Marie Hoppe

Subjektwerdung unter Bedingungen von outsiderness

Subjektivierungstheoretische Lesarten kurdischer Schulbildungsbiographien in der Türkei
Opladen, Berlin & Toronto: Budrich Academic Press 2023
(429 S.; ISBN: 978-3-96665-054-0; 100,00 EUR)

Menschen und Gruppen, die sich als kurdisch verstehen, waren und sind in herrschenden Konstruktionen von der „türkischen Nation“ kaum vorgesehen. Zwar sind sie seit der Staatsgründung der Türkei unter Mustafa Kemal (Atatürk) im Jahr 1923 zumeist qua Staatsangehörigkeit formal dem türkischen Staat zugehörig; sie wurden in der Geschichte der Türkei jedoch kontinuierlich als „distinkte Gruppe verleugnet, assimiliert, inferiorisiert und kriminalisiert“ (66). Bei der Hervorbringung und Stabilisierung der türkischen Nation als eine ethnisch-kulturell-religiös homogene Gemeinschaft spielt (Schul-)Bildung eine zentrale Rolle. Die Schule fungiert (auch) in der Türkei als Instanz, die ein geteiltes Wissen über eine nationalstaatlich verfasste Wirklichkeit vermittelt und Heranwachsenden spezifische Identifikationen nahelegt, die mit institutionellen Ein- und Ausschlüssen verbunden sind.

Wie sich kurdisch (selbst-)positionierte Personen in diesem System bewegen und wie das Erlebte am Ort der türkisch-nationalen Schule fortwirkt, sich angeeignet und umgedeutet wird, ist – so liegt auf der Hand – alles andere als eindimensional und vorhersehbar, wurde bisher jedoch kaum systematisch untersucht. An diesem Desiderat setzt die Studie von Marie Hoppe an. In ihrem Dissertationsprojekt analysiert sie mittels biographisch-narrativer Interviews mit weiblich gelesenen, kurdisch positionierten bzw. sich positionierenden Personen im Alter von 18 bis 24 Jahren retrospektiv, „wie diese im Sprechen über die eigene Schulbiographie In- und Exklusion in das national gefasste ‚Wir‘ verhandeln und wie sie sich über dieses Sprechen als Subjekte konstituieren“ (14).

Marie Hoppe verfolgt dabei ein doppeltes Erkenntnisinteresse. Zum einem geht es ihr darum, am empirischen Material unterschiedliche Formen subjektiver Verhandlung von „outsiderness“ aus der Perspektive jener nachzuvollziehen, die durch machtvolle Zugehörigkeitsordnungen in der Türkei marginalisiert werden. Dieses Interesse führt die Autorin auf eigene (Studien-)Aufenthalte, Gespräche sowie Beobachtungen politischer Ereignisse vor Ort zurück, die den Diskurs um kurdische Positionierungen in der Türkei in den letzten Jahren stark bewegt haben (19). Zum anderen wird ein „allgemeines, auf die Ebene des Zusammenhangs von Subjekt und gesellschaftlichen Ordnungen (sowie ihrer Vermitteltheit durch die Institution Schule) abzielendes Erkenntnisinteresse“ verfolgt (17).

Diese Interessen verknüpft die Autorin in einem aufwendig konzipierten theoretischen und empirischen Design. Hierfür skizziert sie im ersten Teil ihrer Studie zunächst (Dis-)Kontinuitäten des Nationen-Diskurses seit der Staatsgründung. Entlang zahlreicher Studien, insbesondere von in der Türkei ansässigen Wissenschaftler:innen, zeichnet sie das dialektische Verhältnis der Konstitution von türkischer Nation und kurdischen Anderen nach. Hoppe zeigt auf, wie „kurdische Andere“ u.a. entlang solcher orientalistischer Logiken hervorgebracht wurden, mittels derer die Türkei selbst – als Gegenfolie zum „Okzident“ – seitens des Westens belegt wurde: Im Versuch, sich aus diesem orientalisierten Verhältnis zu lösen, galt es u.a. über die Abgrenzung vom „Osten“ der Türkei und den hier lebenden, als kurdisch verstandenen Personen, der zugeschriebenen Rückständigkeit eine Absage zu erteilen und so ein modernes Türkisch-Sein nach westlichem Vorbild zu konstruieren (46). Bezüglich solcher und weiterer Konstruktionen der türkischen Nation arbeitet Hoppe die rassistischen Logiken heraus, die dem Narrativ des türkischen Nationalstaats immanent sind.

