Eine Subjektivierungsanalyse von Kollektiven
Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich 2022
(275 S.; ISBN: 978-3-8474-2523-6; 39,00 EUR)
Die (sozial-)wissenschaftliche Erforschung der Selbstorganisationen von Migrant:innen in Deutschland widmete sich eine lange Zeit der Frage, ob diese den Integrationsprozess eher förderten oder hemmten. Diese Frage wird mittlerweile überwiegend in die Richtung beantwortet, dass Migrant:innenorganisationen sich zu wichtigen und anerkannten Partner:innen in der Gestaltung von Integrationsprozessen etabliert haben.[1] Ludgar Pries zufolge widmet sich die gegenwärtige Forschung nicht mehr der Frage, ‚ob‘, sondern „unter welchen Bedingungen solche Migrantenorganisationen welche Funktionen und Wirkungen für welche sozialen Gruppen entfalten.“[2] Die Dissertation von Nils Klevermann geht einen Schritt weiter und untersucht vor dem Hintergrund der Bedeutungsverschiebung, wie Migrant:innenorganisationen durch Politik und Verwaltung zu solchen Integrationsorganisationen gemacht wurden bzw. werden und wie sie sich selbst dazu verhalten.
Klevermann wählt für seine Analyse eine poststrukturalistisch-praxeologische Theorieperspektive. Seine Analyse geht von der Prämisse aus, dass sich soziale Wirklichkeit erst durch Sprache konstituiert und durch sie konstruiert bzw. produziert wird. Eine zentrale Rolle spielen dabei performative Sprechakte, in denen durch Sprache reale Handlungsakte vollzogen werden. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die sog. „Anrufungsszene“ von Louis Althusser, in der ein Polizist einem Passanten ein „Hallo, sie da!“ hinterherruft (Anrufung, Adressierung). Daraufhin wendet sich der Passant um (sog. Umwendung), und nimmt, so Althusser, erst durch diese „Umwendung“ die Identität des Schuldigen oder Verdächtigen an. Dieser Prozess wird auch Subjektivierung genannt (im Englischen Subjectivation).[3]
Was bedeutet es nun also, fragt Klevermann, wenn die Politik und Verwaltung Migrant:innenorganisationen anders adressiert, nämlich nicht mehr als ‚Hemmschuh der Integration‘, sondern als ‚Partner der Integrationsarbeit‘? „Hören“ die Organisationen auf diese „Adressierung“? Wenden sie sich also wie der Passant im Polizistenbeispiel um und nehmen sie damit die Identität als Integrationspartner:in an? Oder wehren sie sich gegen diese Anrufung als Integrationsorganisationen, weil sie eigentlich andere Ziele verfolgen (wollen) oder den Begriff der Integration anders verstehen als er von Politik und Verwaltung vorgegeben wird? Denn im Kontext der Theorie enthält jede Anrufung auch immer das Potential des Widerspruchs, der Veränderung des Anrufungshorizonts und der Anrufung selbst. Erst die Art und Weise, wie auf eine solche Anrufung reagiert wird, entscheidet darüber, wie sich eine neue soziale Wirklichkeit etabliert.
Infolgedessen wählt Klevermann einen sprachwissenschaftlichen Ansatz, um mögliche Veränderungen im Feld der Integrationspolitik nachzuvollziehen: So untersucht er auf der einen Seite die „Anrufungspraxis“ von Politik und Verwaltung in Bezug auf Migrant:innenorganisationen auf textlicher Ebene, indem er Förderprogramme, Reden von Politiker:innen, Publikationen und Internetauftritte von Politik und Verwaltung analysiert. Im Mittelpunt stehen dabei die Art und Weise, wie Migrant:innenorganisationen in den Texten angesprochen werden, wie sie implizit oder explizit adressiert werden, was unter Integration verstanden wird und auch was von Migrant:innenorganisationen im neuen Kontext erwartet wird. Auf der anderen Seite wurden Interviews mit Migrant:innenorganisationen geführt, um ihre Reaktion bzw. „Umwendung“ auf die neue Politik und die neue Art der „Anrufung“ sprachwissenschaftlich zu analysieren. Ziel ist es durch diese Sprachanalyse entsprechende Veränderungen in der sozialen Wirklichkeit in diesem Bereich der Integrationspolitik sowie die jeweiligen Subjektivierungsprozesse nachvollziehen zu können.
