Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(271 S.; ISBN: 978-3-7815-2465-1; 36,00 EUR)
Erklärvideos und YouTube haben in den letzten Jahren besonders bei Kindern und Jugendlichen an Bedeutung gewonnen, dies zeigen aktuelle repräsentative Studien wie ‚KIM‘, ‚JIM‘ oder ‚Jugend / YouTube / Kulturelle Bildung‘. Auch im schulischen Bereich wird Erklärvideos zumeist ein hohes Potenzial nachgesagt, aber es regen sich auch kritische Stimmen, die sich häufig auf die (noch) nicht ausreichend belegte Lernwirksamkeit von Erklärvideos oder die kommerziellen Interessen von Videoportalen wie YouTube beziehen. In jedem Fall erreichen vereinzelte Lernvideos geradezu phänomenale Klickzahlen bis in den Millionenbereich, was ihre große Popularität unterstreicht.
Die Herausgeber:innen des Sammelbandes gehen daher der Frage nach, ob es sich beim Lehrvideo um das Bildungsmedium der Zukunft handelt. Widmet man sich diesem Bildungsmedium im Detail, stellt man allerdings rasch fest, dass viele Fragen bezüglich des Lehrvideos noch offen sind. Darunter findet sich auch die grundsätzliche Frage, wie sich Erklärvideos / Lernvideos / Lehrvideos unterscheiden bzw. definieren. Der Klappentext des Sammelbandes resümiert die bisher noch nicht hinreichend beantworteten Fragen: (1) Was genau sind Lehrvideos? (2) Was sollten wir über die Anbietenden dieser Bildungsmedien wissen? (3) Was sind Qualitätskriterien für Lehrvideos? (4) Welche Chancen, Grenzen, Herausforderungen und Gefahren sind mit dem Einsatz von Lehrvideos verbunden? Der Band nimmt sich zum Ziel, einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen zu leisten. Dafür werden drei Thementeile eröffnet.
Der erste Teil des Bandes widmet sich in vier Beiträgen grundlegenden Aspekten wie dem aktuellen Forschungsstand, quantitativen und qualitativen Forschungsergebnissen und curricularen Vorgaben hinsichtlich Lehrvideos. Der noch starke Forschungsbedarf wird hier deutlich (gemacht) und diverse Forschungsdesiderata werden benannt. Besonders ins Auge fällt in diesem Teil der Beitrag von Matthes und Lachner, die mittels qualitativer Videoanalyse sieben ausgewählte Videos zu biologischen Themen des Lernvideoportals ‚simpleclub‘ untersuchten und zu dem sehr negativen Ergebnis kommen, dass mittels einiger der auf ‚simpleclub‘ bereitgestellten Videos Geschlechterstereotype verstärkt und Frauen zu Sexualobjekten degradiert werden sowie pornographische Darstellungen in den Videos zum Einsatz kommen. Im Netz stellen sie das Kategoriensystem ihrer Analyse sowie eine tabellarische Ergebnisübersicht zusätzlich bereit. Kritisch zu hinterfragen ist hier die Objektivität bezüglich der Operationalisierung und der gewählten Skalenniveaus. Gleichwohl wird deutlich, dass die analysierten Videos durchaus als problematisch zu bewerten sind und weitere Videoanalysen auf dieser (beliebten) Videoplattform (und sicherlich auch anderen) folgen sollten, da anders als bei Lehrwerken eine übergeordnete Kontrollinstanz fehlt. Auch der Beitrag von Siegel, Streitberger und Heiland zur explorativen Analyse von ausgewählten Lehrvideo-Anbietenden auf YouTube in diesem Teil lässt erfreulicherweise (Online-)Einblick in das genutzte Analyseinstrument zu. Auch hier wären allerdings weitere Informationen z. B. in Form eines Codiermanuals wünschenswert gewesen. Nichtsdestotrotz ist diese transparente Art des Forschungsdatenmanagements als positiv und zeitgemäß hervorzuheben.