Der so rekonstruierte Diskurs leitet unterschiedliche Praktiken des Othering von nichttürkisch positionierten Menschen und Gruppen in nationalstaatlichen Institutionen wie der Schule an und präfiguriert hier (Un-)Möglichkeiten der Teilhabe ebenso wie Erfahrungen des (partiellen) Ausschlusses. Dies zeigt Hoppe im zweiten Teil ihrer Arbeit auf, in dem sie das Verhältnis von „Schule – Nation – Subjekt“ im Kontext der Türkei beleuchtet. Hier stellt sie die Verwobenheit von Schulorganisation und Nationalstaat dar, die u.a. in einer „monolingualen Ausrichtung von Schule“, „nationalistischen Routinen am Ort Schule“ sowie „bildungspolitischen Maßnahmen“ (104) zum Ausdruck kommen. Diese trugen dazu bei, dass „nicht-türkische Subjektpositionen“ im Schulsystem der Türkei auch heute noch „systematisch verkannt“ (113) werden.

Die umfangreichen Ausführungen des Forschungsstandes verbindet die Autorin in diesen ersten zwei Kapiteln mit der Ausarbeitung ihrer analyseleitenden theoretischen Konzepte. Zum einen entwickelt sie im Anschluss an Özlem Göner ein relationales Verständnis von „outsiderness“, mit dem sie „das symbolische Verhältnis zwischen dem nationalen Diskurs und natio-ethno-kulturell codierten Anderen“ (90) theoretisch zu fassen sucht. Zum anderen erarbeitet sie nach Judith Butler ein Verständnis von Subjektivierungsprozessen, „das es erlaubt, Subjektwerden in einem Doppel von Unterwerfung und Ermöglichung zu analysieren“, d.h. das von der Möglichkeit einer subjektiven Handlungsmacht ausgeht, die jedoch eingebunden bleibt in „den Bereich der sozialen Normen, die das Subjekt möglich machen“ (145f.). Dieses Konzept sensibilisiert sie über die Lektüre rassismuskritischer Arbeiten auf „die Verwobenheit hegemonialer und rassistisch-markierter Subjektivierungen“ (146).

Vor diesem Hintergrund werden im dritten Kapitel die der Studie zu Grunde liegenden metho(dolog)ischen Überlegungen vorgestellt. Neben der kritischen Reflexion der Eingebundenheit ihrer Forschung in globale Macht- und Herrschaftsverhältnisse und sich daraus ergebender Gefahren, im Analyseprozess an orientalistische Wissensproduktionen anzuschließen, erweisen sich Hoppes Überlegungen zu einer „subjektivierungstheoretisch informierten Interviewforschung“ sowie „poststrukturalistischen Lesart des biographischen Forschungsansatzes“ (25) als ebenso interessant wie innovativ.

Im vierten Teil der Arbeit stellt die Autorin die Ergebnisse ihrer Analysen entlang detaillierter Re-Konstruktionen zweier Fälle dar. Präzise zeichnet sie unterschiedliche Erfahrungen ethnisch-kultureller Fremdzuschreibungen in der Schule nach, die sich je nach Kontext zwischen der De-Thematisierung und Diskreditierung kurdischer Identitäten bewegen. Zugleich zeigt Hoppe unterschiedliche Weisen auf, in denen die Frauen* auf das ihnen in Schule und Gesellschaft zugeschriebene Kurdischsein Bezug nehmen(, „etwa als politische Identität, als biographischer Kampf, als ein ursprüngliches Verbundensein, sogar als Distinktionsmerkmal, aber auch als Zumutung und Makel“, (401)) und arbeitet hiermit verwobene Modi der Thematisierung und Verhandlung von „outsiderness“ heraus. Hoppe kommt u.a. zu dem Schluss, dass Räume eines kritischen Hinterfragens dominanter Zugehörigkeitsordnungen in der Schule der Türkei „sehr eng gefasst sind“ und meist von „Ressourcen aus außerschulischen Räumen“ abhängen sowie davon, „von Personen in diskursmächtigeren Positionen (z.B. Lehrkräfte oder auch zugehörige Freund*innen) eröffnet“ zu werden (402).

