Institutionelle Grenzziehungen an Schulen
Wiesbaden: Springer VS 2020
(161 S.; ISBN: 978-3-658-31180-3; 54,99 EUR)
In den letzten Jahren haben konfliktuelle Diskurse um Zugehörigkeit und antagonistische gesellschaftspolitische Verhandlungen von Migration zugenommen. Seit dem sogenannten “Sommer der Migration“ [1] lassen sich Neuartikulationen von unterschiedlichen Rassismen wahrnehmen, die mit vielfältigen Restriktionen und Zumutungen für migrantisierte Menschen und Rufen nach effizienteren Integrationsmaßnahmen einhergehen. Aylin Karabuluts Dissertation problematisiert das “Integrationsdispositiv als Dethematisierungsstrategie von strukturellem Rassimus“ (1). Die Autorin geht davon aus, dass sowohl politische als auch wissenschaftliche Zugänge zu Migration das so genannte Integrationsimperativ [2] zum Inhalt hätten, womit eine unhinterfragte weiße mehrheitsgesellschaftliche Perspektive auf “die Anderen“ und an sie adressierte Integrationsforderungen einher gehen (ebd.). Letztere müssen insbesondere im Kontext pädagogischer Institutionen problematisiert werden, da an Schüler*innen gerichtete Integrationsaufforderungen eine prägende sozialisierende Funktion in ihren Biographien einnehmen (8). Schule als Ort pädagogischen Handelns „(fungiert) als staatlich institutionalisiertes Instrument zur Wahrung mehrheitsgesellschaftlicher Privilegien“ (9) und ist als solche auch zu analysieren. Ausgehend von diesen Beobachtungen lässt sich Karabuluts Perspektive an der Schnittstelle von kritischer Migrationsforschung und Bildungsforschung verorten.
In Kapitel 1 werden gesellschaftliche und erziehungswissenschaftliche Dimensionen in Bezug auf Rassismuserfahrungen sowie Ungleichheitsmechanismen im Bildungssystem miteinander verknüpft. Karabulut interessiert sich insbesondere für Erfahrungen und Umgangsstrategien von Schuler*innen, die rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sind und setzt diese als „rassismusrelevante(s) Erfahrungswissen der Schuler*innen“ (8) in ihrer Untersuchung zentral. Sie arbeitet über die Sichtbarmachung dieses Erfahrungswissen migrantisierter Schüler*innen zudem heraus, wie Rassismuserfahrungen mit strukturellen Ungleichheiten verschränkt sind. In der Zusammenführung dieser beiden Dimensionen schließt sie, wie noch deutlich gemacht wird, eine gravierende Lücke in der deutschsprachigen bildungswissenschaftlichen Forschung (8).
In Kapitel 2 werden die theoretischen Voraussetzungen gelegt: Karabulut stellt vor dem Hintergrund einer intersektionalen Perspektive Grundzüge institutioneller Diskriminierungserscheinungen dar und erläutert Rassismus als spezifische Form von Diskriminierung. Es wird neben der Perspektive von Rassismus als struktureller Ungleichheitsdimension auf die rassismusrelevante “wir-ihr“ Konstruktion entlang natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitslinien verwiesen und die Logik des sogenannten „kulturellen Rassismus“ [3] herausgestellt. Karabulut beobachtet in gesellschaftlichen als auch wissenschaftlichen Kontexten eine unzureichende Auseinandersetzung mit dem Begriff race (44) und sieht als Folge dieser defizitären Beschäftigung Relativierungs- und Verleugnungsmechanismen von Rassismus, die benachteiligend auf Betroffene wirken, währenddessen seine Artikulation strukturell behindert wird (43).
Hier setzt Karabulut mit ihrer Arbeit an: Anhand von zwei Gruppendiskussionen arbeitet sie mit Hilfe der dokumentarischen Methode unterschiedliche rassistische Diskriminierungserfahrungen von Schüler*innen mit “Zuwanderungsgeschichte“ an weiterfuhrenden Schulen heraus. Dieser method(olog)ische Zugang fokussiert auf die Wissensdimension rassismusrelevanter Erfahrungen und macht sie als kollektiviertes, implizites Wissen analysierbar.
In Kapitel 4 analysiert Karabulut präzise und nachvollziehbar, wie strukturelle Dimensionen von Rassismus auf Schüler*innen einwirken und welche Bewältigungsstrategien sie entwickeln. In den Erzählungen wird deutlich, wie stereotypisierende Anrufungen in dem einen Fall als Schwarze Person und in dem anderen Fall als Muslimin im Klassenzimmer an mehrheitsgesellschaftliche Diskurse anknüpfen. Anhand der Gruppendiskussion Dalem, die mit Schüler*innen der Oberstufe einer Höheren Handelsschule erhoben wurde, lässt sich Karabuluts Vorgehensweise in der Analyse exemplarisch nachvollziehen. In einer Gesprächssequenz erzählen zwei Schüler*innen von wiederholt erlebten Adressierungen von Lehrkräften an sie als so genannte Migrationsandere. Sie werden dabei in Form von rassismusrelevanten Stereotypisierungen als deviant adressiert und markiert. Die Schüler*innen selbst erklären sich die diskriminierenden Praktiken der Lehrkräfte auf der Basis von mehrheitsgesellschaftlichen Stereotypen, vereinfachenden und einseitigen Homogenisierungen aus dem medialen Diskurs einerseits sowie fehlenden Wissensressourcen über Schwarze Menschen andererseits (76). Karabulut arbeitet aus den Erzählungen der Schüler*innen Umgangsstrategien heraus, mit denen sie den diskriminierenden Konfrontationen entgegentreten. Die beiden Schüler*innen solidarisieren sich während ihrer Erzählungen über rassismusrelevante Erfahrungen mit Lehrkräften, indem sie über die verschiedenen Formen der Adressierung als Migrationsandere sprechen (75) und über das laute und gemeinsame Nachdenken zu dem Verhalten von Lehrkräften und einem gegenseitigen Bestärken ihres Erlebens als „strukturidentische Erfahrung“ (76) „Gegenstrategien zu Entsubjektivierungsprozessen rassismusrelevanter Anrufungen“ entwerfen.
