Agnieszka Czejkowska / Susanne Spieker

Innere Sicherheit

Jahrbuch für Pädagogik 2019
Berlin: Peter Lang 2019
(386 S.; ISBN: 978-3-631-84162-4; 0,00 EUR)

Das vorliegende Jahrbuch der Pädagogik 2019 „Innere Sicherheit“ trägt gewinnbringend zur Diskussion von Problemstellungen um „‚Pädagogiken‘ und Felder innerer Sicherheit“ (S. 9) bei.

In dem sehr konzisen Editorial des Jahrbuchs werden im Anschluss an das interdisziplinär ausgerichtete Forschungsprogramm der „Sicherheitskultur“ (Daase et al.) und weitere problematisierende Forschungsansätze zum Thema (Pädagogik und) Sicherheit zwei Probleme markiert: „erstens die voranschreitende Pädagogisierung jener Bereiche, die als Sicherheitsrisiko definiert werden, zweitens die zunehmende Verlagerung der staatlichen Sicherheitsfrage nach ‚innen‘, in das Gesellschaftliche und Private.“ (S. 9) Insofern geht „Innere Sicherheit“ in dieser kritischen Perspektivierung über die ordnungspolitische Dimension hinaus und koppelt diese an das Innere der Subjekte, an Subjektivierungsprozesse, Diskurse und darin verwickelte und darauf antwortende Praktiken und Strategien. Darüber hinaus werden einige Fragen formuliert, die auf ganz unterschiedliche Perspektiven verweisen und damit ein Forschungsfeld breit auffächern.

Das erste Kapitel „Aktuelle Fragen innerer Sicherheit“ beginnt mit zwei Beiträgen zu Herausforderungen für die Pädagogik angesichts der Klimakrise. Ulrich Brand und Gerd Steffens deuten die anhaltende gesellschaftliche Handlungsverweigerung als Ausdruck einer sich selbst immunisierenden und immer wieder reproduzierenden, statusorientierten „imperialen Lebensweise“. Diese gelte es durch eine „sozialökologische Transformation“ zu überwinden, die Bildung einen zentralen Stellenwert zuschreibe und an den Idealen Mündigkeit, konstruktiver Konfliktivität sowie „der regulativen Idee einer guten Gesellschaft“ (S. 35) festhalte.

Henning Schluß vertritt dagegen die sehr eindrückliche These, dass die Klimakrise gerade die Fundamente der neuzeitlichen Pädagogik ins Wanken geraten lasse, da sie das „sensible Verhältnis von Sicherheit und Unsicherheit“ (S. 44) auf das die Pädagogik angewiesen sei, störe. Durch die Zunahme an Unsicherheit, vor allem im Bereich der lebenspraktischen Dimension, stehe die Pädagogik vor großen Herausforderungen, die vor allem Fragen aufwerfen. Der Beitrag endet mit einem eindringlichen Plädoyer des Autors „für eine pädagogische Klimafolgenforschung“ (S. 50).

In den anschließenden Beiträgen des ersten Kapitels werden dann Grundbegriffe des Sicherheitsdiskurses analysiert und deren Fallstricke diskutiert. Gemeinsam ist den Beiträgen von Dominik Feldmann (Extremismus), Nils Zurawski (Sicherheit und Gefahr) und Björn Milbradt (Radikalisierung) die Argumentation für einen reflektierten Umgang mit diesen. Außerdem wird jeweils das ‚Außen‘ der inneren Sicherheit problematisiert: die vermeintlichen extremistischen Ränder einer politischen Mitte, die präventiv-antizipierte Radikalisiertheit etwa von Muslim*innen und das besondere Risiko, das als von Jugendlichen ausgehend konstruiert werde.

Unterschiedlich deuten die Autoren dabei jedoch die Reichweite der diskutierten Begriffe sowie die Frage einer Kolonisierung der Pädagogik durch ‚Versicherheitlichung‘: Während Feldmann etwa den Extremismusbegriff entlang seiner auch bildungstheoretisch angelegten Analyse verwirft, plädiert Milbradt für den produktiven Gehalt des Radikalisierungsbegriffs und dessen Notwendigkeit.

Den thematisch wie theoretisch wiederum anders gelagerten Abschluss des ersten Kapitels bildet der Beitrag von Agnieszka Czejkowska und Katarina Froebus. Darin skizzieren die Autorinnen unter Bezugnahme auf Žižek und Laclau auf prägnante Weise die Hervorbringung des „wissenden Subjekts“ im Rahmen der COVID-19 Pandemie als spezifische Form der Subjektivität und argumentieren für die Erweiterung der Subjekttheorie.

