Weinheim: Beltz Juventa 2022
(276 S.; ISBN: 978-3-7799-6997-6; 24,95 EUR)
Innerhalb des breiten Forschungsfeldes politischer Sozialisation werden Fragen der individuellen Politisierung ebenso behandelt wie solche nach dem Verhältnis von Individuum und (politischer) Gesellschaft. Allzu häufig rekurrieren einschlägige Studien dabei auf die Notwendigkeit einer Tradierung der politischen Ordnung und sog. „Bürgerorientierungen“ [1]. Im Band des Hamburger Professors für Erziehungswissenschaft Arnd-Michael Nohl wird eine Forschungslücke dieser Subdisziplin der Soziologie behandelt, die, so Nohl, mit ihrem bestehenden Theoriebesteck nicht in der Lage ist, politische Sozialisation jenseits der Institutionen der repräsentativen Demokratie zu denken. Um diese Lücke zumindest anfänglich zu schließen, arbeitet sich Nohl mit dem Instrumentenkasten rekonstruktiver Sozialforschung durch eine Reihe von Sekundäranalysen narrativer Interviews und Gruppendiskussionen mit Anhänger*innen linker und rechter Protestgruppen in Deutschland sowie Anhänger:innen der AKP in der Türkei und der Tea Party-Bewegung in den USA. Im Falle der linksalternativen Aktivist:innen greift der Autor dabei auf Material seiner Mitarbeiterin Sarah Thomsen [2] zurück, beim restlichen Datenmaterial handelt es sich um Zweitverwertungen einiger bereits erschienener Studien internationaler Forscher:innen. Das Interviewmaterial wird von Nohl anhand der Dokumentarischen Methode neu ausgewertet.
Mit dem Ziel, eine „nicht-staatsaffirmative Theorie politischer Sozialisation zu entwickeln“ (13) beginnt Nohl (Kapitel 2) mit einer theoretischen Herleitung des Sozialisationsbegriffs über G.H. Mead und K. Mannheim und konstatiert, dass aus den in Kindheit und Jugend erlernten Herangehensweisen an Fragen des Politischen ein je spezifischer Habitus erwächst, der für die politische Weltanschauung und Rollenorientierungen im Erwachsenenleben prägend ist. Als ‚politisch‘ werden (Kapitel 3) in Anlehnung an A. Nassehis Definition [3] „all jene Komponenten von Sozialisation verstanden […], bei denen Interaktionen, konjunktive Erfahrungsräume und Rollenorientierungen einen Bezug zu ein Kollektiv bindenden, durch Macht durchsetzbaren Entscheidungen haben“ (47). Demgegenüber erscheint es als unpolitisch, die symbolische Ordnung der Gesellschaft als statisch hinzunehmen bzw. als protopolitisch, wenn Entscheidungen nicht über die jeweilige peer group hinausgehen. Die in den Kapiteln 4 bis 7 untersuchten Aktivist:innen bzw. Parteianhänger:innen werden nun in ihrer politischen Weltanschauung unterschieden, welche wiederum danach definiert ist, inwiefern diese Menschen größere oder kleinere Teile der symbolischen Ordnung als politisierbar wahrnehmen. Ihnen wird außerdem eine je spezifische politische Rollenorientierung zugeschrieben, die auf der Habituierung dessen beruht, was Nohl als „politisches Können“ (75) bezeichnet und das auf ein kontingentes Selbstverständnis als politische Akteur:in verweist.
Beginnend mit der Analyse dreier Interviewtranskripte von Forschungssubjekten aus linksalternativen Protestmilieus (Kapitel 4) zeichnet Nohl bei zweien von ihnen einen transformativen Bildungsprozess nach, unter dem er die „eigenständige Transformation von Lebensorientierungen“ (82) versteht. Davon abzugrenzen ist der für den Autor zentrale Begriff der „Sozialisation als dem unauffälligen, seitens der Akteure selbst nahezu unbemerkten Entfalten von Orientierungen“ (ebd.). Aus den Interviews mit einem Friedensaktivisten der sog. ‚68er-Bewegung‘ und einer Anti-Atom- und Frauenrechtsaktivistin rekonstruiert Nohl eine stark ausgebildete Fähigkeit zur Übernahme pluraler Perspektiven in linken Protestmilieus, was ihren Anhänger:innen Bildung in Form einer Habitustransformation ermögliche. Gleichsam zeigt er anhand eines Greenpeace-Aktivisten, dass ein solcher Bildungsprozess kein notwendiger Bestandteil linkspolitischen Engagements ist. Die politischen Orientierungen der drei Genannten führen zu einer Definition „außerinstitutionelle[r] politische[r] Handlungsorientierungen“ (140), die Nohl „auf die habituierte Art und Weise, eine kollektiv bindende Entscheidung herbeizuführen“ (ebd.) bezieht, „ohne aber auf politische Rollen und Institutionen zurückzugreifen“ (ebd.).
