Ethnographische Erkundungen zur Geschichtskultur im Privaten
Göttingen: Wallstein 2024
(322 S.; ISBN: 978-3-8353-5498-2; 25,00 EUR)
Der Salzburger Geschichtsdidaktiker Christoph Kühberger erkundet in seiner aktuellen Monografie eine der geschichtsdidaktischen Forschung bislang weitgehend unbekannte Lebenswelt: die Kinderzimmer von Kindern im Grundschulalter. Mittels eines ethnografischen Erhebungsdesigns geht er der Frage nach, wie Kinder mit den „Geschichtsdingen“ (Spielzeug, Bücher, Bilder) in ihren Zimmern umgehen. Dazu verbindet Kühberger eine von den jungen Forschungspartner:innen gehaltene Führung durch ihre Zimmer mit leitfadengestützten Interviews, Fotografien (z. T. von den Kindern selbst angefertigt) und Feldnotizen, die inhaltsanalytisch ausgewertet werden. Dieses Vorgehen ist gleichermaßen gegenstandsangemessen wie innovativ, involviert es die Kinder doch aktiv in den Forschungsprozess und macht ihre individuellen Relevanzsetzungen zum Ausgangspunkt der Forschung.
Der ausgesprochen gut lesbare Band eröffnet mit einem autoethnografischen Kapitel, in dem Kühberger seine eigenen Kindheitserfahrungen im Spiel mit geschichtskulturellen Objekten reflektiert. Dieses Vorgehen ist in der Geschichtsdidaktik nicht üblich und könnte daher zunächst als nur schmückendes Beiwerk erscheinen; tatsächlich birgt dieser Zugang aber Erkenntnispotenzial für die Rezeption des Buches. So sind offenbar insbesondere Figuren von Playmobil für Kühberger von (auch emotionaler) Relevanz. Das erklärt womöglich, weshalb diesen und ihren Spielwelten im Buch besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, obwohl sie zumindest rein quantitativ deutlich weniger Raum in den Kinderzimmern einnehmen als historische Kinder und Sachbücher oder Spielzeugwaffen und Kostüme. Im weiteren Verlauf des Bandes rücken die autoethnografischen Momente in den Hintergrund, was vielleicht auch daran liegt, dass Kühberger in der Datenerhebung von studentischen Mitarbeiter:innen unterstützt wurde, die natürlich ganz andere biografische Erfahrungen mitbringen.
Kapitel 2 entwickelt die zentrale These des Bandes: Unter Rückgriff auf Claude Lévi-Strauss‘ Unterscheidung des „wilden“ und des „domestizierten Denkens“ geht Kühberger von der Existenz zweier unterschiedlicher, letztlich inkommensurabler Denkformen aus. Während Erstere sich auf konkrete und alltägliche Erfahrungskontexte beziehe und auf das Verstehen ausgerichtet sei, operiere Letztere auf Basis abstrakter Kategorien und sei auf das Erklären ausgerichtet. In Abgrenzung zu geschichtsdidaktischen Modellen der Entwicklung fachspezifischer Kompetenzen [1] geht Kühberger nicht davon aus, das alltägliche Denken sei eine Vorstufe normativ wünschenswerten, wissenschaftlichen Denkens. Er möchte vielmehr dessen Eigenlogik herausarbeiten, weshalb er den Begriff des „wilden Denkens“ nicht als abwertende Bezeichnung verstanden wissen möchte. Meines Erachtens wäre zu hinterfragen, ob bei der binären Gegenüberstellung von „wildem“ und „domestiziertem“ Denken nicht eher eine (womöglich eurozentrische) Romantisierung des vermeintlich unverbildeten „wilden“ Denkens mitschwingt.
Kapitel 3 begründet das forschungsmethodische Vorgehen auf umfassende und sehr plausible Weise, während Kapitel 4 einen Überblick vor allem über die quantitative Ausstattung der Zimmer mit Geschichtsdingen gibt. Hier fällt nicht nur auf, dass lediglich zwei der 39 untersuchten Zimmer ganz ohne Gegenstände mit historischen Bezügen auskommen, sondern auch, dass sich besonders viele Geschichtsdinge in denjenigen Zimmern finden, die sich erstens in Elternhäusern mit hohem Bildungsniveau befinden und die zweitens von Jungen bewohnt werden. Da es meist die (in dieser Studie nicht befragten) Eltern sind, die die Spielsachen anschaffen, lässt der quantitative Befund vermuten, dass dahinter Bildungsaspirationen stehen und die Geschichtsdinge mit Männlichkeit konnotiert sind. Da sich Jungen und Mädchen in ihrem Spiel mit Geschichtsdingen zudem unterscheiden, sind den Kindern bestimmte geschlechtsbezogene Rollenerwartungen offenbar bereits habituell vertraut, was im Band nicht weiter diskutiert wird; zumindest performieren einige der Kinder diese Rollenerwartungen in ihrem Spiel mit einer Konventionalität, die man keiner Disneyprinzessin mehr durchgehen lassen würde: „Aber meistens hat der Prinz die Prinzessinnen gerettet und sie sind dann auch in den Garten geritten auf dem Pferd, also im Sommer“ (179) (Daniela, 11 Jahre).
