Benjamin Reiter

Nationalsozialismus im Schulgeschichtsbuch

Zulassungsverfahren und die Aushandlung von Geschichtskultur in Bayern ab 1949 bis in die 1970er Jahre
Göttingen: V&R unipress 2021
(396 S.; ISBN: 978-3-8471-1287-7; 55,00 EUR)

In seiner im Rahmen des Projekts „WegE – Wegweisende Lehrerbildung“ an der Universität Bamberg verfassten Dissertation beschäftigt sich Benjamin Reiter mit der Konstruktion von Wissen in bayerischen Schulgeschichtsbüchern, indem er „anhand der Analyse [ihr]er Zulassungsverfahren […] den spannungsgeladenen Umgang des bayerischen Staats und der Schulbuchverlage mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Nachkriegsjahrzehnten der 1950er bis 1970er Jahre herausarbeitet“ (11). Ziel ist es, die normativen, strukturellen und akteursbezogenen Bedingungen der damaligen Zulassungsverfahren in Bayern zu prüfen und den Konstruktions- und Aushandlungsprozess von Geschichtskultur in Schulgeschichtsbüchern offenzulegen.

Den Ausgangspunkt der Studie bildet die Annahme, dass sich die unterschiedlichen Akteure (wie Gutachter und Beamte des Kultusministeriums, Sachverständige und Verlage) durch ihre in den Zulassungsverfahren „mit- und gegeneinander“ ausgehandelten historischen Deutungen in die Schulbücher eingeschrieben haben. Das Zulassungsverfahren wird somit als „Diskursarena“ gesehen, in dem „die Akteure um historische Deutungsmacht und machtvolle Deutungen [ringen]“ (12). Theoretisch schließt Reiter an Bernd Schönemanns Theorie der Geschichtskultur als soziales System an und ergänzt diesen Ansatz mit der Hegemonietheorie von Antonio Gramsci, um die Begriffe „geschichtskulturelle Hegemonie“ und „hegemoniale Geschichtskultur“ zu entwickeln, welche eine „prozess- und machtfokussierte Analyse von Geschichtskultur“ erlauben (ebd.). Vor diesem theoretischen Hintergrund versteht der Autor das Zulassungsverfahren als „Hegemonieapparat im sozialen System der Geschichtskultur“ (ebd.).

Reiter fokussiert in seiner Studie die „Aushandlung historischer Deutungen zur Geschichte des Nationalsozialismus“ (13) und will mit der Analyse der Zulassungsverfahren zweierlei leisten: Zum einen wird die „Struktur der Diskursarena“ nachgezeichnet, „um die geeigneten ‚Kampfplätze‘ bei Deutungskonflikten zu bestimmen“ (ebd.), und zum anderen wird herausgearbeitet, welche historischen Themen zu diesen Konflikten führten und welche Deutungen der Geschichte des Nationalsozialismus sich letztlich in den Schulbüchern durchsetzen konnten. Um die Mechanismen der Kontrolle und Steuerung der Schulbuchinhalte offenzulegen, analysiert Reiter einen reichhaltigen Quellenbestand, der sich aus Gutachten, Stellungnahmen, Personalakten und Briefen der verschiedenen Akteure sowie Richtlinien, Lehrplänen und Landtagsbeschlüssen zusammensetzt (14). Ergänzend nimmt Reiter in seine Untersuchung dreißig in dem Zeitraum in Bayern geprüfte Schulgeschichtsbücher auf, da diese neben den Lehrplänen „eine wichtige Bezugsgröße hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung und konkreten Deutung des Nationalsozialismus darstellten“ (40).

In Übereinstimmung mit dem theoretisch zugrundeliegenden Begriffspaar „geschichtskulturelle Hegemonie“ und „hegemoniale Geschichtskultur“ greift der Autor methodisch die Prozessanalyse nach Frank Nullmeier et al. auf, um die Machtverhältnisse in den Entscheidungsprozessen über die Zulassung der Schulbücher aufzuzeigen, wobei zwischen positionaler und argumentativer Macht der Akteure unterschieden wird, in deren Abhängigkeit die geschichtskulturelle Hegemonie steht. Um die Aushandlung der hegemonialen Geschichtskultur zu analysieren, geht Reiter in zwei Schritten vor: Im ersten wird strukturanalytisch die Form der Machtverhältnisse offengelegt, und im zweiten werden inhaltlich strukturierend thematische Hauptkategorien zur Geschichte des Nationalsozialismus, sogenannte „Konfliktfelder“ (44), aus dem Quellenbestand herausgearbeitet, die sich als relativ konstant und konfliktreich erwiesen.

