Friederike Thole

Das kritisch-akademische pädagogische Milieu um 1968

Wissensbewegungen zwischen Handlungspraxis, Politik und Wissenschaft
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(222 S.; ISBN: 978-3-7815-2569-6; 39,00 EUR)

Friederike Tholes Dissertationsstudie widmet sich drei Forschungsfragen: (1) Inwiefern fanden Wissensbestände aus politischer und pädagogischer Praxis des kritisch-alternativen Milieus der Studierendenbewegung um 1968 Eingang in den erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurs? (2) Wie haben sich diese Wissensbestände in (theoretischen) Ansätzen oder Konzepten etabliert, weiterentwickelt, wurden verworfen oder vergessen? (3) Inwiefern lassen sich Interdependenzen zwischen den divergierenden Wissensformationen nachzeichnen? Thole wendet sich einem Zeitraum zu, der disziplingeschichtlich für die Erziehungswissenschaft bedeutsam ist, wird der Studierendenbewegung um 1968 doch bis heute eine maßgebliche Rolle für sich damals verändernde und heute etablierte Standards in Erziehung, Bildung und Betreuung zugesprochen.

Die Studie besteht aus drei Teilen. Der erste Teil (Kap. 1-4) umfasst die historische und disziplingeschichtliche Einordnung, die Erörterung des Forschungsstandes, die Herleitung des Erkenntnisinteresses und der Fragestellung, Erläuterungen zur theoretischen und methodologischen Rahmung sowie die Deskription und Begründung des methodischen Vorgehens. Der zweite Teil (Kap. 5-7) stellt mit dem Fokus auf die empirischen Rekonstruktionen und thematischen Einordnungen das Kernstück der Arbeit dar. In den Kapiteln erfolgt (a) eine literaturbasierte Kontextualisierung und (b) die Darstellung der anhand der Datengrundlage (Interviews, Dokumente) induktiv erarbeiteten Themenstränge. In Kap. 5 finden sich Auseinandersetzungen mit der sich entwickelnden und verändernden Wissenschaftsumgebung und den damit verbundenen forschungs- und theoriebezogenen Neuentwicklungen. In Kap. 6 geraten veränderte Perspektiven und neue thematische Fokussierungen in den Blick, und in Kap. 7 steht der „Bedeutungsgewinn von Ungleichheit und Chancengerechtigkeit“ (10) im Vordergrund. Im letzten Teil (Kap. 8 u. 9) werden die Ergebnisse zusammenfassend dargestellt und diskutiert. Hier findet zudem eine Auseinandersetzung mit den Limitationen der Arbeit statt, an die wiederum zukünftige Forschungsmöglichkeiten geknüpft werden.

Zur Beantwortung der Forschungsfragen greift Thole auf das von ihr erarbeitete Konzept der Wissensbewegungen zurück. Damit werden Wissenstransformationen und -zirkulation zwischen divergierenden und miteinander verknüpften Diskursräumen gefasst. Zentraler metatheoretischer Bezugspunkt sind Überlegungen Flecks [1] zu Denkkollektiven, die Thole mit einem wissensgeschichtlichen Ansatz kombiniert. In Anlehnung an Foucault [2] wird von der Verschränkung wissenschaftlicher, pädagogisch-praktischer und politischer Diskursräume ausgegangen. Grundlegend ist ein konstruktivistisches Wissensverständnis. Mit dem weit gefassten Verständnis von Wissensbewegungen gelingt es der Verfasserin, Wissen als etwas prozesshaftes, fluides und multidirektionales zu beschreiben. Die Heuristik erlaubt es, die in den Forschungsfragen aufgeworfenen Aspekte der Bewegungsrichtungen und der (Dis-)Kontinuitäten von Wissen analytisch fassbar zu machen. Die Datenanalyse erfolgt als wissenssoziologische Diskursanalyse [3], die mit Ansätzen der Biografieforschung gekoppelt wird. Als weiteres Puzzlestück des elaborierten methodologischen Zugangs dient Elias‘ [4] Figurationstheorie, durch die die Rolle der Akteur:innen als Wissens(-re-)produzierende analytisch zugänglich gemacht werden kann. Die Auswertung erfolgte „angelehnt an die Grounded Theory“ (47).

Als Datengrundlage dienen biografische Interviews mit neun prominenten Vertreter:innen der Erziehungswissenschaft, Aktivist:innen außerpädagogischer Diskurse um 1968, die später Teil des wissenschaftsinternen Diskurses wurden – zu ihnen gehören u.a. C. Hagemann-White, M.-S. Honig und T. Kunstreich. Die Publikationen der Befragten dienen dazu, (Dis-)Kontinuitäten der induktiv erarbeiteten Themenbereiche im fachdisziplinären Diskursverlauf nachzuzeichnen. Systematisch greift Thole Diskurse, Themen und Entwicklungen des fokussierten Zeitraums auf und diskutiert diese hinsichtlich ihrer individuellen Relevanz sowie in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material. Hierzu zählen z.B. der Wandel des Wissenschaftssystems, die Bedeutungszunahme der Aktionsforschung, die Aufarbeitung der NS-Zeit und neue thematische Schwerpunkte, wie Frauen- und Geschlechterforschung, Kindheitspädagogik und Gewaltforschung in pädagogischen Kontexten.

