Karen Geipel

Zum Subjekt werden

Analysen vergeschlechtlichender Positionierungen im Sprechen über Zukunft
Wiesbaden: Springer VS 2022
(307 S.; ISBN: 978-3-658-37730-4; 69,99 EUR)

Wie werden Menschen gegenwärtig zu Subjekten im Horizont ihrer sprachlichen Artikulationen und wie lässt sich dieses Werden theoretisch und empirisch erschließen? Diese Fragestellungen verfolgt die Dissertationsstudie von Karen Geipel für das Feld der erziehungswissenschaftlichen Geschlechter- und Ungleichheitsforschung im Schnittfeld zur qualitativen Bildungs- und Biographieforschung. Indem sie sprachliche Äußerungen von weiblichen* Jugendlichen zu deren Zukunftsvorstellungen in den Blick nimmt und diese als diskursive Praktiken versteht, nimmt Geipel einen Zugang zum ‚Subjektwerden‘ als einem Geschehen der Subjektivierung.

Über das Konzept der Subjektivierung rücken, anschließend insbesondere an theoretische Grundlegungen Michel Foucaults und Judith Butlers, die gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, Prozesse und Effekte der Subjektkonstitution in den Fokus. Somit wird diese Konstitution als ein auf Dauer gestellter Vorgang der in sich verschränkten Selbst- und Anderenformierung verständlich, als Hervorbringung von Subjekten im Horizont sozialer und symbolischer Ordnungen. Im Falle von Geipels Studie geht es dabei zentral um die normativ-normierende, historisch gewachsene binäre Geschlechter- und Begehrensordnung, die systematisch Möglichkeiten der Subjektbildung begrenzt.

Mit dem Konzept der Subjektivierung verbindet sich eine seit ca. 20 Jahren währende produktive erziehungswissenschaftliche Debatte um die kritische Bearbeitung pädagogischer Problemstellungen sowie um die Erforschung von empirischen Vollzügen der Selbstbildung [1]. Geipels Studie schließt in doppelter Hinsicht an diese Debatten an: Zum einen werden Subjektivierung und der Begriff der Bildung in eine systematische Nähe zueinander gerückt, indem beiden Perspektiven ein geteiltes Interesse an der kritischen Reflexion bezüglich der ‚Trans-Formationen‘ von Menschen als Subjekten im Verhältnis zur Gesellschaft zuerkannt wird (mit Verweis auf Kollers transformatorische Bildungstheorie). Eng verbunden damit ist die Suche nach den Möglichkeiten von Widerstand bzw. der Erweiterung subjektiver Handlungsspielräume gegenüber sozialen Anforderungen.

Zum anderen nimmt Geipel Subjektkonstitutionen empirisch-analytisch in den Blick und fokussiert dabei auf vergeschlechtlichende Werdensprozesse. Sie schließt dabei an Arbeiten der Bildungs- und Biographieforschung an und untersucht Biographien als „soziale Konstruktionen, die durch die reflexive Bearbeitung von Erfahrungen als zeitliche Struktur erzeugt werden und im Zusammenspiel von diskursiv verfügbaren Subjektpositionen und deren (Re-)Signifizierungen entstehen“ (82). Üblicherweise konzentrieren sich Biographieforschungen auf eine Retrospektive und fragen nach dem Gewordensein von Subjekten. Von einer solchen ‚chrono-logischen‘ Engführung distanziert sich Geipel und betont, dass die Reflexion von Erfahrungen immer mit einer Verschränkung zeitlicher Bezüge einhergeht, dass also Erfahrungen und Erwartungen (im doppelten Sinn: sowohl normativ als auch temporal) im biographischen Sprechen ineinandergreifen. Dem folgend argumentiert Geipel, dass auch in Zukunftsnarrationen produktive Entwürfe des Selbst artikuliert werden, die sich aus Vergangenem, Gegenwärtigem und Antizipiertem speisen. Solche Zukunftsnarrationen untersucht Geipel denn auch, indem sie (berufs-)biographische Entwürfe von weiblichen Jugendlichen hinsichtlich eines „Modus des Zukünftigen“ (7) fokussiert.

