Judith Elisabeth Küper

Das Antworten verantworten

Zur (Re-)Konzeptualisierung praktischer pädagogischer Reflexion anhand von Unterrichtsnachgesprächen im Kontext der zweiten Phase der Lehrer:innenbildung
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2022
(265 S.; ISBN: 978-3-7815-2535-1; 44,00 EUR)

Wie kann eine reflexive Distanzierung von sich selbst und der eigenen Praxis gelingen? Was braucht es, um die eigene subjektive Perspektive zu irritieren? Inwiefern gelingt die kritische Reflexion einer Praxis, in die das Reflexionssubjekt selbst involviert ist? Fragen wie diese tauchen mit Bezug zu Lehrer:innenbildung und Professionalisierung immer wieder auf. Beim Lesen der Dissertationsstudie von Judith Küper wird allerdings deutlich, dass diese Fragen einer Reflexion, die sich auf praktische Unterrichtserfahrungen richtet, nicht gerecht werden und es durchaus ein anderes Fragen beziehungsweise eine andere Gegenstandsbestimmung braucht, um dazu Antworten zu erhalten.

Die vorliegende „(Re)Konzeptualisierung“ des Phänomens „praktischer pädagogischer Reflexion“ geht von der theoretischen wie empirischen Beobachtung aus, dass ein Sprechen über eigene Unterrichtserfahrungen mit dem im Diskurs vorherrschenden Reflexionsideal nicht in Einklang zu bringen ist. An diese Erkenntnis anknüpfend stellt die Autorin auf der Grundlage empirischen Materials und theoretischer Analysen ein Theoretisierungsangebot zur Diskussion, das praktische pädagogische Reflexion als „Verhältnissetzung eines verantwortlichen Reflexionssubjektes zum eigenen pädagogischen Handeln“ (210) fasst. Auf diese Weise eröffnet Judith Küper spannende theoretische und durchaus neue Perspektiven auf das Feld pädagogischer Reflexion, das zwar traditionell und grundlegend mit der Lehrer:innenbildung und Lehrer:innentätigkeit verbunden ist, aber kaum systematisch hinsichtlich der theoretischen und empirischen Erschließung bearbeitet wurde. Insbesondere zeichnet sich ihre Herangehensweise durch einen erziehungstheoretischen Fokus aus, der bislang verdeckte Widersprüche zwischen dem Reflexionsideal und der ethischen Konstitution pädagogischer Handlungssituationen bearbeitet.

Hierfür nähert sie sich einleitend ihrem Vorhaben, sogenannte Praxisreflexion als theoriefähiges Phänomen und einen für diese Praxis adäquaten Reflexionsbegriff zu erschließen. Die Autorin bestimmt ihren Ausgangspunkt zum einen mit der Diskrepanz von Reflexionsideal und empirischen Befunden sowie zum anderen mit dem Fehlen erziehungstheoretischer Begründungen der Reflexionsbedürftigkeit pädagogischen Handelns.

Im darauffolgenden ersten Teil entwirft Judith Küper das für ihre Analyse grundlegende Problem und ihre Forschungsfrage: So wird in einer beeindruckend umfassenden und breiten Analyse des Diskurs- und Forschungsstandes die Diskrepanz zwischen einer Reflexionsnorm der distanzierten Objektivierung und der im Ausbildungskontext aufzufindenden Reflexionspraxis herausgestellt. Zugleich macht die Autorin Widersprüche zwischen diesem Reflexionsideal und der Begründung einer Reflexionsbedürftigkeit pädagogischen Handelns deutlich. Abschließend formuliert Judith Küper einen Antwortversuch auf diese Probleme und fragt nach „Ansatzpunkte?n? für eine (Re-)Konzeptualisierung praktischer pädagogischer Reflexion“ (77).

