Enikö Zala-Mezö / Julia Häbig / Nina Bremm

Dokumentarische Methode in der Schulentwicklungsforschung

Münster, New York: Waxmann 2021
(280 S.; ISBN: 978-3-8309-4423-2; 34,90 EUR)

Während quantitative Schulentwicklungsforschung in den letzten Dekaden breit angelegte Studien im Sinne datenbasierter Schulentwicklung hervorgebracht hat und methodisch vielfach vereinheitlicht vorgeht, existieren im Bereich qualitativer Schulentwicklungsforschung zwar eine Reihe von Studien, eine breitere theoretische, methodologische und methodische Diskussion über qualitative Zugänge mit Bezug auf diesen spezifischen Gegenstand besteht bislang allerdings kaum (erste Versuche bei Moldenhauer et al. [1]). Der Sammelband von Enikö Zala-Mesö, Julia Häbig und Nina Bremm ist damit nicht nur als Gewinn für die Dokumentarische Methode, sondern für die qualitative Schulentwicklungsforschung insgesamt einzuschätzen und leistet darin Pionierarbeit.

Insofern erscheint es angemessen, dass die Autor:innen in der Einleitung von einem „Potential“ (7) für die Schulentwicklungsforschung schreiben. Über die einzelnen Beiträge hinweg wird dabei erstens die Rekonstruktion von Sinngehalten der Akteur:innen und zweitens deren Analyse v.a. mit Blick auf „stillschweigend vorhandenes und handlungsleitende[s] Wissen“ hervorgehoben, das „fur Prozesse der Schul- bzw. Organisationsentwicklung relevant ist“ (162). Gerade dieser Gegenstand kann als bedeutsamer Beitrag angesehen werden, den die Dokumentarische Methode (und sicherlich auch andere rekonstruktive Methoden) der Schulentwicklungsforschung anzubieten hat.

Vor dem Hintergrund der Fragestellung, was die Dokumentarische Methode also für die Schulentwicklungsforschung zu leisten imstande ist (9), gliedert sich der Band in fünf Abschnitte. Zunächst befassen sich Kramer und Goldmann in zwei Beiträgen mit theoretischen, methodischen und methodologischen Überlegungen. Kramer dekliniert hierfür das Potential dokumentarischer Forschung für die Analyse von Schulentwicklungsprozessen entlang von Kerntheoremen der Dokumentarischen Methode durch. Analytisch aufschließend erscheint bei ihm v.a. die Frage, wie Friktionen zwischen Akteursgruppen und -milieus (relevant besonders im Beitrag über multiprofessionelle Teams von Köpfer et al.), Norm und Habitus (relevant v.a. bei Studien, die sich mit stark fixierten Reformkontexten auseinandersetzen, im Band ebenfalls Köpfer et al. hinsichtlich Inklusion, Zala-Mesö et al. hinsichtlich Partizipation oder Miceli hinsichtlich der Selbständigen Schule) sowie Orientierungsrahmen und konjunktivem Erfahrungsraum als Treiber oder Folgen von Schulentwicklungsprozessen fungieren (27f). Kramer wirft als Limitierung die offene Frage nach Institution und Organisation auf, die etwa auch von Köpfer et al. (93) und Hertel (98) bearbeitet wird und auf die Goldmann im zweiten metatheoretisch-methodologischen Beitrag reagiert. Er versteht die Organisation gerade nicht als konjunktiven Erfahrungsraum, sondern als „polykontextural“ (40), und betont damit nicht die Einheit der Organisation, sondern die Vielfalt sozialer Wissenshorizonte, die in ihr auftreten. In den Mittelpunkt rückt dann bei Goldmann die Frage, wie unterschiedliche Sinnhorizonte über eine „Verbundkontextur“ vermittelt werden können. Seine Überlegung, ob das dann noch dokumentarisch ist, mag eine Frage sein, die vielleicht der begrifflichen Hermetik des dokumentarischen Diskurses geschuldet ist. In jedem Fall ist sein Ansatz für qualitative Schulentwicklungsforschung hochgradig instruktiv, denn vielfältige Deutungshorizonte zeigen sich nicht nur in fast allen Beiträgen des Bandes, sie widersprechen auch dem oft bemühten präskriptiven Diktum von der Schule als pädagogischer Handlungseinheit.

