Gertrud Beck / Heike Deckert-Peaceman / Gerold Scholz

Zur Frage nach der Perspektive des Kindes

Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2022
(276 S.; ISBN: 978-3-8474-2577-9; 39,90 EUR)

In der interdisziplinär operierenden Neueren Kindheitsforschung wird seit Längerem der Frage nachgegangen, inwieweit man die Perspektive des Kindes einnehmen bzw. rekonstruieren kann. Die Neuere Kindheitsforschung wurde in den 1980er Jahren in Kritik am pädagogischen und adultistischen Denken der älteren Sozialisationsforschung begründet. Ein Kritikpunkt liegt darin, dass Kinder in entwicklungspsychologischen und pädagogischen Untersuchungen lange Zeit nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft beschrieben worden sind. Sie galten als zu Entwickelnde und nicht als Seiende. V.a. in soziologischen Studien spielten Kinder so gut wie keine Rolle oder wurden, wenn überhaupt, als egoistische und asoziale Wesen [1], Barbaren [2], defizitbestimmte Sozialisationsobjekte, zukünftige Erwachsene [3] oder Akteure, die für das soziale Leben noch nicht reif sind, betrachtet. Sie wurden als Menschen markiert, die über die primäre und sekundäre Sozialisation erst noch zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft werden müssen und damit während ihrer Kindheit noch keine vollwertigen Gesellschaftsmitglieder sind [4].

Der 2022 erschienene Sammelband „Zur Frage der Perspektive des Kindes“ von Gertrud Beck, Heike Deckert-Peaceman und Gerold Scholz schließt an neuere Strömungen in der Kindheitsforschung an. Gegenüber einer v.a. soziologisch orientierten Kindheitsforschung wird in diesem Band eher pädagogisch-phänomenologisch und entwicklungspsychologisch argumentiert.

Ziel des Bandes ist es, den Eigenwert und die Eigenwelt der Kinder in einem erziehungswissenschaftlich orientierten Argumentationsgang zu beleuchten und das Handeln und Denken von Kindern, eingebettet in pädagogische Kontexte und Beziehungsstrukturen, zu erforschen. Thematisiert wird also, wie Kinder aktiv ihre Welt gestalten, wie sie sie – in ihrer Andersartigkeit und Fremdheit gegenüber den sie betreuenden, erziehenden, unterrichtenden und sozialisierenden Erwachsenen – sehen und wie sie sie als selbsttätige Subjekte – eingebunden in eine generationale, soziale und strukturale Ordnung – leben.

Der Band versammelt insgesamt 14 Beiträge von Erziehungswissenschaftler:innen, Grundschulpädagog:innen und Kulturantropolog:innen aus dem Feld der deutschsprachigen Kindheitsforschung. Den Beiträgen vorangestellt ist jeweils ein Foto von Gesine Kulcke, das der Bebilderung des jeweiligen Artikels dienen soll. Gerahmt und begleitet werden die Beiträge von Auszügen einschlägiger Quellen, angefangen bei Wilhelm von Humboldt (1836) bis Günter Mey (2001). Gertrud Beck erklärt in ihrem das Buch eröffnenden Beitrag, dass sie auf diese „Textsplitter“ (7) im Laufe ihrer eigenen wissenschaftlichen Laufbahn gestoßen sei und sie aus ihrer „eigenen Bibliothek“ (8) stammen. Warum rahmend keine aktuelleren Auszüge aus einschlägigen Quellen aufgeführt werden, wird nicht exemplifiziert. Dahingegen markieren die Herausgeber:innen in ihrer gemeinsam geschriebenen Einleitung den Beweggrund für die Publikation des Bandes: Es ist der aufgrund Mangels an (passenden) Einreichungen nur selten vergebene „Studienpreis Kindheitsforschung“ der Martha-Muchow-Stiftung (in der alle drei Herausgeber:innen Vorstandsmitglieder sind bzw. bis zu ihrem Ruhestand waren).

Die Martha-Muchow-Stiftung ist eine Institution, die in Erinnerung an die Pädagogin und Psychologin Martha Muchow „die Perspektiven und Handlungsprozesse von Kindern bei ihrer Auseinandersetzung mit der sie umgebenden Welt sichtbar und verstehbar zu machen versucht“ [5] und hierbei, neben dem Studienpreis, auch Stipendien für Forschungsvorhaben sowie Veröffentlichungszuschüsse finanziert. Ziel der Stiftung ist es, wie in der Einleitung und damit auch der Anlage des Buches nachzulesen ist, eine erziehungswissenschaftlich begründete Kindheitsforschung zu fördern. Mehr oder weniger legen die Herausgeber:innen mit dem Band nun eine Perspektivierung vor, wie sie erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung im Sinne Martha Muchows verstehen und für förderfähig erachten. Hierbei lassen sie neben den von ihnen selbst geschriebenen Beiträgen in neun weiteren Beiträgen verschiedene Autor:innen mit ihren empirischen und theoretischen Überlegungen zu Wort kommen. In einem Satz zusammengefasst ist die erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung im Sinne des Bandes eine, die sich an die kritische Erziehungswissenschaft anlehnt (Heike Deckert-Peaceman), lebensweltlich und generational orientiert ist (Ulrich Wehner), sich dabei den Methoden der Ethnographie (Swaantje Brill, Teresa Erlenkötter, Alexandra Flügel), der Analyse materialer Produkte von Kindern (Gesine Kulcke) und Kinderfragen (Markus Rautenberg) widmet; hierbei nicht nur die Freizeit von Kindern, sondern auch pädagogisch betreute Orte untersucht (Heide Kallert), damit auch Erziehungs- und Sozialisationsverhältnisse in Familien (Klaudia Schultheis) und Schulen (Gertrut Beck, Gerold Scholz) in den Blick nimmt, neuere gesellschaftliche Entwicklungen, wie die Auswirkung von ‚unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen‘ integriert (Laura K. Otto) und darüber hinaus i.S. einer stärker theoretisch begründeten Kindheitsforschung (Gerd Schäfer) argumentiert.

