Ricarda Katrin Rübben

Inklusion als berufsbiografisch bedeutsames Ereignis?

Identitätsentwicklung bei erfahrenen Lehrkräften
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(294 S.; ISBN: 978-3-7815-2457-6; 46,00 EUR)

Im Lichte der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen stehen nicht nur Förderschulen, sondern auch Gymnasien in der Kritik und unter einem massiven Transformationsdruck. An Gymnasien kollidiert der Widerspruch zwischen einer leistungsorientierten Selektion auf der einen und einer inklusiven Förderung auf der anderen Seite in ganz besonderem Maße. Mit Blick auf die Umsetzung schulischer Inklusion werden (u.a. neben den Schulleiter:innen) vor allem Lehrer:innen als zentrale und bestimmende Akteur:innen benannt. Die jeweiligen Einstellungen oder Beliefs von Lehrpersonen gelten als eine entscheidende Gelingensbedingung für die erfolgreiche Umsetzung schulischer Inklusion. Umgekehrt wird der Anforderung, schulische Inklusion umzusetzen, aber eine wichtige Rolle für die persönliche Entwicklung der damit beauftragten Personen zugeschrieben. Diese übe nämlich einen transformatorischen Einfluss auch auf das Schulpersonal aus und das ganz besonders im gymnasialen Kontext. Eine solche Transformation, insbesondere des gymnasialen Lehrer:innenhabitus durch den bildungspolitischen Inklusionsauftrag, wurde in der Diskussion um die Professionalisierung von Lehrkräften für die Umsetzung schulischer Inklusion wiederholt postuliert [1]. In Ricarda Rübbens Dissertation „Inklusion als berufsbiografisch bedeutsames Ereignis?“ widmet sich die Autorin dieser (möglichen) Entwicklung.

Im Rahmen ihrer Studie hat Rübben teilnarrative Interviews mit insgesamt vierzehn Gymnasiallehrer:innen aus Nordrhein-Westfalen geführt, die bereits über eine mindestens fünfjährige Berufserfahrung verfügten (das Referendariat nicht miteingeschlossen), sich also in der mittleren Berufsphase befanden. Nach der Definition von Hericks [2] hatten sie damit (zumindest potentiell) die Entwicklungsaufgabe des Berufseinstiegs bewältigt und eine erste berufliche Identität entwickelt. Darüber hinaus waren alle Interviewpartner:innen seit mindestens einem Jahr im inklusiven Unterricht tätig und hatten nicht nur zielgleich, sondern auch zieldifferent unterrichtet. Rübben betrachtet dies als Voraussetzung dafür, dass überhaupt von einer persönlichen Entwicklung im Kontext der Schulreform Inklusion gesprochen werden könne (vgl. 10f). Im Rahmen ihrer Datenauswertung arbeitete Rübben dann mit der biographischen Narrationsanalyse (in Anlehnung an Lucius-Hoene und Deppermann). Diese hat sie durch Elemente der Dokumentarischen Methode ergänzt. So spricht sie z.B. von ‚positiven‘ und ‚negativen Gegenhorizonten‘. Indem sie jedoch nach der Identität von Lehrpersonen fragt und nicht etwa nach deren ‚handlungsleitenden Orientierungsrahmen‘ oder auch Habitus, nimmt sie Abstand davon, erzählenden Passagen die hervorgehobene Bedeutung einzuräumen, wie es zumindest eine eher strenge Umsetzung der Dokumentarischen Methode impliziert.

Ausgehend von den Interviews rekonstruiert Rübben insgesamt drei Typen von Identitätskonstruktionen als berufsbiografische „Bewältigungsformen“ der Schulreform Inklusion (70, 77). Das Professionalitäts-, Institutions- und Professionalisierungsverständnis der interviewten Lehrer:innen betrachtet sie als zentrale Teilelemente. Als Eckfälle profiliert sie drei gymnasiale Lehrer:innentypen: Neben einem stark leistungs- und sachorientierten Lehrer:innentypus (auf der Ebene des Professionsverständnisses), wie er für den gymnasialen Kontext allgemein als charakteristisch gilt (Eckfall A), rekonstruiert Rübben einen eher pädagogisch und auf Beziehungen orientierten Typus (Eckfall B), und zudem einen primär schulentwicklerisch orientierten Typus, der sich von den gymnasialen Anforderungen nach Leistungs- und Sachorientierung weitestgehend distanziert (Eckfall C). Stattdessen stellt für diesen Typus der Abbau sozialer Ungleichheit eine wichtige Zielsetzung dar. Dem zweiten, primär pädagogisch und auf Beziehungen orientierten Typus ordnet Rübben insgesamt zwölf Fälle (als unterschiedliche Modifikationsformen) zu, den beiden anderen nur jeweils einen. Anders als in diesem Zusammenhang möglicherweise erwartet, charakterisiert Rübben die von ihr ausgehend von den retrospektiven Interviews herausgearbeitete Entwicklung durchgängig als eine Stabilisierung des eigenen professionellen Verständnisses und nicht etwa als durch die neuen Erfahrungen ausgelöste Transformation.