Thole versteht es, die divergierenden Diskurse und Thematiken übersichtlich zu bündeln. Das ist besonders herauszuheben, da die Erarbeitung des Forschungsstandes z.B. aufgrund der Doppelrolle einiger Autor:innen als Wissenschaftler:innen und Zeitzeug:innen als herausfordernd zu beschreiben ist – wie die Autorin selbst anmerkt (15-16). Es gelingt ihr auf bemerkenswerte Weise, die jeweilige Bedeutung der Themen herauszustellen und zu zeigen, dass auch die u.a. als völlig freier Denkraum markierte Zeit um ‚68‘ nicht frei von hegemonialen Strukturen war, was anhand der damaligen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und mit „pädokriminellen Diskurspositionen“ (190) exemplifiziert wird. So führte die Zugehörigkeit der Interviewten zu einzelnen Denkkollektiven z.B. dazu, dass sie sich Themen- und Forschungsfeldern zuwenden konnten, die bis dato im (inner-)wissenschaftlichen Diskurs wenig präsent waren. Thole rekonstruiert drei Bedingungen, die Reaktionen wissenschaftlicher Diskursräume auf neue Wissensfragmente beeinflussen: (1) Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen, (2) Machtstrukturen auf Akteur:innenebene und (3) positive bzw. negative Wirksamkeit divergierender Themenfelder. Je nach Gemengelage kommt es zu „Abwehr, Teilaufnahme, Transformation oder auch Absorption“ (191) neuer Wissensfragmente. So zeichnet Thole eine Teilaufnahme neuer theoretischer Bezugsgrößen nach, wohingegen sie für den Forschungsstil der Aktionsforschung Transformationen konstatiert. Sie dokumentiert für die Bereiche der Frauen-, Geschlechter-, Gewaltforschung und Kindheitspädagogik eine Hinwendung zu neuen Wissensbereichen. Die Verfasserin stellt (a) eindrücklich heraus, dass die rekonstruierten Wissensbewegungen in der Zeit um 1968 auf einer besonders engen Interdependenz des pädagogisch handlungspraktischen, politischen und wissenschaftlichen Feldes basierten. Zudem zeigt sie, wie sich (b) das Wissen des Diskursraums des kritisch-alternativen pädagogischen Milieus durch Auseinandersetzungen mit der etablierten Erziehungswissenschaft transformiert und wie die Disziplin durch dieses Milieu zu Reaktionen gegenüber neuem Wissen aufgefordert wurde. Durch die sorgfältigen Rekonstruktionen wird deutlich, wie sich neue Wissensfragmente in vermeintlich feste Diskursräume einschrieben, transformierten und dass sie Zirkulationen unterworfen waren.

Thole erfüllt den selbst formulierten Anspruch, mit ihrer Studie „den erziehungswissenschaftlichen Diskurs um ‚1968‘ um eine Praxis und Theorie verknüpfende Perspektive zu erweitern“ (10). Sie liefert einen komplexen und erhellenden Einblick in Wissensbewegungen des kritisch-akademischen pädagogischen Milieus um 1968. Die Studie ist für Historische Bildungsforscher:innen interessant. Relevanz besitzt sie ferner für Lehrende, Forschende und Studierende der Erziehungswissenschaft sowie für Pädagog:innen, zeigt sie doch, dass sich (pädagogisches) Wissen durch und in divergierenden Diskursräumen mit ihren vielfältigen Akteur:innen konstituiert.

[1] Fleck, L. ([1980]2015). Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Suhrkamp.
[2] Foucault, M. ([1981]1988). Die Archäologie des Wissens. Suhrkamp.
[3] Keller, R. (2013). Zur Praxis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. In R. Keller & I. Truschkat (Hrsg.), Methodologie und Praxis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (Band 1: Interdisziplinäre Perspektiven, S. 27–68). Springer VS.
[4] Elias, N. ([1970]2004). Was ist Soziologie? Beltz Juventa.

Zur Zitierweise der Rezension
Sylvia Jäde (Osnabrück): Rezension von: Friederike Thole: Das kritisch-akademische pädagogische Milieu um 1968. Wissensbewegungen zwischen Handlungspraxis, Politik und Wissenschaft. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023 (222 S.; ISBN: 978-3-7815-2569-6; 39,00 EUR). In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am: 7. Mai 2024), URL: https://ewrevue.de/2024/05/das-kritisch-akademische-paedagogische-milieu-um-1968/