eine Vielzahl methodisch-methodologischer Fragen explizit und implizit aufreißt, wird er all denjenigen Impulsgeber und Nachschlagewerk sein, die schulpädagogisch mit der Dokumentarischen Methode arbeiten. Es bleibt auch zu hoffen, dass der Band nicht ausschließlich von denen wahrgenommen wird, die mit der Dokumentarischen Methode vertraut sind, sondern von allen, die Praktiken des Doing School verstehen wollen.

[1] Böder, T. & Rabenstein, K. (2021). Qualitative Ansätze in der Schulforschung. In T. Hascher, T.-S. Idel & W. Helsper (Hrsg.), Handbuch Schulforschung (Neuausgabe). Wiesbaden: Springer VS.
[2] Zur Transparenz sei angemerkt, dass auch der Autor dieser Rezension in der Reihe veröffentlicht hat (Olk, M. (2024). Inklusion als normative Aufgabe. Rekonstruktionen zur Alltagsmoral grundschulpädagogischer Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt).
[3] Mannheim, K. (1952). Wissenssoziologie. In ders. (Hrsg.), Ideologie und Utopie (S. 227–267). Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke.
[4] Bohnsack, R. (2020). Professionalisierung in praxeologischer Perspektive. Zur Eigenlogik der Praxis in Lehramt, Sozialer Arbeit und Frühpädagogik. Opladen: Barbara Budrich.

Zur Zitierweise der Rezension
Matthias Olk (Bremen): Rezension von: Jan-Hendrik Hinzke / Tobias Bauer / Alexandra Damm / Marlene Kowalski / Dominique Matthes: Dokumentarische Schulforschung. Schwerpunkte: Schulentwicklung – Schulkultur – Schule als Organisation. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023 (360 S.; ISBN: 978-3-7815-2580-1; 29,90 EUR). In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am: 12. November 2024), URL: https://ewrevue.de/2024/11/dokumentarische-schulforschung/