Marion Scherzinger / Alexander Wettstein

Beziehungen in der Schule gestalten

Für ein gelingendes Miteinander
Stuttgart: Kohlhammer 2022
(152 S.; ISBN: 978-3-17-037970-1; 29,00 EUR)

Die mit 152 Seiten kompakte Monographie von Marion Scherzinger und Alexander Wettstein, die 2022 in der Reihe ‚Brennpunkt Schule‘ im Kohlhammer Verlag erschienen ist, bietet einen multiperspektivischen Zugang zum Themenkomplex ‚Beziehungen in der Schule‘. Die acht Kapitel sind in eine Einleitung (Kap. 1), die prägnant zum Thema hinführt, und drei Teile gegliedert: Im ersten Teil wird die ‚Beziehung zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern‘ verhandelt (Kap. 2–4); der zweite Teil reflektiert ‚Beziehungen in der Schulklasse‘ (Kap. 5–6); im dritten Teil (Kap. 7–8) steht die ‚Beziehung zwischen Lehrpersonen und Eltern‘ im Fokus. Im gesamten Werk weisen Informationskästen (S. 34, 64f., 69f. u.ö.) auf intertextuelle Bezüge und auf (aktuelle) Publikationsempfehlungen hin, die es den Rezipierenden ermöglichen, anschlussfähig das jeweilige Thema weiterzuverfolgen. Überdies werden Empfehlungen zur eigenen Rollenreflexion sowie Merkmale von Beziehungsaspekten grau hervorgehoben, was den Text auflockert und dadurch besonders lesefreundlich macht. Kurze Zusammenfassungen nach jedem Kapitel bieten einen fundierten Überblick.

Im ersten Teil (Kap. 2–4) liegt, wie dessen Titel bereits anzeigt, der Fokus auf der unmittelbaren Beziehung zwischen Schüler:innen und ihren Lehrkräften. Verwiesen wird auf die „Asymmetrie des Pädagogischen“ (17). Die Gewichtigkeit der Sozialbeziehungen als bedeutendes Fundament für das „schulische Wohlbefinden und die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern“ (18f.) wird durch Studien anschaulich gemacht. Scherzinger und Wettstein halten fest, dass „die Beziehung auf der Ebene des Handelns asymmetrisch ist, soll sie auf der sozialen Ebene symmetrisch sein“ (25). Außerdem wird die Verantwortung der Lehrkräfte hinsichtlich der (Aus-)Gestaltung einer positiven pädagogischen Beziehung betont. In Kap. 3 wird eine solche Gestaltung näher spezifiziert: Sie solle geprägt sein von der Grundhaltung, die Kinder in ihrer Individualität anzuerkennen (29); die Schüler:innen sollen Anerkennung erfahren, Vertrauen aufbauen und emotionale Unterstützung erhalten können. All das soll durch Sozialbeziehungen im Schulalltag erfahrbar gemacht werden. Dabei tragen die Lehrkräfte die Verantwortung des Classroom Managements, denn dessen (Aus-)Gestaltung muss schließlich während eines Schulalltages (bewusst) in das Curriculum implementiert werden. Die praktische Umsetzung wird im vierten Kapitel erläutert: Scherzinger und Wettstein zeigen, dass die meist semantisch negativ aufgeladenen Termini ‚Autorität‘ und ‚Führung‘ auch positiv konnotiert sein können, vor allem in Bezug auf den positiven Beziehungsaufbau. Dies geschieht, so halten die beiden Autor:innen fest, indem man Schüler:innen fördert, fordert, ihnen etwas zutraut sowie klare Erwartungen, Regeln und Rituale implementiert.

Kap. 5 und 6, die den zweiten Teil über ‚Beziehungen in der Schulklasse‘ bilden, sind praxisnah mit vielen (konkreten) Empfehlungen und Angeboten zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten bei Schüler:innen gestaltet. Auch auf hemmende Faktoren beim Aufbau von Beziehungen wie Introvertiertheit oder soziale Ängste wird Bezug genommen (65). Die Autor:innen gehen außerdem ausführlich auf Freundschaften als die „zentrale[n] Beziehungen“ (70) von Kindern und Jugendlichen ein. Es werden sinnvolle Materialempfehlungen ausgesprochen, die zum (kindlichen) Philosophieren über Freundschaft und Konflikte anregen können (73). In Kap. 6 wird bereits aus dem Titel ‚Zugehörigkeitsgefühl und Klassengemeinschaft‘ ersichtlich, dass die Schulklasse nun als soziale Gruppe definiert und beschrieben wird. Dies ist von immenser Bedeutung, da für die Rezipierenden hierdurch Inklusions- und Exklusionsmechanismen ersichtlich werden; dieses Wissen kann dabei behilflich sein, Ausgrenzungen und Mobbing präventiv entgegenzuwirken. Hierzu empfehlen Scherzinger und Wettstein bspw. den Gebrauch von Soziogrammen, wozu Wettstein selbst forscht (87). Am Ende des sechsten Kapitels werden einige Facetten der Entstehung, Erkennung und Prävention von (Cyber-)Mobbing beleuchtet. Als bedeutende Quintessenz kann mit Scherzinger und Wettstein „Mobbing als Gruppenphänomen“ (109) bezeichnet werden, da „[j]ede Schülerin und jeder Schüler […] in Mobbingsituationen eine bestimmte Rolle als Opfer, Täterin oder Täter, Assistierende, Verstärkende oder Verteidigende ein[nimmt]“ (ebd.).