Als zentrale Gemeinsamkeit der beiden Gruppendiskussionen werden die Erfahrungen der (Re-)Produktion von Differenz durch Lehrer*innen genannt, die “dominant als machtvolle unmarkierte weiße Akteur*innen in den Erzählungen auftreten“ (85). Die verschiedenen Formen des Othering durch Lehrer*innen werden von Karabulut als institutionell legitimiertes (85) und machtvolles Positioniertwerden gekennzeichnet und als Bestandteil des kollektiven schulischen Erfahrungsraums der Diskutant*innen benannt: „Die Schuler*innen mit Zuwanderungsgeschichte“ eint die kollektive Erfahrung der Markierung als Migrationsandere und die Benachteiligung in der schulischen Sphäre. Sich stärker anzustrengen, um gleich behandelt zu werden, ist ein markanter Bestandteil des Erfahrungsraumes von Schuler*innen “mit Zuwanderungsgeschichte“ im deutschen Bildungssystem. Institutionelle Machtasymmetrien und die Unmöglichkeit, rassistisches Handeln objektiv herzuleiten, fuhren zu Erfahrungen von Machtlosigkeit und Ohnmacht rassistisch marginalisierter Schuler*innen, die durch das hierarchische Setting in schulischen Räumen verstärkt wird“ (88).
In der Ergebnisdiskussion werden Interventionsmöglichkeiten und Transformationsempfehlungen auf der Makro-, Meso- und Mikroebene gesellschaftlichen Handelns beschrieben. Zentral wird die Notwendigkeit einer migrationsbedingten Transformation und Öffnung der Schulen auf der Makroebene als äußerst bedeutende Handlungsstrategie hervorgehoben (135). Aus der überzeugenden Verschränkung von kritischer Migrations- und Bildungsforschung benennt Karabulut vor allem rassismusrelevante Einstellungen und Handlungen „als Teil des heimlichen Lehrplans der Institution Schule“ (136) und verlangt notwendige Reflexions- und Gegenstrategien. Abschließend werden machtkritische Forschungsperspektiven auf die Institution Schule sowie auf Haltungen der Lehrer*innen in der Lehramtsausbildung eingefordert.
Die Arbeit von Karabulut stellt durch die Analyse des kollektiven Erfahrungsraums von Schüler*innen “mit Zuwanderungsgeschichte“‘ einen aktuellen und wichtigen Beitrag zu diversitätssensibler und machtkritischer Migrations- und Bildungsforschung dar. In dieser Verortung liefert die Arbeit einen notwendigen Beitrag zu diversitäts- und migrationsbedingten Anforderungen an pädagogische Professionelle und schließt sich somit einer Reihe aktueller Arbeiten zu pädagogischer Professionalität an.
Ich schätze den problematisierenden Blick auf theoretische Defizite zum Rassismusbegriff und den theoretischen Einbezug der critical race theory angesichts der gegenwärtigen Aushandlungen um Migration als äußerst gewinnbringend ein und als vielversprechenden Zugang im Hinblick auf eine machtkritischere Bildungsforschung.
Die Methode der Gruppendiskussion als dokumentarische Methode überzeugt in ihrer begründeten Auswahl und Anwendung im Hinblick auf kollektive Erfahrungen sowie Bewältigungsstrategien von rassifizierten Schüler*innen. Die Arbeit ist als äußerst wichtiger Beitrag zur kritischen Migrations- und Bildungsforschung einzuschätzen, da er die Erfahrungen der “Migrationsanderen“ ins Zentrum stellt. Die Empfehlungen für diversitätssensible pädagogische Professionalität sind gerade mit Bezug auf die strukturell herausgearbeiteten Dimensionen der Bildungsinstitution Schule besonders wertvoll, da sie explizit auf Erfahrungen von rassifizierten Schüler*innen in ihrer doppelt marginalisierten Positioniertheit – einerseits durch die schulische Machtasymmetrie in der Beziehung zu Lehrer*innen sowie andererseits durch die Anrufung und defizitäre Zuschreibung als Migrationsandere – basiert.
[1] Kasparek, B., Speer, M. (2015, 7. September). Of hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration. bordermonitoring.eu/ungarn/2015/09/of-hope/
[2] Karakayali, S., Tsianos, V. (2007). Movements that matter: Eine Einleitung. In Transit Migration Forschungsgruppe (Hrsg.), Turbulente Ränder: Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas (S. 7–17; hier: S.8). Transcript.
[3] Balibar, E. (1992). Gibt es einen “Neo-Rassismus“? In Balibar E. & Wallerstein I. (Hrsg.), Rasse, Klasse, Nation: Ambivalente Identitäten, (S. 23–38). Argument Verlag; Hall, S. (1989). Rassismus als ideologischer Diskurs. Das Argument, 178, 913–921.