Debatten, Darstellungen und Aneignungspraktiken von 1968 bis heute
Bielefeld: transcript Verlag 2023
(344 S.; ISBN: 978-3-8376-6663-2; 49,00 EUR)
»[W]ie gut, dass Sie nicht Architektur studiert haben. Von außen her haben Sie einen besseren, unverdorbeneren Blick auf das Bauen, auf das angemessene Verhältnis zum Leben. Einen Blick, zu dem wir Architekten uns erst wieder durcharbeiten müssen«.(9) Das Eingangszitat des Architekten Christoph Feldtkeller benennt bereits die Stärke dieses Buchs, das einen unvoreingenommenen Blick auf Kommunikationsprozesse rund um Schulbauten seit 1968 wirft und so an der heutigen Schulbaupraxis Beteiligte dazu anregen kann, ihre Rolle zu hinterfragen. Die Kulturwissenschaftlerin Eva Zepp beschäftigt sich in ihrer hier publizierten Dissertation mit der Frage, wie sich Ideen zur Mitbestimmung bei der Produktion von Bildungsarchitekturen sowie zur Aneignung dieser Räume durch Nutzer:innen seit den 1960er Jahren bis heute entwickelt haben. Nach einem Blick in das Archivmaterial des Stuttgarter Instituts für Schulbau aus den 1960er Jahren analysiert Zepp bildliche Darstellungen von Schulbauten aus Architekturzeitschriften der 1970er Jahre, stellt künstlerische Aneignungskonzepte für Architekturen vor und analysiert die mediale Darstellung und Wahrnehmung der Nutzer:innen von zwei aktuellen Projekten. Die Auswahl der betrachteten Themen und gewählten Methoden mag auf den ersten Blick zusammengewürfelt wirken, tatsächlich sind sie mit Bedacht gewählt, sodass sich aus der zusammenhängenden Lektüre der Kapitel eine kongruente Erzählung mit hohem Erkenntnisgewinn ergibt.
Unter den Prämissen, dass die schulische Bildung neue Impulse braucht oder angesichts der durch Digitalisierung und Klimakrise veränderten Gegenwart sogar ein völlig neues Verständnis von Bildung nötig sei oder Inklusion und Teilhabe einen höheren Stellenwert einnehmen sollten, wird seit einigen Jahren in Fachkreisen viel über die dafür geeigneten Räume und somit über Schulbau publiziert und diskutiert. So gab beispielsweise die „Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft“ in den letzten Jahren zahlreiche Leitfäden heraus, die die Partizipation der Nutzer:innen in Schulbauprozessen, die Schaffung inklusiver Bildungsorte und eine stärkere Einbindung der Schulen in das Quartier anregen sollen.[1] Räumliche Organisationsformen wie Klassen-Cluster und offene Lernlandschaften, die bereits in den 1970er Jahren erprobt wurden, gelten heute als passende Voraussetzung für zukünftige Bildungspraktiken. Da aktuell insbesondere in deutschen Großstädten zahlreiche Schulneubauten, Um- und Erweiterungsbauten errichtet werden, bietet es sich an, diese Konzepte nun umzusetzen. Trotz des erkannten Neuerungsbedarfs des Bildungswesens ist die breite öffentliche Debatte über die Schule und das Schulhaus der Zukunft bisher ausgeblieben.