Kap. 7 leitet den dritten Teil über die ‚Beziehung zwischen Lehrpersonen und Eltern‘ ein und beschreibt die Schule als „sekundäre Sozialisationsinstanz“ (113). Demnach trägt eine positive und vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern maßgeblich zu einer gelingenden Schulzeit bei. Obwohl dies selbstverständlich scheint, wird – betonen die Autor:innen – „das Potenzial zwischen Elternhaus und Schule zu wenig genutzt“ (ebd.). Da Familie mittlerweile facettenreich gelebt wird und nicht nur aus Vater – Mutter – Kind besteht, wird ein kurzer Einblick in die Vielfalt von Lebens- und Familienformen gewährt sowie auf die Bedeutsamkeit interkultureller Kompetenzen bei den Lehrkräften hingewiesen (115–119). Kap. 8 synthetisiert die vorangegangenen Kapitel: „Erst wenn Eltern und Lehrpersonen sich gegenseitig vertrauen, kann ein partnerschaftliches Verhältnis entstehen, in dem beide Seiten zum Wohl der Kinder und Jugendlichen zusammenarbeiten“ (130). Am Ende des Buches komplettiert die evolutionäre Sichtweise auf soziale Beziehungen die bisherigen Überlegungen: Da wir als Menschen soziale Wesen sind, besitzen wir das „Bedürfnis, dazuzugehören (Bonding), und andererseits das Bedürfnis, Status zu erwerben und Macht auszuüben (Status und Power)“ (131). Insbesondere wenn sich Kinder und Jugendliche (in der Schulklasse) kompetitiv behaupten möchten, ist es unerlässlich, als Lehrkraft ethische Verantwortung zu übernehmen.

Das Literaturverzeichnis ist breit gefächert und grundsätzlich auf dem aktuellen Stand. Es verwundert jedoch, dass zwei einschlägige Forschungsbeiträge zu pädagogischen Beziehungen nicht aufgeführt sind: zum einen Ludwig Liegles bedeutende Monographie ‚Beziehungspädagogik‘ (2017), die bspw. auf die wichtige Unterscheidung von inter- und intragenerationellen Beziehungen und deren Dynamiken sowie auf die Bedeutsamkeit von Kinderfreundschaften eingeht – Themen, die eine zentrale Stellung auch bei Scherzinger und Wettstein einnehmen und somit einige Analogien zu Liegles Publikation aufweisen. Er ergänzt außerdem das Beziehungsspektrum um die Beziehung mit sich selbst [1]. Dies kann für Schüler:innen, aber auch für Lehrkräfte äußerst gewinnbringend sein. Zum anderen machen Scherzinger und Wettstein den Verantwortungsaspekt hinsichtlich der Lehrkräfte stark und verweisen auf Arbeiten Annedore Prengels. Hier hätte zusätzlich ihre erhellende und prägnante Arbeit zur ethischen Pädagogik in Kitas und Schulen (2020) Berücksichtigung finden können. Ein (nicht-)gelingendes Miteinander kann auch fächerspezifisch große Unterschiede aufweisen, wenn die physische Nähe (vermehrt) beim intra- und intergenerationellen Lernen im Mittelpunkt steht: Man denke z.B. an ‚körpernahe Fächer‘, bei denen Demütigungen während des Sport-, Technik-, oder Hauswirtschaftsunterrichts [2] vollzogen werden. Diesbezüglich kann man die Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen und die Prinzipien ethischer Pädagogik zu Rate ziehen [3].

Die Publikation ist uneingeschränkt für alle pädagogischen Akteur:innen und jene, die es werden möchten, aber auch für die Hochschule zu empfehlen. Die Lektüre gewinnt ihren Reiz dadurch, dass sich Lehrkräfte aller Schularten angesprochen fühlen dürfen. Dies zu explizieren, wäre durchaus von Vorteil und wünschenswert gewesen. Insgesamt jedenfalls legen Scherzinger und Wettstein eine profunde Übersicht der pädagogischen Beziehungen im Kontext ‚Schule‘ vor, die für Theorie und Praxis überzeugt.

[1] Liegle, L. (2017). Beziehungspädagogik. Erziehung, Lehren und Lernen als Beziehungspraxis. Stuttgart: Kohlhammer.
[2] Beispiele zu Demütigungen im Sportunterricht werden hier eindrücklich beschrieben: Gommel, M. (2022). Diese Demütigungen haben Schüler:innen im Schulsport erlebt. Online verfügbar unter: krautreporter.de/4269-diese-demutigungen-haben-schuler-innen-im-schulsport-erlebt?shared=0cc7fb45-c906-4292-8994-49332562c8d9 [zuletzt aufgerufen: 27.09.2024].
[3] Prengel, A. (2020). Ethische Pädagogik in Kitas und Schulen. Weinheim: Beltz.

Zur Zitierweise der Rezension
Mike Lebzelter (Tübingen): Rezension von: Marion Scherzinger / Alexander Wettstein: Beziehungen in der Schule gestalten. Für ein gelingendes Miteinander. Stuttgart: Kohlhammer 2022 (152 S.; ISBN: 978-3-17-037970-1; 29,00 EUR). In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am: 12. November 2024), URL: https://ewrevue.de/2024/11/beziehungen-in-der-schule-gestalten/