Die weiteren Abschnitte konzentrieren sich auf aktuelle Inhalte von Schulentwicklung, deren Prozessphänomene sowie datenbasierte Schulentwicklung. Der zweite Abschnitt thematisiert Ungleichheitskonstruktionen und nimmt dabei inhaltlich sozialräumliche (Kamm), inklusive (Köpfer et al.) und migrationsspezifische Belange (Hertel) der Schulentwicklung in den Fokus. Im dritten Abschnitt werden insbesondere Aushandlungsprozesse thematisiert.

Zala-Mezö et al. rekonstruieren, wie Lehrkräfte sich unterschiedlich auf den Anspruch der Partizipation beziehen, Miceli rekonstruiert Rekontextualisierungen der Bildungsreform „Selbständige Schule“. Paseka und Hinske verstehen die Einführung von Lernplattformen als Steigerung professioneller Ungewissheit, der Schulen durch die Antizipation zu erwartender (auch kritischer) Entwicklungsfolgen proaktiv begegnen können. Im vierten Abschnitt finden sich Untersuchungen zum Umgang mit Daten in der Schulentwicklung. Dabei geht es etwa um die Interpretation quantitativer Daten durch einzelschulische Akteur:innen (Racherbäumer und Bremm), oder auch um die Einspeisung und Kommunikation eigener qualitativer Daten in beforschte Schulentwicklungsprozesse (Asbrand und Martens). In einem Ausblick entwirft schließlich Moldenhauer für die einzelnen Beiträge überblickend eine Verhältnisbestimmung von Dokumentarischer Methode und Schulentwicklungsforschung, aus der sie weitere Perspektiven ableitet. Unter den vielfältigen Anregungen, die Moldenhauer entlang einer Heuristik der Bezugsprobleme von Schulentwicklung entfaltet, lässt sich insbesondere hervorheben, dass sie danach fragt, wie die Schule als spezifische, nämlich pädagogische Organisation zu fassen sei. Auch wenn solche Gegenstandsbestimmungen aufgrund der metatheoretischen Bezüge der dokumentarischen Methode sicherlich vor Herausforderungen gestellt sind, könnte ein Wegweiser hier in der Fundierung im professionellen schulpädagogischen Handeln liegen, wie dies bei der Schulkulturtheorie der Fall ist. Dann wären möglicherweise jüngst von Bohnsack entwickelte Überlegungen einer praxeologischen Professionsforschung zu integrieren.

Über die Beiträge hinweg zeigt sich insgesamt, dass die Dokumentarische Methode (oder andere rekonstruktive Methoden) besonders dann einen interessanten Einsatz für die Schulentwicklungsforschung hat, wenn Reformprogrammatiken in besonderer juristischer oder normativer Intensität als Normen in Kraft gesetzt werden (etwa Partizipation bei Zala-Mesö et al., Selbständige Schule bei Miceli oder Inklusion bei Hertel). Denn insbesondere bei den damit erhobenen Entwicklungserwartungen ist es bedeutsam, dass und wie diese entlang impliziter Wissensbestände (Habitus, Deutungsmuster) gebrochen werden und damit die Statik von Strukturen oder zumindest die Langsamkeit und Nichtlinearität von Prozessen untersucht werden können. Das Potential der Dokumentarischen Methode erscheint zugleich an einigen Punkten unausgeschöpft. Dies zeigt sich deutlich etwa daran, dass Kramer in seinem Beitrag viele forschungspraktisch anregungsreiche analytische Heuristiken der Dokumentarischen Methode nur im Konjunktiv mit Schulentwicklung in Verbindung bringen kann. Sichtbar wird dieses Potential auch an den vielfältigen Anregungen, die Moldenhauer entlang einer Theorie der Schulentwicklung aufweist und denen abschließend noch eine weitere anheimgestellt werden soll: Alle Beiträge des Bandes beziehen sich darauf, welche Orientierungsrahmen hinsichtlich der Prozessphänomene oder der Inhalte von Schulentwicklung rekonstruierbar sind. Sie fragen also nach Deutungen des Wandels. In der Schulentwicklungsforschungen finden sich zugleich jedoch gerade hinsichtlich der wesentlichen Akteur:innen von Schulentwicklung – der Lehrkräfte – auch vielfache Verweise auf eine professionalisierungsinduzierende Wirkung von Schulentwicklung bzw. gar die conditio sine qua non von Professionalisierungsprozessen in ihrem Kontext.