Doch nicht nur an dieser Stelle bietet die Studie eine innovative Erweiterung etablierter Forschungszugänge, die hinsichtlich der Zielstellung der Studie –Vollzügen vergeschlechtlichender Subjektivierung empirisch zu folgen – notwendig wird. Auch in den „method(olog)ischen Überlegungen“ (85) plausibilisiert Geipel eine Neujustierung. Da sie als Untersuchungsmaterial eine Gruppendiskussion reanalysiert – das Datenmaterial entstammt einer Studie mit dem Titel „AN[N]O 2015“, an der die Autorin als Forschende mitwirkte –, sieht sich Geipel mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Zum einen suggeriert das Material einen gewissen „Naturalismus“ [2] in dem Sinne, dass sich in Gruppendiskussionen das ‚authentische‘ Sprechen einer Gruppe mit kollektiv geteilten Erfahrungen repräsentieren soll. Zum anderen ist dieses Material im deutschsprachigen Raum häufig mit dem Rekonstruktionsverfahren der dokumentarischen Methode [3] verknüpft. Die Studie Geipels schließt in Abgrenzung dazu an bisher nur vereinzelt vorliegende diskursanalytische Arbeiten zu Gruppendiskussionen an [4] und bezieht sich auf die Ebene der Äußerungen als den Ort der Subjektbildung: im Sinne einer performativ-diskursiven Praxis der Positionierung (anschließend u.a. an die Überlegungen zur diskursiven Positionierung nach Bronwyn Davies und Rom Harré). Im Ertrag bieten Gruppendiskussionen dabei den Vorteil, dass sie „das Wechselspiel zwischen den Selbstentwürfen Einzelner und der Anerkennung durch Andere“ (119f.) vor dem Hintergrund sprachlich realisierter Normen zugänglich machen. Im Zuge der Analyse zeichnet Geipel auf diese Weise eindrücklich nach, wie sich in der Gruppendiskussion im Sprechen über zukünftige Biographien einerseits hegemoniale geschlechtliche Seinsweisen ‚re-produzieren‘ (z.B. fürsorgliche Mütterlichkeit als Selbstpositionierung vs. berufstätig-abwesende Väterlichkeit als Fremdpositionierung) und wie andererseits differente geschlechtliche Seinsweisen (z.B. ‚Karrierefrauen‘ oder Mehrpersonenpartnerschaften) imaginiert, probehaft durchdacht und im Verlauf der Diskussion fortwährend normativ eingehegt werden.

Kapitel 1 führt in die Studie ein und verortet diese innerhalb der Bildungs- und Zukunftsforschung. Im Kapitel 2 werden die theoriebasierten Grundannahmen der Studie expliziert. Geipel präsentiert in einem ersten Abschnitt poststrukturalistisch-praxeologische Konzepte wie Diskurs, Norm, Macht, (Re-)Signifizierung auf luzide und verständliche Weise. Anschließend erweitert sie die subjekttheoretischen Annahmen um den Kontext der Geschlechterforschung und zeigt, inwiefern Geschlecht eine für Subjektkonstitutionen wesentliche, historisch wirkmächtige Differenz- und Ungleichheitsordnung sowie Differenzierungskategorie darstellt. Zudem wird das Sprechen über Zukunft als temporale Praktik reflektiert. In Kapitel 3 werden die analytischen Übersetzungen der poststrukturalistischen Konzepte für den Untersuchungszusammenhang jugendlichen Sprechens über Zukunft an der Schwelle zum gymnasialen Schulabschluss dargelegt. Kapitel 4 ist der vergleichsweise umfänglichste Teil der Arbeit und enthält die empirischen Analysen zu geschlechtsbezogenen Positionierungen im Sprechen über Zukunft. Mit den Positionierungen als planende Mädchen und als zukünftige Mütter werden zwei zentrale weiblich codierte Konstruktionen eines antizipierten Selbst, die in der Gruppendiskussion verhandelt werden, herausgearbeitet.