Bei der großen Gruppe der schüler:innen- und beziehungsbezogenen Lehrer:innen (Eckfall B) rekonstruiert Rübben ein berufsbiografisches Selbstkonzept, das in einer primären Ausrichtung auf die persönlich nahe und vertrauensvolle Beziehungsgestaltung und eine pädagogisch-psychologische Unterstützung der Schüler:innen bestehe. Beides sei auch für das Professionalisierungsverständnis der Lehrkräfte zentral. Im Rahmen eines eher ‚familiaristischen‘ Verständnisses von Schule und einem eher elternähnlichen Selbstverständnis, fühlen sich diese Lehrer:innen für die Förderung aller Schüler:innen verantwortlich. Sie akzeptieren dabei zwar Selektion als förderlich (da so jede:r auf seine Weise gefördert werden könne), weisen aber kein spezifisches (bildungspolitisches) Commitment zur Schulform und Institution Gymnasium auf. Die mit der Schulreform Inklusion intendierte Transformation des Schulsystems können sie darum gut mit ihrer beruflichen Identität vereinbaren. Rübben spricht daher von einer „pragmatisch-stabilisierenden Identitätsentwicklung“ (165-193).

Anders ist es bei Eckfall A, bei dem Rübben eine fachwissenschaftliche und deutlich fachleistungsbezogene berufliche Identität des Interviewpartners rekonstruiert, die mit einem starken Commitment gegenüber dem Gymnasium korrespondiere. Dieser Interviewpartner, der dem verbreiteten Klischees eines für das Gymnasium typischen Lehrerhabitus entspricht, entwickelte sich vom Skeptiker zum Opponenten. Bei ihm bedeutet die von Rübben konstatierte ‚Stabilität‘, dass er diesen typisch gymnasialen Habitus beibehält. Rübben konstatiert hier eine „opponierend-stabilisierende Identitätsentwicklung“ (125-165).

Eckfall C schließlich identifiziere sich selbst eher als Gesamtschullehrer und stehe der Selektionsfunktion des Schulsystems ausgesprochen kritisch gegenüber. Der Auftrag, schulische Inklusion umzusetzen, komme seinem auf Weiterentwicklung von Schule und auf Bildungsgerechtigkeit ausgerichteten Professionsverständnis sogar stark entgegen. Die Veränderung der gymnasialen Strukturen werden bei ihm zu einer Quelle der Selbstzufriedenheit und des Wohlbefindens und verbessern sogar das bisherige Passungsverhältnis. Rübben charakterisiert seine Identitätsentwicklung als „advokatorisch-stabilisierend“ (193-234).

Eine solche qualitative Studie kann selbstverständlich keine repräsentative Abbildung der Grundgesamtheit leisten. Weiterhin ist die Vorselektion der interviewten Lehrer:innen im Blick zu behalten. Diese haben sich sowohl freiwillig für die Übernahme inklusiven Unterrichts als auch für die Interviewteilnahme bereit erklärt.

Es handelt sich zudem um eine sehr spezielle und tendenziell eher kleine Gruppe von Gymnasiallehrer:innen: Inklusion – und insbesondere zieldifferente Inklusion – wird an Gymnasien eher selten umgesetzt. Für die bearbeitete Fragestellung ist diese Fokussierung des Personenkreises jedoch durchaus angemessen: Schließlich geht es hier um die Frage, wie sich die Erfahrung, inklusiven und zudem zieldifferenten Unterricht selbst durchzuführen, auf die Identitätsentwicklung gymnasialer Lehrkräfte auswirkt.

Transformationen der beruflichen Identität von Lehrpersonen stellen sich im Rahmen der Umsetzung von Inklusion, so Rübbens Ergebnis, offenbar nicht so automatisch ein, wie oftmals angenommen. Eher im Gegenteil stellte Rübben fest, dass die persönlichen Erfahrungen mit schulischer Inklusion jeweils zu einer Stabilisierung des eigenen professionellen Selbstverständnisses führe. Mit Blick auf die Diskussion um eine Professionalisierung von Lehrkräften für (schulische) Inklusion wäre eine Vertiefung der Auseinandersetzung des unterschiedlichen Passungsverhältnisses variierender Lehrer:innentypen (gerade an Gymnasien) im Kontext von Inklusion und den sich daraus ergebenden jeweiligen Einschränkungen und Potentialen, spezifischen Rekontextualisierungen und möglichen Transformationen sicherlich gewinnbringend.

Insgesamt handelt es sich bei Rübbens Dissertation um eine lohnenswerte, übersichtliche, gut nachvollziehbare und sehr gut lesbare Lektüre und um einen interessanten Diskussionsbeitrag in der Debatte um die Professionalisierung für schulische Inklusion. Dies gilt neben dem hier dargestellten empirischen Teil ihrer Arbeit auch für die theoretische Einführung, in der sich Rübben der Schulreform Inklusion (insbesondere in Nordrhein-Westfalen), den Konzepten von Identität (generell) sowie beruflicher Identität – gerade in Relation zum Konzept Habitus – sowie der Relevanz von bildungspolitischen Ereignissen für die berufliche Identität widmet.

[1] Gehde, H., Kohler, S.-M., & Heinrich, M. (2016). Gymnasialer Lehrerhabitus unter Transformationsdruck: Rekonstruktionen zur Inklusion. MV-Verlag.
[2] Hericks, U. (2006). Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe: Rekonstruktion von Berufseingangsphasen von Lehrer:innen und Lehrern. Wiesbaden: Springer VS.

Zur Zitierweise der Rezension
Meike Penkwitt (Aachen): Rezension von: Ricarda Katrin Rübben: Inklusion als berufsbiografisch bedeutsames Ereignis?. Identitätsentwicklung bei erfahrenen Lehrkräften. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021 (294 S.; ISBN: 978-3-7815-2457-6; 46,00 EUR). In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am: 1. Februar 2024), URL: https://ewrevue.de/2024/02/inklusion-als-berufsbiografisch-bedeutsames-ereignis/