In Kapitel 5 wendet sich Nohl einer Theorie des Populismus zu, wobei er diesen als „Ausdrucksmittel eines Habitus in der Abwärtsspirale“ (148) begreift: In eindrücklicher Weise kommt Nohl zu dem Befund, dass Populist:innen ein „allenfalls ausgehöhltes Verständnis der repräsentativen Demokratie“ (157) zugeschrieben werden muss, was sich in einer „Entgegensetzung von Elite und einem als homogen gedachten Volk, Antipluralismus und [der] Untergrabung der Gewaltenteilung“ (ebd.) niederschlägt. Nohl greift hier auf Befunde aus ‚Die Gesellschaft des Zorns‘ der Darmstädter Soziologin Cornelia Koppetsch zurück. Deren Problematik hinsichtlich der bereits zum Erscheinen des hier rezensierten Werkes belegten Plagiatsvorwürfe räumt Nohl ein, begründet die Verweise auf Koppetsch jedoch mit „der Originalität des ihr unterliegenden Ansatzes“ (149). Er bezieht sich hier insbesondere auf Koppetschs These einer linksliberalen Diskurshegemonie, nach der konservative und rechte Artikulationen aus dem Diskurs ausgeschlossen werden und auf diesen Ausschluss mit populistischem Protest reagieren. Die Problematik dieser These hat F. Biskamp an anderer Stelle herausgearbeitet [4], wichtig ist hier, dass Nohl von Koppetsch den Begriff der „Re-Souveränisierung“ (151) als Erklärungsmuster für rechtspopulistischen Protest übernimmt. Über linkspopulistische Varianten – das betont Nohl in einer Fußnote (162) selbst – wird an dieser Stelle leider nicht gesprochen.
Vor diesem Hintergrund erfolgt zunächst (Kapitel 6) eine gemeinsame Analyse von AKP- und Tea Party-Anhänger:innen. Hierzu rezipiert Nohl verschiedene bereits im englischen [5] und türkischen [6] erschienene Studien. Den Tea Party Anhänger:innen attestiert er eine unbewegliche, an der amerikanischen Verfassung orientierte Rollenorientierung, nach der jegliche Änderung der tradierten symbolischen Ordnung als falsch erscheint. Als vorwiegend der ländlichen Bevölkerung zuzurechnende Wähler:innen unterstützen sie populistische Oppositionelle, die ihnen einen schlanken Staat versprechen, der aufhört, die städtischen Eliten zu bevorzugen. Dem gegenüber positioniert Nohl Anhänger:innen der türkischen Regierungspartei AKP. Anders als im Falle der Tea Party wird das Politische hier nicht zurückgedrängt; stattdessen kommt es aufgrund des extrem hohen parteipolitischen Engagements der AKP-Anhänger:innen zu einer „Einebnung der Grenze zwischen Politik und alltäglicher Lebensführung“ (193), wodurch das Politische hier einen „ausufernden Charakter“ (203) erhält. AKP- wie Tea Party-Anhänger:innen erscheinen so als populistisch, da sie einen einheitlichen Volkswillen gegen eine elitäre Minderheit behaupten. Da sie sich zu dessen Durchsetzung der Institutionen der repräsentativen Demokratie bedienen, handelt es sich in beiden Fällen um einen innerinstitutionellen Populismus. Gemein ist ihnen außerdem die Unfähigkeit zur Übernahme ihnen fremder politischer Perspektiven.
Um rechtspopulistischen Protest in Deutschland zu untersuchen rezipiert Nohl eine Studie von Geiges et al. [7], deren Rohdatenmaterial er neu analysiert. Diese Protestform erscheint Nohl als „Selbstverständlichkeitsaufbrecher“ (218): hier findet eine radikale Politisierung nicht inner- oder außerhalb der, sondern gegen die Institutionen der repräsentativen Demokratie statt. Die interviewten ‚Pegida‘-Aktivist:innen unterstellen ‚den Politiker:innen‘ eine grundlegende Unfähigkeit, aus vermeintlich objektiven Informationen die korrekten Schlüsse zu ziehen. Hier kommt Nohl zu dem Schluss, dass den ‚Pegida‘-Aktivist:innen eine Übernahme anderer politischer Perspektiven somit nicht möglich ist: es gehört zu ihrer politischen Rollenorientierung, dass es grundsätzlich nur eine – und zwar ihre – korrekte Perspektive auf Wahrheit gibt. Nohl führt diese Unfähigkeit auf die Sozialisation der Aktivist:innen in der ehemaligen DDR zurück, wonach diese zu einer Idealisierung des repräsentativ-demokratischen Systems geführt hat, die nun enttäuscht wird. Hier bleibt jedoch offen, wie sich damit ähnliche Protestgruppen auf dem Gebiet der sog. ‚alten‘ Bundesländer erklären lassen.