Kapitel 5 entfaltet eine Typologie des Spielens mit Geschichte, deren fünf Typen sich entlang zweier Achsen unterscheiden. So differenziert Kühberger einerseits hinsichtlich der Frage, ob der Plot des Spiels selbst entwickelt wird oder eine Nacherzählung darstellt, sowie andererseits hinsichtlich der Frage, ob die imaginierte Spielsituation in der Vergangenheit oder in der Gegenwart situiert ist. Dabei stellt insbesondere das „Spielen (in) der Geschichtskultur“ eine Umgangsweise mit dem Historischen dar, die im geschichtsdidaktischen Diskurs bislang keine Berücksichtigung gefunden hat. Hier werden die Geschichtsdinge nämlich nicht genutzt, um eine vergangene Welt zu konstruieren, sondern um eine von Geschichtlichkeit geprägte gegenwärtige Lebenswelt zu inszenieren. Dann dient eine Spielzeugburg den Kindern nicht als Ort ritterlicher Kämpfe, sondern als Ausflugsziel, in dem man eine Führung bucht. Insbesondere die detaillierte Untersuchung der Praktiken des Spiels – zumindest soweit sie sich aus Interviews mit Kindern rekonstruieren lassen – gibt Einblick in die damit verbundenen Geschichtsbilder, Epochenassoziationen und Zeitkonzepte. Vor allem aber sensibilisiert sie dafür, dass die Kinder und ihre Spielsachen Ko-Konstrukteure der imaginierten Welt sind. So sind den Geschichtsdingen gewisse Affordanzen eingeschrieben, die bestimmte Umgangsweisen mit ihnen wahrscheinlicher machen als andere. Gleichzeitig verweisen die Beispiele bei Kühberger aber auch auf die Eigen-Sinnigkeit der Kinder in der Aneignung der mit den Spielsachen verbundenen historischen Deutungsangebote und auf ihre Kreativität in der transmedialen Verbindung unterschiedlicher Erzählungen.
Diesen Eigensinn betont Kühberger im bilanzierenden Kapitel 6, das die Eigenschaften des alltäglichen, „wilden“ historischen Denkens bündelt. In erneuter Anlehnung an Lévi-Strauss betrachtet er die Kinder als „bricoleurs“, als Bastler:innen: „Ihnen stehen für die Wahrnehmung und Ausdeutung der Welt […] nur bestimmte bruchstückhafte Erklärungsmuster zur Verfügung, nämlich solche, die ihnen zugänglich sind oder die sie selbst beobachten, aus denen sie Schlüsse ziehen oder die sie einfach nur reproduzieren“ (268).
Christoph Kühbergers ethnografische Erkundung des privaten, spielerischen Umgangs mit dem Historischen bestätigt einige Befunde, die bereits aus Studien zu den Alltagstheorien und konzepten von Kindern und Jugendlichen bekannt sind (Präsentismus, ein in sich nicht weiter ausdifferenziertes „Früher“, epistemologischer Positivismus) [2]. Sie ermöglicht aber darüber hinausgehende, hochspannende Rückschlüsse auf die konkreten Praktiken der Kinder. Diese noch weiter zu erforschen, indem man die Proband:innen nicht nur über ihr Spiel berichten lässt, sondern sie dabei auch beobachtet, wie Kühberger es an anderer Stelle bereits getan hat [3], stellt eine reizvolle Option für weitere Forschungsprojekte dar – gerade dann, wenn die im vorliegenden Buch bereits hergestellten Bezüge zu den Diskursen um die Körperlichkeit und Materialität des „Doing History“ verstärkt berücksichtigt werden. [4]
[1] Vgl. Andreas Körber: Graduierung von Kompetenzen, in: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1, Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag 2012, S. 236–254.
[2] Vgl. Hilke Günther-Arndt: „Also irgendetwas muss schief laufen für eine Veränderung.“ Schülervorstellungen zur Geschichte und zu Kompetenzen historischen Denkens, in: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte, Berlin: LIT-Verlag 2016, S. 93–110.
[3] Vgl. Christoph Kuhberger/Kristina Karl: Die Ritterburg im Kindergarten. Ethnographische Annäherungen an den Umgang mit einem geschichtskulturellen Produkt, in: Christoph Kühberger (Hg.): Ethnographie und Geschichtsdidaktik, Frankfurt a. M.: Wochenschau-Verlag 2021, S. 180–211.
[4] Vgl. z. B. Sarah Willner/Georg Koch/Stefanie Samida (Hg.): Doing History. Performative Praktiken in der Geschichtskultur. Münster: Waxmann 2016.