Forschungspragmatisch gewendet wirft dies die Frage nach dem Wandel von Deutungen auf, der im Band unbeantwortet bleibt. Dieser Umstand könnte einerseits daran liegen, dass dieser Wandel tatsächlich empirisch kaum stattfindet. Dies könnte aber andererseits auch Fragen aufwerfen, die die Dokumentarische Methode als Methodologie in zweierlei Hinsicht betreffen: Ist erstens der metatheoretische Rahmen (Habitus) zu statisch, um Veränderung in den Blick zu bekommen [2]? Ist zweitens das methodische Repertoire ausgereift genug, um Veränderung in der Rekonstruktion zu identifizieren? Inspiration hierfür findet die Dokumentarische Methode möglicherweise in ihrer eigenen Diskussion etwa bei Košinár [3], die in Langzeitstudien die Veränderung von Teilhabitus rekonstruieren kann oder bei Olk [4], der die implizite Reflexion als Ort potentieller Habitustransformation akzentuiert. Instruktiv könnte auch die transformatorische Bildungstheorie sein, mit der Koller [5] sich sowohl auf den Habitus im Kontext von Wandel, als auch auf Methoden seiner Rekonstruktion bezieht.

Insgesamt liegt mit dem Band eine Textsammlung vor, die einerseits für Rezipient:innen mit Fokus auf der Dokumentarischen Methode interessant sein dürfte, weil er insbesondere Anregungen zur Fragen des Organisationalen und der Veränderung aufwirft. Zugleich dürfte er auch für Leser:innen aus der Schulentwicklungsforschung stark anschlussfähig sein, die in den Begrifflichkeiten der Dokumentarischen Methode Anregungen für das Verstehen von Schulentwicklung erhalten können, die über normative oder technologische Vorstellungen hinausgehen. Die zentrale Stärke des Bandes liegt hier in der theoretisch-methodologischen Instruktivität und empirischen Erschließung impliziten Wissens für die Schulentwicklungsforschung.

[1] Moldenhauer, A., Asbrand, B., Hummrich, M. & Idel, T.-S. (2021). Schulentwicklung als Theorieprojekt. Springer Fachmedien.
[2] Pauling, S. (i.V.): Ungewissheit und Konvergenz in der Schulentwicklung. Eine Deutungsmusteranalyse an Primus-Schulen. Dissertation, eingereicht an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg am 28.2.2022.
[3] Košinár, J. (2019). Habitustransformation, -wandel oder kontextindizierte Veränderung von Handlungsorientierungen? Ein dokumentarischer Längsschnitt über Referendariat und Berufseinstieg. In R.-T. Kramer & H. Pallesen (Hrsg.), Lehrerhabitus. Theoretische und empirische Beiträge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs (S. 235-259). Klinkhardt.
[4] Olk, M. (2022). Differenzierte Verantwortlichkeit. ‚Implizite Reflexion‘ im (berufs-) biographischen Sprechen einer Klassenlehrerin an einer Grundschule mit inklusivem Selbstanspruch. In E. Gläser, J. Poschmann, P. Büker & S. Miller (Hrsg.), Reflexion und Reflexivität im Kontext Grundschule. Perspektiven für Forschung, Lehrer:innenbildung und Praxis (S. 130-135). Klinkhardt.
[5] Koller, H.-C. (2018). Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Kohlhammer Verlag.

Zur Zitierweise der Rezension
Sven Pauling (Oldenburg): Rezension von: Enikö Zala-Mezö / Julia Häbig / Nina Bremm: Dokumentarische Methode in der Schulentwicklungsforschung. Münster, New York: Waxmann 2021 (280 S.; ISBN: 978-3-8309-4423-2; 34,90 EUR). In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am: 19. Juli 2023), URL: https://ewrevue.de/2023/07/dokumentarische-methode-in-der-schulentwicklungsforschung/