Abschließend fasst Nohl die von ihm forcierte Erweiterung der Theorie politischer Sozialisation damit zusammen, dass er den ‚Pegida‘-Aktivist:innen mit Koppetsch eine „politische Re-Souveränisierung“ (251) zuschreibt, die sich in einer Erschütterung der vermeintlich kosmopolitischen Hegemonie niederschlägt. Ebenso wie bei den Anhänger:innen der AKP und der Tea Party-Bewegung erscheint ihnen der jeweilige politische Gegner als „Feind, der nur (und sei es durch Wahlen) bekämpft, mit dem aber kein Kompromiss geschlossen werden kann“ (254), wobei die beiden letzteren ihren Protest innerhalb der politischen Institutionen artikulieren. Ebenso außerhalb, aber nicht gegen, sondern lediglich jenseits der Institutionen ist der Protest der linkspolitischen Aktivist:innen angesiedelt. Nohl schließt damit, dass sich linksalternativer Protest dadurch von Populismus abgrenzt, dass er plurale Perspektiven einschließt. Dies ist auf eine politische Rollenorientierung zurückzuführen, bei der bereits im Elternhaus produktiver Streit gelernt wurde. Dieser eher der Adoleszenz zuzuschreibende Protest grenzt sich dann auch dadurch von Populismus ab, dass letzterer eher auf Enttäuschungserfahrungen im Erwachsenenalter zurückgeführt werden kann.
In sehr leserlicher Weise gelingt es Nohl, plurale politische Spielarten des Phänomens Populismus in einer international angelegten Studie zu bündeln. Der Erkenntnisgewinn hinsichtlich einer Erweiterung des Begriffs der politischen Sozialisation um nicht-staatsaffirmative Sozialisationsformen ist gegeben, obgleich Nohl selbst betont, dass die empirischen Daten auf einer „nur bedingt gegebenen Vergleichbarkeit“ (259) beruhen. Sie sind jedoch imstande, den gegenwärtigen Diskurs um politische Sozialisation im besten Sinne „nachhaltig zu irritieren“ (ebd.). Das Buch kann damit allen einschlägig interessierten Leser:innen empfohlen werden, die sich für eine Theorie politischer Sozialisation jenseits der Institutionen der repräsentativen Demokratie interessieren.
[1] Soßdorf, A. (2021). Politische Sozialisation. In Andersen, U., Bogumil, J., Marschall, S., Woyke, W. (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland (S. 755–759). Springer.
[2] Thomsen, S. (2019). Biographische Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen – Empirische Typisierungen und normativitäts- und bildungstheoretische Reflexionen. Springer VS.
[3] Nassehi, A. (2003). Der Begriff des Politischen und die doppelte Normativität der ‚soziologischen‘ Moderne. In Ders., M. Schroer (Hrsg.), Der Begriff des Politischen. Soziale Welt Sonderband (S. 133–169). Nomos.
[4] Biskamp, F. (2019). Hegemonie? Welche Hegemonie? Teil IV einer Kritik an Cornelia Koppetschs Gesellschaft des Zorns. SozBlog blog.soziologie.de/2019/08/hegemonie-welche-hegemonie-teil-iv-einer-kritik-an-cornelia-koppetschs-gesellschaft-des-zorns/
[5] Kumkar, N.C. (2018). The Tea Party, Occupy Wall Street, and the Great Recession. Palgrave Macmillan; Hochschild., A.R. (2016). Strangers in their own Land. Anger and Mourning on the American Right. The New Press.; Cramer, K.J. (2016). The Politics of Resentment. Rural Consciousness in Wisconsin and the Rise of Scott Walker. University of Chicago Press.
[6] Dogan, S. (2017). Mahalledeki AKP. Parti Isleyisi, Taban Mobilizasyonu ve Siyasal Yabancilasma. Istanbul: iletisim.; Özet, I. (2019). Fatih-Basaksehir. Muhafazakâr Mahallede Iktidar ve Dönüsen Habitus. iletisim.; Akçaoglu, A. (2019). Zarif ve Dinen Makbûl. Muhafazakar Üst-Orta Sinif Habitusu. iletisim.
[7] Geiges, L., Marg, S., Walter, F. (2015). Pegida – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? transcript.