Als zentral wird auch das Motiv der Scham der interviewten Frauen* beschrieben, als Andere in der Schule sichtbar zu werden, sowie hierauf bezogene Versuche, ein solches Identifiziertwerden zu erschweren, etwa durch „habituelle Angleichung an ein mehrheitstürkisches Idealbild“ (372). Diese erzählten Praktiken analysiert Hoppe nicht als einfaches Unter- bzw. Einordnen in dominante Zugehörigkeitsordnungen, sondern als Ausdruck der Handlungsfähigkeit der Akteur:innen in Form eines Bemühens, „sich aus verletzenden (Anrufungs-)Strukturen ein Stück herauszulösen und die Sphäre sozialer Lesbarkeit für sich zu erweitern“ (387). Damit schlägt die Autorin in kritischer Auseinandersetzung mit Butlers diffusem Verständnis der Resignifikation (Kapitel 5) einen „weiten Begriff resignifizierender Handlungsfähigkeit“ vor, der „nicht notwendigerweise in einer Intervention, Transformation oder progressiven Veränderung besteht, sondern […] auch darauf ausgerichtet sein kann, Kontinuität, Stillstand und Stabilität zu fördern“ (389). In diesem Zusammenhang wird auch Butlers Begriff der Souveränität kritisch diskutiert.

Mit dieser Ausdifferenzierung eines Verständnisses von subjektiver Handlungsmacht liefert Marie Hoppes Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Theoriebildung zu Subjektivierung unter Bedingungen gesellschaftlicher Differenzverhältnisse. Demgegenüber bleibt eine kritische Befragung des Begriffs der „outsiderness“ am Ende der Studie aus. So legt dieser eine recht einseitige Positionierung der Frauen* in einem unbestimmten Außen nahe, und überzeugt nur bedingt darin, das dialektische Verhältnis von Innen/Außen bzw. Phänomene des In-Between sowie erzählte Praktiken des ausschließenden Einschlusses zu fassen, die in den Analysen Hoppes eine wesentliche Rolle spielen. Zudem eröffnen sich mit Blick auf das Interviewmaterial, so merkt auch die Autorin an, Fragen nach der Intersektionalität von Erfahrungen sog. outsiderness sowie von Subjektwerdungsprozessen, die sich insbesondere im Zusammenspiel von „Kurdischsein“, „Religion“, „Klasse“ und „Geschlecht“ artikulieren.

Insgesamt entwickelt Marie Hoppe mit ihrer Studie eine transnationale Perspektive, mit der es ihr nicht nur gelingt, unterschiedliche Facetten von Subjektwerden im nationalstaatlichen Gefüge der Türkei detailliert nachzuzeichnen. Indem die Studie zahlreiche Vergleichsperspektiven eröffnet und Verwobenheiten mit Praktiken und Erfahrungen des institutionellen Ausschlusses in „westlichen Gesellschaften“ aufzeigt, entrückt die Studie das Forschungsfeld der türkisch-nationalen Schule aus einem „nahöstlichen Anderswo“. Somit generieren Hoppes Analysen ein Wissen, „das zwar lokal geankert, aber global bedeutsam“ (20) ist und dadurch vielfältige Forschungsdiskurse – ebenso wie Studierende der Erziehungswissenschaft und Sozialen Arbeit – inspirieren kann.

Zur Zitierweise der Rezension
Ellen Kollender (Lüneburg): Rezension von: Marie Hoppe: Subjektwerdung unter Bedingungen von outsiderness. Subjektivierungstheoretische Lesarten kurdischer Schulbildungsbiographien in der Türkei. Opladen, Berlin & Toronto: Budrich Academic Press 2023 (429 S.; ISBN: 978-3-96665-054-0; 100,00 EUR). In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am: 7. Mai 2024), URL: https://ewrevue.de/2024/05/subjektwerdung-unter-bedingungen-von-outsiderness/