Dieses Vorgehen hat einen reichen Schatz an Ergebnissen hervorgebracht: Es wird minutiös anhand des zusammengetragenen Textkorpus nachvollzogen, wie Politik und Verwaltung die „neuen Partner:innen“ der Integrationsarbeit adressieren, welchen Rahmen sie für die Integrationsarbeit abstecken und welche neue soziale (Integrations-)Realität damit erzeugt bzw. verfestigt wird, beispielsweise wenn es um die Aufrechterhaltung der Dichotomie von Migrant:innen und Nichtmigrant:innen geht oder auch bestimmte kulturelle Zuschreibungen in den Texten fortgeschrieben werden. Durch die Beibehaltung der Dichotomie von Migrant:innen und Nichtmigrant:innen (man könnte ja auch alle Organisationen, die sich für die Integration von Zugewanderten einsetzen, gleichermaßen ansprechen bzw. anrufen) brächten Politik und Verwaltung Migrant:innenorganisationen auch erst hervor, weshalb Klevermann in seinem Text konsequent „Migrant:innenOrganisationen“ schreibt.
Umgekehrt wird deutlich, dass auch die untersuchten Migrant:innenorganisationen auf neue integrationspolitische Austauschformate und Förderlinien reagieren (sich umwenden). Die neue Politik (Anrufungsform) zwingt die Organisationen dazu, sich zu den neuen Angeboten zu verhalten. Sie befinden sich dadurch in einem Spannungsfeld von Legitimierung und Delegitimierung. Wenn sie als Partner:in wahr- und angenommen werden wollen, müssen sie versuchen, sich in dem Rahmen der Angebote zu bewegen und sich somit als (integrationspolitisch) adressierbar auszuweisen. Auch müssen sie mit der Dichotomie von Migrant:innen und Nicht-Migrant:innen bis zu einem gewissen Grad mitgehen, wenn sie nicht aus dem von Politik und Verwaltung abgesteckten Integrationsdiskurs und dem neuen Förderungsfeld rausfallen wollen. Die Analyse des aus den Interviews gewonnenen Textmaterials zeigt aber auch, dass sich die Migrant:innenorganisationen den neuen Adressierungen nicht schlicht unterwerfen. Vielmehr versuchen sie, die für sie von Politik und Verwaltung definierten Möglichkeitsräume auszuweiten. Dennoch kann Klevermann schlussfolgern, dass „der Subjektstatus von Migrant:innenOrganisationen maßgeblich an die durch die Politik und Verwaltung definierte Integrationspolitik und -arbeit gekoppelt ist.“ (255)
Zukünftige Arbeiten können gut an die Studie anschließen und zum Beispiel untersuchen, ob die von Klevermann rekonstruierten Dynamiken auch in anderen Kontexten zu beobachten sind. Klevermanns Untersuchung bezieht sich vor allem auf NRW. Gibt es Unterschiede in den Adressierungspolitiken in einzelnen Bundesländern oder sogar im internationalen Vergleich? Wäre eine bedingungslose Strukturförderung für Migrant:innenorganisationen, die von privaten Organisationen (z. B. Stiftungen) getragen wird, eine Lösung, um Migrant:innenorganisationen nicht zuzumuten, sich durch die Anpassung an die von Poliitk und Verwaltung formulierte (neue) Integrationspolitik und Förderprogramme zu verbiegen, sondern in stärkerem Maße autonom und souverän zu bleiben? Oder ist es an der Zeit, die Dichotomie von Migrant:innen und Nicht-Migrant:innen gänzlich aufzugeben, wie von den Postulant:innen einer postmigrantischen Gesellschaft schon längst gefordert? All diese Fragen werden durch die inhaltsreiche Analyse Klevermanns angeregt. Die von Klevermann vorgelegte Dissertation gewährt damit äußerst interessante Einblicke in das Verhältnis zwischen Staat (bzw. Politik und Verwaltung) und zivilen Selbstorganisationen von Migrant:innen in Deutschland und stellt einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung dieses Forschungsfeldes dar. Abschließend ist zu sagen, dass sich der Autor für eine sehr abstrakte und fachspezifische Sprache entschieden hat, die mit der Theorie des Poststrukturalismus wohl mögllich weniger vertraute, in dem Feld arbeitende Menschen ein Stück weit von der Debatte ausschließt, die hierzu wertvolle Gedanken beitragen könnten.
[1] Vgl. Weiss, K. (2013). Migrantenorganisationen und Staat. Anerkennung, Zusammenarbeit, Förderung. In G. Schultze & D. Thränhardt (Hrsg.), Mig-rantenorganisationen. Engagement, Transnationalität und Integration. Tagungs-dokumentation im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung (S. 21-31).
[2] Pries, L. (2010). (Grenzüberschreitende) Migrantenorganisationen als Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung: Klassische Problemstellungen und neuere Forschungsbefunde. In L. Pries & Z. Sezgin (Hrsg.). Jenseits von ‚Identität oder Integration‘. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen (S. 15-60). VS-Verlag.
[3] Vgl. Kogler, B. (2013). Sprache als Medium symbolischer Macht – Ein Vergleich der sprachsoziologischen Ansätze von J. Butler und P. Bourdieu am Beispielsatz „Es ist ein Mädchen!“. [Masterarbeit, Karl-Franzens-Universität Graz]. unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/227273/full.pdf