Im zweiten Kapitel werden Problemrahmungen der Verunsicherung kritisiert und die „Bilder und Strategien der Versicherung“ (Überschrift) als solche der herrschenden Ordnung und nicht etwa gefährdeter Personen erkennbar. Als eine die Artikel verbindende Argumentationslinie lässt sich dabei die Absage an vereindeutigte, individualisierte Sicherheitsvorstellungen und die Öffnung für gesellschaftstheoretische Perspektiverweiterungen sowie die Hinwendung zu Unsicherheiten und Ambiguitäten ausmachen.

So wirft der Beitrag von Susanne Spieker – anhand der Analyse einer protestantischen Gemeinschaft des 17. Jahrhunderts – die Frage auf, inwiefern das Festhalten an der Vorstellung von Kontrollierbarkeit durch die Verlagerung der Verantwortung auf die Eltern und deren datenbasierte Erziehung ein sinnvolles Konzept zur Krisenbewältigung darstellen.

Christian Grabau und Stefan Palaver gelingt über die literaturwissenschaftliche Analyse von sich der Kontrolle entziehenden Figuren und Medienformaten, wie dem Roman und dem Comic, eine Umkehr der Perspektive: Statt der Überwindung von Unsicherheiten wird auf die produktive Seite von Uneinholbarkeit, Uneindeutigkeit und Unvorhersagbarkeit aufmerksam gemacht, etwa für die Reflexion von Bildungs- und Subjektivierungsprozessen.
Auch in den zwei folgenden Beiträgen geht es um die Absage an Eindeutigkeit und Dichotomisierung. Während Carsten Schröder und Marc Witzel über eine theoretische Auseinandersetzung mit Emotionen zu der These gelangen, dass Freiheit und Angst im Bereich der Pädagogik eben „keine starren Gegenpole, sondern in einer konstitutiven dialektischen Bewegung“ (S. 164) gedacht werden müssen, argumentiert Josef Strasser über die Auseinandersetzung mit der Professionalisierung von Berater*innen dafür die Einteilung zwischen Handlungs- und Grundlagenwissen aufzuweichen und stattdessen Unsicherheit als konstitutives Element auch professioneller Beratungspraxis anzunehmen.

Anke Wischmann und Lothar Wigger argumentieren dafür individualisierenden Problemrahmungen kollektiver (atomarer, klimatischer, ökonomischer) Krisen und damit verbundenen Risikodiskursen und pädagogischen Bearbeitungsformen kritisch zu begegnen. Gerade diese, die gesellschaftlichen Bedingungen verschleiernden Strategien der Versicherung führten letztlich zu mehr Unsicherheit. Wischmann nimmt die (pädagogischen) Bearbeitungsformen der ‚Prävention‘, ‚Preparedness‘ und ‚Resilienz‘ genauer in den Blick und plädiert dafür sie als „Strategien einer neoliberalen Public Pedagogy“ (S. 192) zu deuten, um ihnen wirksam zu begegnen. Wigger veranschaulicht an einem museumspädagogischen Beispiel, dass bereits die Rahmung von schädlichen Vorfällen als „Katastrophen“ auf eine positivistisch halbierte Rationalität, im Anschluss an Habermas und Honneth, verweist.

Zwischen den Beiträgen des dritten Kapitels „Optimierungsregimes in Bildung und Wissenschaft“ lassen sich ebenfalls viele Überschneidungs- und Anknüpfungspunkte ausmachen. Zentral ist bei (fast) allen die kritische Auseinandersetzung mit dem Einzug neoliberaler Logiken „als Ausdruck einer übergeordneten Sicherheitskultur“ (S. 227) in die Bildungspolitik und -praxis. Auf unterschiedlichen Ebenen wird verdeutlicht wie Bildung zunehmend für die vermeidliche Stabilisierung und die Wettbewerbsfähigkeit von Staaten instrumentalisiert und damit einhergehend Verantwortung an Institutionen sowie Individuen und ihre Optimierungs- und Leistungsbereitschaft delegiert wird.

