Theoretische Konzeption und empirische Rekonstruktion
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(336 S.; ISBN: 978-3-7815-2598-6; 48,00 EUR)
Der Titel der vorliegenden Dissertation von Alexander Hoffelner fasst in zwei Begriffen den thematischen Fokus der Arbeit: Pädagogische Improvisation. Die damit gesetzte Attribuierung wie auch die Nominalisierung durchzieht die Arbeit stringent in klärender Absicht, wobei – wie der Untertitel zeigt – sowohl theoretische Konzeptionen als auch empirische Rekonstruktionen und deren Interdependenzen in den Blick kommen.
Die über 330 Seiten umfassende, an der Universität Wien eingereichte Dissertation enthält in der publizierten Fassung ein Vorwort von Ilse Schrittesser und Judith Schoonenboom (vgl. 7-9): „Improvisieren-Können als Kompetenz im Professionalisierungskontinuum anzustreben“ (7), erscheine als ein mögliches Konzept und tragfähige Antwort auf die dem Unterrichtsgeschehen konstitutiven Ungewissheitsmomente. Somit wird bereits im Vorwort klar, dass die Studie auf pädagogisches Improvisieren von Lehrpersonen im Unterricht fokussiert.
Nach der Einleitung, die einführend Problemfelder, Forschungsstand und Forschungslücke, Forschungsfragen sowie Struktur und Methodik der Arbeit thematisiert und im Unterkapitel 1.5 eine erkenntnistheoretische Verortung der Arbeit vornimmt, folgt eine Gliederung in zwei Hauptteile: Teil A umfasst die Kapitel 2 bis 5 und widmet sich ausgewählten Konzeptionen von Improvisation, Handlungstheorie und pädagogischer Professionalität, um im zentralen Kapitel 5 Ansätze und Konzepte von pädagogischer Improvisation zu bearbeiten. Der folgende zweite Hauptteil B widmet sich empirischen Rekonstruktionen zu pädagogischen Improvisationen. Die dort zu findenden Teilkapitel bearbeiten die gewählten methodischen Zugänge und Vorgangsweisen aus der Perspektive der Ethnografie und mittels der Grounded Theory. Ebenso werden dort die fünf ausgewählten improvisierenden Lehrer:innen an Schulen der Sekundarstufe in Wien in ihren Praktiken und Reflexionen zu Improvisation anonymisiert fallspezifisch vorgestellt: Deren Improvisationsverständnisse und -praktiken wurden kontrastierend ausgearbeitet sowie Improvisieren in den konkreten Unterrichtssituationen textuell sowie über Abbildungen sichtbar gemacht. Das mit „Fazit und Diskussion“ (302) überschriebene Abschlusskapitel gibt einen systematischen Rückblick und klärt nochmal das Anliegen der Arbeit: Die Studie zeige sowohl im empirischen als auch im (handlungs-)theoretischen Teil, dass Improvisation für Lehrer:innen „alltäglich allgegenwärtig“ (310) sei; Hoffelner schließt seinen Text wie folgt: „Insofern halte ich es für sinnvoll, sich weiter mit dem Improvisieren von Lehrpersonen zu beschäftigen.“ (310)
In diesem Zitat zeigt sich eine Differenz zwischen Improvisieren und der titelgebenden Improvisation, die in der Arbeit handlungstheoretisch etwa über die Theorie zur Kreativität des Handelns nach Hans Joas gefasst wird. Jedenfalls nimmt die Arbeit das Improvisieren bei Lehrpersonen als Fähigkeit und Praxis von pädagogisch professionellem Handeln in den Blick und bearbeitet so jene pädagogischen Professionalisierungsprozesse, etwa im Rekurs auf kompetenz-, strukturtheoretische und EPIK-Domänen-Modelle. So ein Verständnis von Unterricht als Kunst ermögliche es, „die Kreativität und Improvisation im pädagogischen Handeln zu betonen und einen Unterricht ins Auge zu fassen, der abseits von Vorhersehbarkeit, absoluter Planbarkeit und Messbarkeit vor allem die Lernenden in den Blick nimmt.“ (130)
Die durch die Gliederung der Hauptkapitel vorgenommene duale Trennung von Theorie und Empirie relativiert und reflektiert Hoffelner in seiner Arbeit ebenso wie die vorgenommene Einordnung der Forschungsarbeit als „qualitativ-sozialwissenschaftliche Forschung“ (189), wenn er benennt, dass eine strikte Trennung zwischen qualitativen und quantitativen Forschungsansätzen nur schwer aufrechtzuerhalten sei, auch wenn beiden Ansätzen andere epistemologische Positionen zugrunde liegen würden (vgl. 189). Der methodisch offene Zugang des empirischen Teils der Studie untersucht, wie Lehrer:innen in der Sekundarstufe im Unterricht improvisieren und welches Verständnis von pädagogischer Improvisation sich zeigt. Ethnografisch erforscht die Studie den Unterricht von fünf Lehrpersonen unter der Perspektive Improvisation und schließt auch Interviews mit den Lehrer:innen und informelle Gespräche ein. Die erhobenen Daten werden von Hoffelner mit der offenen Methode der Grounded Theory im Rekurs auf ‚sensitizing concepts‘ von Kathy Charmaz ausgewertet und weiter bearbeitet, weil dadurch Akteur:innen mehrdimensional in den Blick kommen können und nicht bloß von definitorischen Konzepten exemplarisch und nach theoretischen Vorgaben präformiert erscheinen.