Eva Zepp geht zurück in eine Zeit, in der es eine einen solchen Diskurs über die Gestalt zukunftsfähiger Bildung und die dafür förderlichen Räume gab. Ein Projekt des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin hatte bereits mit einer Ausstellung, einer Tagung und Publikationen in den Jahren 2019 bis 2021 Bildungsräume der 1960er und 1970er Jahre in den Blick genommen und die enorme Vielfalt und – je nach Perspektive – Radikalität oder Innovationskraft der damaligen Konzepte sowie deren Präsenz in der öffentlichen Debatte aufgezeigt.[2] Zepp beginnt ihre Analyse mit einem Kapitel über das Schulbauinstitut an der Universität Stuttgart der 1960er Jahre, das seine Rolle explizit in der Vorbereitung und Auswertung von Schulbauprojekten sah und erste Konzepte zur Beteiligung von Nutzer:innen an Schulbauprozessen entwickelt hatte. Zwar stand in der damaligen technokratischen Perspektive die Messbarkeit bestimmter Parameter oder die objektive Evaluation von Architekturen im Vordergrund – eine Perspektive, die heute zurecht kritisch gesehen wird, da die Individualität der Schulgemeinschaften und deren Bedarfe stärker berücksichtigt werden sollen –, aber trotzdem kann der Blick auf vergangene Bemühungen, Schulbauprozesse systematisch zu evaluieren, für heutige Bestrebungen in dieser Richtung lehrreich sein. Die historische Referenz zeigt, dass Beteiligung damals in einem überschau- oder besser kontrollierbaren Rahmen konzipiert wurde.
Über Fotografien von Schulräumen vermittelten Architekt:innen und architekturbezogene Fachpublikationen bereits in den 1960er Jahren gezielt Bilder, deren Aussage über die Vermittlung der materiellen Gestaltung dieser Räume hinausging. Eva Zepp beginnt ihre Untersuchung des Mediums des publizierten Schulbaubildes mit einer Analyse der deutschen Zeitschrift Arch+ und britischer Fachzeitschriften. Sie beobachtet, dass in den Publikationen der 1970er Jahre Abbildungen dominieren, die eine rebellische und unangepasste Nutzung der damals neuen Schulbauten zeigen. Das Klettern auf dem Schulhof, das Kippeln mit dem Stuhl sollten auf die nun erwünschte Eigensinnigkeit schulischer Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen verweisen. Der autoritäre Charakter repräsentativer Schulbauten vergangener Zeiten wurde in der bildlichen Gegenüberstellung ebenfalls durch als angepasst und unfrei dargestellte Nutzungen unterstrichen.
Nach diesen historischen Betrachtungen stellt Zepp in schneller Abfolge verschiedene künstlerische und konzeptionelle Positionen zur Aneignung von Architektur und Räumen aus der Zeit von 1968 bis heute vor: Bernard Rudofsky nahm mit „architecture without architects“ informelle Architekturen in den Fokus einer Ausstellung im New Yorker MoMa, Colin Ward sah in diesen einen Selbstausdruck von Nutzer:innen, und die Stadt wurde bei ihm zum Klassenzimmer, indem die Kinder lernend durch ihre Umwelt streiften. Henri Lefebvres Konzept des „Rechts auf Stadt“ als Recht auf Teilhabe am urbanen Leben wird ebenso thematisiert wie die Dekonstruktion bestehender Architekturen mit der Arbeit von Gordon Matta-Clark und der Gruppe Anarchitecture. Alle diese Ansätze haben die Abkehr von einem elitären Architekturverständnis gemein. Sie zeigen, dass Aneignungspraktiken wertvoll sein können, da sie neue Perspektiven auf Räume eröffnen und somit Erkenntnisgewinne ermöglichen.
Mit der Analyse zweier aktueller Fallbeispiele von Schulbauten nähert sich Zepp schließlich der gegenwärtigen Schulbauproduktion und -präsentation an. Eines dieser Beispiele ist die Makoko Floating School, deren Nachbau auf der Biennale in Venedig gezeigt wurde, obwohl das Original in Nigeria nach Ansicht lokaler Akteur:innen nicht nutzbar war und 2016, nur drei Jahre nach dem Aufbau, kollabierte. Das Beispiel wirft aus Zepps Sicht die Frage auf, inwieweit architektonische Konzepte tatsächlich in der Praxis angenommen werden, inwieweit sie mit dem Leben verbunden sein müssen, um in der Fachwelt gelobt zu werden. Die Präsentation der Bauten und das darüber vermittelte Narrativ der Architekt:innen dominierte laut Zepp in diesem Fall die Darstellung in den Architekturmedien, während eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit oder der von Kolleg:innen zu kurz kam.