Der zweite Teil schließt eine „theoretisch-empirische Studie“ an. Darunter versteht die Autorin ein dialogisches Bezugsverhältnis zwischen Theorie und Empirie, „in der die jeweiligen Gehalte sich wechselseitig beleuchten, begrenzen und in den Blick holen“ (83). Entlang dieser Prämisse wird zunächst eine gesprächsanalytische Auswertung von Unterrichtsnachgesprächen im Referendariat vorgestellt. Mit Blick auf fünf unterschiedliche Fälle werden verschiedene Modi des reflektierenden Sprechens herausgearbeitet. Im Ergebnis dieser empirischen Analyse zeigt sich im Material die Besonderheit der Einnahme einer Handelndenperspektive, in der sich die Reflexionssubjekte sowohl erzählend als auch argumentierend zu den zurückliegenden Erfahrungen ins Verhältnis setzen. Darauf aufbauend abstrahiert Judith Küper die duale Systematik zweier zentraler Modi: das „horizontgebundene?n? Argumentieren?s? und engagierte?n? Erzählen?s?“ (142). Diese werden abschließend in zwei „Theoretisierungsschneisen“ entlang alteritätstheoretischer und traditionstheoretischer Bezüge diskutiert. Auf diese Weise macht die Autorin anhand ihrer empirischen Ergebnisse deutlich, dass ein theoretischer Zugang zu pädagogischer Reflexion nicht im Ideal einer objektivierenden Distanzierung zu finden ist. Stattdessen liest sie die pädagogische Reflexion als Teil einer Praxistradition sowie als Antwort auf pädagogische Verantwortungserfahrungen. Für beide Lesarten ist eine involvierte Handelndenperspektive konstitutiv. Dabei besticht dieser Abschnitt aus Leserperspektive mit präzisen wie auch ausführlich begründeten theoretischen und theorievergleichenden Analysen sowie schlüssigen Relationierungen zum Reflexionsdiskurs.

Der dritte und letzte Teil der Arbeit fasst den theoretischen Ertrag der Studie zusammen. Die vorherigen Befunde werden in fünf Dimensionen praktischer pädagogischer Reflexion überführt und noch einmal mit Blick auf den vorherrschenden Diskurs in der Lehrer:innenbildung reflektiert. Insbesondere zeigen sich Anschlüsse an eine Forschendenperspektive sowie an eine strukturtheoretische Perspektive auf Reflexion aber auch eine „differente Problemmarkierung“ (236) dazu, wie die Angemessenheit pädagogischen Handelns reflexiv beantwortet wird. So lässt sich entlang Küpers theoretischer Rahmung die Verantwortung für pädagogisches Handeln nicht in einer distanzierten Prüfung eigener Praxis verorten, sondern in der Anerkennung der Erfahrung eines Angesprochenseins, das der Ungewissheit pädagogischen Handelns gerecht wird. Damit füllt sich zugleich eine „ethische Leerstelle im dominanten Reflexionsdiskurs“ (240).

Insgesamt präsentiert Judith Küper eine sehr genaue und überzeugende Analyse der Frage, inwiefern sich ein Sprechen über eigenen Unterricht und Unterrichtspraxis theoretisch und begrifflich als Reflexion fassen lässt. Auch wenn es angesichts der Komplexität der Arbeit, ihrer zugrundgelegten Breite der Referenzen und der Menge an Anmerkungen sowie einigen Redundanzen manchmal nicht ganz leichtfällt, am Text zu bleiben, besticht die Arbeit gerade dadurch, dass dieses Feld in solch einer Akribie bearbeitet wurde. Vor allem bereichert sie den vorherrschenden Reflexionsdiskurs durch ihre neue Perspektive. Während aktuell immer wieder auf die Problematik eines Sich-Selbst-in-den-Blick-nehmens hingewiesen wird, bestimmt Judith Küper das Geschehen (traditionstheoretisch) vom Kontext, in den das Reflexionssubjekt eingebunden ist, und (alteritätstheoretisch) vom anderen aus. Auf diese Weise bietet sie nicht nur eine Alternative zu den im Diskurs unerreichbaren Idealen eines souveränen Beobachtendensubjektes und der Norm einer objektiven Distanzierung an, sondern auch die Möglichkeit, aus der immerwährenden und unlösbaren Theorie-Praxis-Problematik auszusteigen.

Zur Zitierweise der Rezension
Angela Bauer (Bayreuth): Rezension von: Judith Elisabeth Küper: Das Antworten verantworten. Zur (Re-)Konzeptualisierung praktischer pädagogischer Reflexion anhand von Unterrichtsnachgesprächen im Kontext der zweiten Phase der Lehrer:innenbildung. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2022 (265 S.; ISBN: 978-3-7815-2535-1; 44,00 EUR). In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am: 19. Juli 2023), URL: https://ewrevue.de/2023/07/das-antworten-verantworten/