Methodisch findet sich in der Studie eine klare und explizit begründete Verortung im Feld sowie eine gute Nachvollziehbarkeit des Forschungssettings sowohl in der Erhebungs- als auch in der Auswertungsphase, z.B. sechzig Stunden gemeinsame Interpretation in Forschungsgruppen, die zur intersubjektiven Nachvollziehbarkeit beitragen sollen (vgl. 204). Deutlich wird auch in einem eigenen Subkapitel die Reflexion auf die eigene Situiertheit im Forschungsfeld (vgl. Kap. 6.6), die Hoffelner in der Trias von „Schauspieler, Theatermensch und Theaterpädagoge“ (205), „Vertreter der Wissenschaft“ (205) sowie „Lehrer“ (206f) setzt, der auch in der Aus- und Fortbildung von angehenden Lehrer:innen tätig ist. Aus dieser Trias leitet Hoffelner etwa auch die Notwendigkeit ab, in Interpretationsgruppen zu arbeiten, in denen keine Lehrer:innen, sondern Sozial- und Bildungswissenschaftler:innen versammelt sind.
Der Arbeit gelingt es gut zu zeigen, dass die professionstheoretische Anerkennung von Offenheit und Kontingenz im pädagogischen Raum es ermöglicht, Improvisation aus der im Alltagsverständnis von situativ nicht-gut-genug oder mangelhaft vorbereiteten pädagogischen Praxis zu lösen und so ein pädagogisches professionelles Handeln in den Blick zu rücken, in dem angesichts professionellen Wissens und Könnens situativ mit anderen kreiert werden kann. Diese Sichtweise knüpft Hoffelner aus den Umgangsweisen von Improvisation in Musik, Tanz oder Theater (vgl. 302). So kommt Unterrichten als (Performance-)Kunst in den Blick mit der Frage, wie darin die Rolle der Lehrperson zu verstehen sei: „Wodurch zeichnet sich also das pädagogische Handeln in einer als Kunst verstandenen pädagogischen Praxis aus?“ (130) Über Praxen der Performance-Kunst, einem Verständnis von Kunst als Können etc. eröffnet die Arbeit freilich berechtigte Fragen und Diskussionen, wie – auch angesichts disziplinärer Traditionen – neu und anders über Forschungspraxen nachzudenken wäre, etwa auch in Kenntnis von bereits situierten Forschungen (wie etwa art based research etc.). Pädagogisches Handeln zwischen Kunst, Spiel [1], Professionalität u.a.m. auch in transdisziplinären Räumen zu verhandeln, entspricht dem Zugang von Hoffelner im Sinne von Ungeplantheit als Charakteristikum für Improvisieren (auch in empirischen Rekonstruktionen) durchwegs.
Die vorliegende Studie bietet (höhersemestrigen) Studierenden in den Bildungs- sowie anderen Sozialwissenschaften ebenso wie Forscher:innen (insbesondere auf dem Feld pädagogischer Professionalisierungstheorien) und pädagogischen Praktiker:innen in und um Schule vielfältige Einsatzpunkte für ein geleitetes Nach- und Weiterdenken über Improvisation im pädagogischen Handeln. Sie eröffnet vielfältige, etwa etymologische Kontexte, gibt methodische Hinweise und Kontextualisierungen und ist bei aller Differenziertheit in der Sache gut lesbar. Ihr thematischer Fokus liegt auf Lehrer:innen in der Sekundarstufe und auf Improvisation, die als pädagogische (nicht etwa als fachliche, fachdidaktische etc.) benannt wird.
Lehrer:innen und Forscher:innen könnten über pädagogische Improvisation „neu der Ungewissheit [des] pädagogischen Handlungsfelds und [der] Komplexität schulischen Unterrichts gerecht werden“ (309). Damit könnten etwaige an dieser Arbeit anschließende Folgestudien zum Improvisieren verstärkt Schüler:innen [2] in den Blick rücken und/oder die Schüler:innen-Lehrer:innen-Beziehungen, um das Improvisieren vertieft für das unterrichtliche Handeln zu erforschen. Es wäre freilich auch naheliegend für anknüpfende Forschungsarbeiten, das pädagogische Improvisieren von pädagogisch Tätigen zu adressieren, wie das der Titel der vorliegenden Arbeit ankündigt, wobei die Arbeit sich nachvollziehbarerweise auf Lehrer:innen im Unterricht konzentriert. Die Lektüre der Arbeit inspiriert jedenfalls zu weiteren diversifizierenden Untersuchungen und Analysen, um dem Improvisieren als professioneller pädagogischer Praxis auf der Spur zu bleiben.
[1] Vgl. etwa Nachmanovitchs frühe Arbeit zu Free Play unter der Perspektive von Improvisation in Leben und Künsten (vgl. Nachmanovitch, S. (1990). Free play. Improvisation in Life and Art. Jeremy P. Tarcher).
[2] In Anlehnung an die Publikation von Breidenstein könnte etwa gefragt werden: Improvisieren Schüler:innen in ihrem ‚Schüler:innenjob‘ und wenn ja, wie? (vgl. Breidenstein, G. (2006). Teilnahme am Unterricht. Ethnografische Studien zum Schülerjob. VS Verlag.)