Während Christian Ydesen und Karen Egedal Andreasen die Herausbildung einer Vergleichs- bzw. Prüfungskultur im internationalen Bildungsgeschehen anhand der historischen Entwicklung zwischen und nach den Weltkriegen sowie des Einflusses der Psychologie herausstellen, thematisiert Christina Gericke die zweifelhaften Kooperationsformen zwischen Schulen und Unternehmen, die abseits eines imaginierten Krisenszenarios von Schule und der Beschwörung von Synergieeffekten durch die belebende Dynamik der Wirtschaft, Fragen danach aufwerfen, wer dabei eigentlich wen absichert bzw. legitimiert und zu welchem Preis. Bei Florian Bernstorff und Mathias Marquard sowie Eik Gädeke geraten die veränderten und überaus konfliktreichen Erwartungen an Universitäten, deren Beschäftigte und Studierende in den Blick.

Wie Migrationsandere und Prekarisierte unter dem Dispositiv der Sicherheit Unsicherheit erfahren und dieser ausgesetzt sind, analysieren die Beiträge von Anke Wischmann und Jürgen Budde, Nadja Thoma sowie Nils Uhlendorf, die jeweils empirische Daten aus dem Feld Schule diskutieren. Wischmann und Budde zeigen nachvollziehbar wie das Konzept des Trainingsraums (Responsible Thinking Concept) unter dem Primat der Inklusion und reformpädagogischer Bestrebungen reale Prozesse der Exklusion und Diskriminierung stattfinden. Im Anschluss an „Securitization als gouvernementale[r] Strategie“ (S. 238) wird das Konzept des Trainingsraums als kontrollierende und (selbst-)disziplinierende Praxis im Rahmen einer neoliberal-bürgerlichen Ordnung verstehbar.

Uhlendorf knüpft in vielfältiger Weise an die skizzierten Beiträge an. Er rekurriert auf die von Foucault inspirierte Gouvernementalitätsforschung sowie das Sicherheitsdispositiv und rekonstruiert die Subjektpositionierungen von Deutsch-Iraner*innen zwischen Optimierungsdruck und Gefährdungszuschreibungen. Dies stelle im Sinne eines „marktförmigen Extremismus“ (S. 300) keinen Widerspruch, sondern eine wechselseitige Verwiesenheit dar, sodass sich rassistische Ordnungen im neoliberal strukturierten Leistungsdispositiv verwirklichten. So werden erneut Sicherheitsimperative dialektisch gegen ihren eigenen Anspruch gewendet.

Thomasens Studie zeigt am „Beispiel biographischer Erzählungen migrantisch positionierter Germanistikstudent*innen“ (S. 321), wie sprachliche Verunsicherungen prekäre Zugehörigkeiten binden und herausfordern. Unter der stetigen Bedrohung sich als Sicherheitsrisiko adressiert zu sehen und dem Integrationsindikator Nummer eins – Sprache – erzählten jene Studierende spezifische biographische (Un-) Sicherheitskonstellationen.

Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs stellt das Themenfeld der inneren Sicherheit, eine (noch) unterrepräsentierte Problemstellung dar, wie die Schlagwortsuche in einschlägigen Datenbanken verdeutlicht. Die Ausgabe des Jahrbuches leistet daher einen geradezu überfälligen und weitreichenden Beitrag zum gesellschaftlichen und pädagogischen Diskurs. „Pädagogik als akademisches Fach und gleichzeitiges Praxisfeld ist“ (S. 9), so heißt es gleich im Editorial des Bandes, „ein fester Bestandteil dieser Transformationen“ (ebd.). Den Anspruch der Öffnung kann das Jahrbuch dabei nicht nur durch die Auffächerung der skizzierten Problemstellungen einlösen, sondern auch durch die interdisziplinäre und ‚intermediale‘ Komposition, die neben den rezensierten Artikeln noch ein historisches Stichwort, ein Bild (Mikki Muhr), einen Jahresrückblick (Veronika Kourabas) sowie themennahe Rezensionen enthält. Was zunächst unzusammenhängend anmutet, lässt sich im Anschluss an die Lektüre geradezu als performative Absage an den Anspruch einer inneren Geschlossenheit und die Zumutungen eines eindimensionalen, begrenzenden Sicherheitsdenkens lesen.

Zur Zitierweise der Rezension
Imke Marquardt und Philippe A. Marquardt (Dortmund): Rezension von: Agnieszka Czejkowska / Susanne Spieker: Innere Sicherheit. Jahrbuch für Pädagogik 2019. Berlin: Peter Lang 2019 (386 S.; ISBN: 978-3-631-84162-4; 0,00 EUR). In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am: 19. Juli 2023), URL: https://ewrevue.de/2023/07/innere-sicherheit/