Von der theoretischen Verortung sticht v.a. der Text von Gerd Schäfer hervor, der zur Analyse (früh-)kindlicher Bildungsprozesse eine relational subjektorientierte Position statt einer – wie bisher eher fokussierten – (relational) sozialwissenschaftlichen vorschlägt. (Alltags-)Philosophische und die Naturwissenschaft integrierende Aspekte, kognitionswissenschaftliche, auf Sprache und Welterfahrung angelegte entwicklungspsychologische Gesichtspunkte sollten ihm zufolge bei der Analyse kindlichen Seins mehr Beachtung finden. Von Seiten method(olog)ischer Gesichtspunkte überzeugt v.a. der Beitrag von Klaudia Schultheis, die den Schwerpunkt der Analyse auf pädagogische Momente in materiell-diskursiven Praktiken legt und hierbei auch die „leiblichen und biographischen Voraussetzungen, kulturellen Bedeutungen, Zeit- und Raumaspekte sowie Auswirkungen organisatorisch-institutioneller Bedingungen“ (176) in den Blick nimmt, um in einer erweiterten Perspektive auf das pädagogische Geschehen eine variationsreiche Situationsdefinition aller am dynamischen Geschehen Beteiligten zu zeigen und darüber auf die Vielfalt an Bedingungen und Auswirkungen pädagogischer Situationen aufmerksam zu machen.

Im Buch werden stärker als in vielen anderen Beiträgen der Neueren Kindheitsforschung Erziehungsverhältnisse und das Werden von Kindern in den Fokus gerückt. Damit ist das Buch ein Versuch, die Kindheitsforschung in der theoretischen und empirischen Tradition der Erziehungswissenschaften zu verorten. Kritisiert werden kann, dass im Band neuere Strömungen der Kindheitsforschung weniger thematisiert werden. Nur unzureichend wird z.B. der Ansatz von Doris Bühler-Niederberger aufgegriffen, die zum Ende ihres einschlägigen Werkes „Lebensphase Kindheit. Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume“ [6] die Perspektive des Kindes als sozialer Akteur eng mit dem Konzept der generationalen Ordnung und damit auch einer – im Band thematisierten – sozialisatorischen Orientierung innerhalb verschiedener Gesellschaftsformen verbindet. Bühler-Niederberger machte schon weit vor Erscheinen des Bandes darauf aufmerksam, dass sich die soziologisch orientierte Neuere Kindheitsforschung seit den 1980er Jahren weiterentwickelt hat. Auch einschlägige Erziehungswissenschaftler:innen des Diskurses, die sich um eine Perspektive von Kindern bemühen und diese theoretisieren, kommen nicht zu Wort. Zu nennen seien z.B. Meike Sophia Baader mit ihrer historisch begründeten Perspektive, Florian Eßer mit seinem relationalen Ansatz oder Tanja Betz mit ihrer ungleichheitsbezogene Kindheitsforschung, um nur einige zu nennen. Entsprechend schließt der Band eine Lücke, der v.a. an der Phänomenologie orientierten, erziehungswissenschaftlich begründeten Kindheitsforschung. Bei Interesse an diesem Schwerpunkt lohnt sich die Lektüre des Buches.

[1] Durkheim, E. (2012). Erziehung, ihre Natur und ihre Rolle. In U. Bauer, U.H. Bittlingmayer & A. Scherr (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie (S. 69-83). VS Verlag.
[2] Parsons, T. (1991). The social system. Routledge.
[3] Schweizer, H. (2007). Soziologie der Kindheit. Verletzlicher Eigen-Sinn. VS Verlag.
[4] Durkheim, E. (2012). Erziehung, ihre Natur und ihre Rolle. In U. Bauer, U.H. Bittlingmayer & A. Scherr (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie (S. 69-83). VS Verlag.
[5] Martha Muchow Stiftung: martha-muchow-stiftung.de/ [abgerufen: 20.02.2023]
[6] Bühler-Niederberger, D. (2011). Lebensphase Kindheit. Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume. Juventa.

Zur Zitierweise der Rezension
Irene Leser (Berlin): Rezension von: Gertrud Beck / Heike Deckert-Peaceman / Gerold Scholz: Zur Frage nach der Perspektive des Kindes. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2022 (276 S.; ISBN: 978-3-8474-2577-9; 39,90 EUR). In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am: 18. April 2023), URL: https://ewrevue.de/2023/04/zur-frage-nach-der-perspektive-des-kindes/