Ihre Analyse der Makoko Floating School baut Zepp ausschließlich auf vorhandenen Publikationen und Berichten auf. Das Modellprojekt eines 2013 im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Hamburg fertiggestellten Bildungszentrums hat Zepp hingegen selbst besucht und verschiedene Befragungen in Form von Walking Interviews durchgeführt, um direkte und somit auch unbewusste Reaktionen auf Räume im gemeinsamen Rundgang beobachten und berücksichtigen zu können. Auch hier fallen trotz gelobten Beteiligungsverfahrens Diskrepanzen zwischen der von den Architekt:innen geplanten und kommunizierten Bedeutung der Räume und der Wahrnehmung der Nutzer:innen auf:
So lässt sich ein als Bindeglied zwischen Quartier und Schule intendierter Freiraum aus Sicherheitsgründen im Schulalltag des Bildungszentrums kaum nutzen. Der aufwendig gestaltete Schulhof bietet nach Einschätzung von Zepp begrenzten Platz und ein hohes Maß an sozialer Kontrolle, sodass in der gelebten Praxis enge Regeln notwendig wurden und regelmäßig Konflikte entstehen. Die Lernlandschaft wird aufgrund der internen Schulorganisation nur unter Anleitung genutzt, sodass die Kinder sie nicht als Ort eigenständigen Lernens wahrnehmen – obwohl sie in fotografischen Darstellungen der Schule genau als solcher inszeniert wird. Diese Inszenierung des schulischen Raums setzt Zepp in Beziehung zu den Darstellungen von Arbeitslandschaften, wie sie beispielsweise von Unternehmen wie Google zur Selbstdarstellung genutzt werden. Hier wird ein Kontrast zu Darstellungen der 1970er Jahre sichtbar: In bewusster Abgrenzung von früheren, als autoritär verstandenen Architekturkonzepten waren die Schulbauten der 1970er Jahre in damaligen Veröffentlichungen als unterstützende Orte für den individuellen und eigensinnigen Lernprozess der Kinder inszeniert worden, indem Kinder beim Brechen von Regeln gezeigt wurden. In heutigen Architekturdarstellungen verhalten sich die Kinder bei der Nutzung von Bildungsräumen hingegen meist angepasst.
Die Lektüre von Zepps Analyse vermittelt den Eindruck, dass die heutigen Lernlandschaften eher zur Vorbereitung auf die Arbeitswelt als zur Anregung eigenständigen Lernens und Denkens geschaffen werden. Das Buch kann als Plädoyer verstanden werden, out of the box zu denken und sich vielleicht auch von radikaleren Ideen der Vergangenheit inspirieren zu lassen, um wirklich neue Praktiken der Verbindung von Bildung und Raum(-produktion) zu ermöglichen. „Von einer ‚anderen‘, dissidenten Kenntnis von Schulräumen, jenseits des gebauten physischen Raums, ist unbedingt auszugehen – ganz im Sinne des Ausrufs eines Schulkindes während meiner Feldforschung: ‚Achtung, da ist ´was Unsichtbares!‘“, schreibt Zepp (250). Wie der hier beschriebene „spezifische Geist der Teilhabe […] lebendig gehalten“ (250) werden kann, sollte Gegenstand von Aushandlungsprozessen sein. In jedem Fall sollte Schularchitektur Raum für Reflexion, Weiterentwicklung und Selbstwirksamkeit der Nutzer:innen bieten. Dies wäre letztlich auch direkte Demokratieförderung.
[1] www.montag-stiftungen.de/handlungsfelder/paedagogische-architektur
[2] Vgl. Rezension von Holert, Tom:
Kier, D. M. (2020). Bildungsschock, Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren. Walter de Gruyter. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (veröffentlicht am 19.01.2022), URL: www.klinkhardt.de/ewr/978311070126.html