Der zweite Teil des Sammelbandes betrachtet in acht Beiträgen das Lehrvideo aus domänenspezifischer bzw. fachdidaktischer Perspektive. Positiv fällt auf, dass Beiträge mit Bezug zu insgesamt sechs Schulfächern (und darunter nicht nur Naturwissenschaften) vorzufinden sind, allerdings wird, ähnlich dem Sammelband von Dorgerloh und Wolf [1], die Perspektive der Fremdsprachendidaktik ausgeklammert. Insgesamt liegt der Schwerpunkt in diesem Teil auf der Analyse von ausgewählten Einzelvideos hinsichtlich fachwissenschaftlicher, medien- und fachdidaktischer sowie sprachanalytischer Qualitätskriterien. Die Beiträge kommen zu beachtenswerten Ergebnissen, welche nicht selten Defizite der analysierten Erklärvideos ausweisen; interessanterweise auch im Vergleich zum interaktiven Schulunterricht. Hier stellt sich allerdings vereinzelt die Frage nach dem angelegten Maßstab, wenn es zum Beispiel heißt, dass „Erklärvideos jedoch nicht einen klassischen, von einer erfahrenen Lehrkraft durchgeführten Unterricht ersetzen können“ (117). Sollen bzw. wollen sie das denn?
Was die Analyse von im Internet veröffentlichten Videos betrifft, erscheinen einige Beiträge etwas defizitorientiert, dies bereits in der Auswahl des Analysematerials, eröffnen allerdings gute und vielfältige Forschungsansätze für größer angelegte, repräsentative Vorhaben, die hoffentlich folgen werden. Der Sammelband legt hier einen soliden Grundstein. Interessant wären darüber hinaus neben den theoretisch herausgearbeiteten Stärken und Schwächen der analysierten Videos empirische Ergebnisse zur tatsächlichen Lernwirksamkeit ebenjener gewesen. Hier präsentiert lediglich der Beitrag von Wollmann im Rahmen eines Design-Based-Research-Projektes gewonnene Erkenntnisse.
Der dritte Teil widmet sich dem Lehrvideo in der Hochschullehre. Hier werden in sieben Beiträgen überwiegend Lehrkonzepte präsentiert, in denen das Lehrvideo entweder als Vermittlungsmedium oder Analysegegenstand zum Einsatz kam. Dem potenziellen Kompetenzerwerb durch die Produktion von Erklärvideos durch Studierende gehen Kerscher, Dusanek und Brunold sowie Haltenberger, Asen-Molz und Böschl auf den Grund. Einen substanziellen Beitrag leisten besonders Siegel und Hensch, die die Ergebnisse eines systematischen Reviews aller im Band publizierten Beiträge und darauf aufbauend einen Kriterienkatalog mit (medien )pädagogischen, filmanalytischen und rechtlichen Qualitätskriterien von Lehrvideos präsentieren.
Fazit: Auf formaler Ebene hätte man sich etwas mehr Sorgfalt gewünscht. In rund einem Viertel der Beiträge fehlen zitierte Quellen in der Bibliographie.
Es war, mit Blick auf den Inhalt, nicht das erklärte Ziel der Herausgeber:innen, mit dem vorgelegten Sammelband alle Aspekte des Bildungsmediums Lehrvideo vollumfänglich zu beleuchten. Von den vier im Klappentext gestellten Fragen konnten die letzten beiden am ausführlichsten beantwortet werden. Damit stellt sich abschließend die Frage aus dem Untertitel des Bandes: Ist das Lehrvideo das Bildungsmedium der Zukunft? Die Antwort bleibt der Sammelband schuldig. Weitere empirische Untersuchungen (insbesondere zur Lernwirksamkeit von Lehrvideos und bezogen auf die Perspektive der Nutzer:innen) müssen folgen. Ein wichtiges Bildungsmedium der Gegenwart ist das Lehrvideo jedenfalls, das zeigt der Band eindrücklich.
[1] Dorgerloh, S. & Wolf, K. D. (Hrsg.). (2020). Tutorials – Lernen mit Erklärvideos. Weinheim: Beltz.