Deutlich wird, wie „(Un-)Möglichkeiten des Denk- und Werdbaren in der Zukunft in ihrer Geltung sowohl erzeugt als auch infrage gestellt“ (263) werden und wie die Sprechenden dabei auch in der Gegenwart ihrer Artikulationen als weiblich vergeschlechtlicht anerkennbar werden. Eindrücklich deutlich wird zudem die Persistenz und strukturierende Kraft von binären, heteronormativen Geschlechternormen für diese Prozesse. Interessant ist dahingehend, dass die Schülerinnen zwar einerseits nur wenige unkonventionelle Zukünfte entwerfen, dass sie aber andererseits keine grundsätzliche Verunsicherung bezüglich ihrer Zukunftsentwürfe artikulieren.

Im Kapitel 5 werden die analysierten Positionierungen zusammengeführt und hinsichtlich der übergeordneten Konstruktion „(sich) sorgender Subjekte“ (223) generalisiert. Anhand einer Diskussion unterschiedlicher sorgetheoretischer Überlegungen nach Heidegger und Foucault zeigt Geipel, inwiefern „weiblich vergeschlechtlichte Subjektivität gewissermaßen über eine doppelte Sorgekonstruktion entsteht: über die zeitliche Sorge als Zukunftsbezug und Vorwegnahme einer zukünftigen Sorge um Andere“ (246). Zudem werden die diskursiven Praktiken systematisiert, in denen Sorge als zentrale Norm des Subjektwerdens wiederholend aufgerufen wird.

In den Schlussbetrachtungen des Kapitels 6 reflektiert Geipel den Ertrag ihrer Studie, diskutiert Grenzen und offene Fragen der Untersuchung und fragt nach den Impulsen, die die Ergebnisse für die Pädagogik bieten. Sie kommt hier nochmals auf den Bildungsbegriff zurück und plädiert dafür, diesen expliziter mit der Auseinandersetzung um Zukunftsentwürfe zu verbinden. So lässt sich u.a. die Frage diskutieren, wie „das Entwerfen alternativer Zukünfte, in denen Subjektnormen erweitert werden“ (283) pädagogisch begleitet werden kann. Die Studie ist somit für Forschende, Lehrende und praktisch tätige Pädagog:innen lesenswert.

[1] vgl. Bünger, C. & Jergus, K. (2023). Bildung und Subjektivierung. Systematische Spannungslinien des Subjektivierungskonzepts im Kontext von Optimierung, Digitalisierung und Migration. In Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. 26(5). doi.org/10.1007/s11618-023-01201-8
[2] Hirschauer, S. (2008). Die Empiriegeladenheit von Theorien und der Erfindungsreichtum der Praxis. In: H. Kalthoff, S. Hirschauer & G.Lindemann (Hrsg.), Theoretische Empirie (S. 165–187). Frankfurt/M.
[3] vgl. bspw. Bohnsack, R., Nentwig-Gesemann, I & Nohl, A.-M. (2013). Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis (3. Auflage). Wiesbaden.
[4] vgl. u.a. Fegter, S.& Saborowski, M. (2021). Theoretische Modellierung einer empirischen Analyse von pädagogischer Professionalität und Geschlecht anhand von Äußerungen als iteratives Moment historischer Wissensordnungen. In D. Fischer, K. Jergus, K. Puhr & D. Wrana (Hrsg.), Theorie und Empirie. Wittenberger Gespräche VII (S. 78–101). Halle-Wittenberg.

Zur Zitierweise der Rezension
Melanie Schmidt (Halle): Rezension von: Karen Geipel: Zum Subjekt werden. Analysen vergeschlechtlichender Positionierungen im Sprechen über Zukunft. Wiesbaden: Springer VS 2022 (307 S.; ISBN: 978-3-658-37730-4; 69,99 EUR). In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am: 1. Februar 2024), URL: https://ewrevue.de/2024/02/zum-subjekt-werden/