In der Einleitung stellt der Autor vor dem Hintergrund des Forschungsstandes das Erkenntnispotenzial und das Forschungsinteresse seiner Arbeit heraus und skizziert daraufhin die theoretischen Bezüge und methodischen Grundlagen.

Im zweiten Kapitel setzt sich Reiter mit der Entwicklung und Struktur der Zulassungsverfahren auseinander. So verdeutlicht er zunächst die bildungspolitischen Rahmenbedingungen auf der Grundlage der Lehrpläne und Richtlinien; er identifiziert für die Lehrplanentwicklung innerhalb des Untersuchungszeitraums zwei Phasen: das Nachkriegsjahrzehnt, in dem sich die Geschichte des Nationalsozialismus von einem „randständigen, die Militärgeschichte fokussierenden Thema“ zu einem hoch relevanten Unterrichtsgegenstand für die politische Bildung entwickelte, und die „Zäsur 1959/1960“, in der eine geschichtspolitische Normierung und eine engere Ausrichtung auf die politische Bildung im Sinne des Antitotalitarismus stattfand (72). Als weiterer wichtiger Kontext hätte hier Forschungsstand in der Geschichtswissenschaft stärker berücksichtigt werden können. Im Anschluss beschreibt der Autor ausführlich die Entwicklung der Zulassungsverfahren und unterscheidet hierbei zwei strukturelle Ebenen: die äußere Struktur, die „Institution“, die im Untersuchungszeitraum einem „Prozess der Standardisierung und Verrechtlichung“ unterlag (100), und die innere Struktur, die sich auf die Akteure innerhalb der Zulassungsverfahren bezieht, in deren Praxis sich trotz der Widerstände zu Beginn der 1950er Jahre „eine Externalisierung argumentativer Macht auf die Sachverständigen durch[setzte]“ (131). Eine weitere Gruppe der direkten Akteure in den Zulassungsverfahren sind die Verlage und deren Autor:innen, für die Reiter eine Typologie verlegerischer Umgangsstrategien im Prüfverfahren herausarbeitet, wobei die Namensgebungen der vier Typen nur teilweise nachvollziehbar sind.

Das dritte, umfangreichste Kapitel bildet den Hauptteil der Studie, in dem Reiter die Zulassungsverfahren entlang der fünf „Konfliktfelder“ untersucht: (1) Weimars Ende. Wer hat Schuld am Aufstieg des Nationalsozialismus? (2) „Wer war dieser Hitler?“ Zwischen Psychologisierung und Historisierung, (3) „Hitler und die Juden.“ Verortung und Gewichtung des Antisemitismus, (4) Verblendet oder überzeugt? Bevölkerung und ‚Drittes Reich‘, (5) Opfer? Bevölkerung, Hitler und der Zweite Weltkrieg. Jeweils vorangehend analysiert er Schulgeschichtsbücher, um den Kontext der geschichtskulturellen Artikulationen der Akteure zu verdeutlichen. Ziel ist es hierbei, nun die konkreten Auseinandersetzungen darzustellen und die „Wirkungsweise der staatlichen Schulbuchkontrolle als geschichtskultureller Hegemonieapparat“ nachzuzeichnen (153). In der anschließenden Zusammenführung der Einzelanalysen stellt der Autor eine hegemoniale Geschichtskultur für die 1950er bis 1970er Jahre in Bayern heraus, die von antitotalitären und hitlerzentrierten Deutungsmustern geprägt war. Insbesondere das erstgenannte Deutungsmuster wurde geschichtswissenschaftlich und (bildungs-)politisch gestützt, auch wenn es bereits Anfang der 1960er Jahre in Politik- und Geschichtswissenschaft kritisch hinterfragt wurde (318). Für die Hitlerzentrierung stellt Reiter fest, dass diese für den gesamten Untersuchungszeitraum hegemonial blieb (323); er befasst sich mit dieser und ihrem Aufbrechen zum Ende der 1960er Jahre in einem eigenen Kapitel, in dem er die fachlichen Überzeugungen der Sachverständigen in den Zulassungsverfahren herausarbeitet.

In dem abschließenden vierten Kapitel stellt der Autor aus seiner umfangreichen Analyse konzise drei themenübergreifende Spannungsfelder heraus: (1) die Akteure im „Spannungsfeld von persönlicher Erinnerung, Aufarbeitung und historischer Schuld“, (2) die „Geschichte des Nationalsozialismus im Spannungsfeld von historischer Vermittlung und antitotalitär gerahmter Vereindeutigung der Vergangenheit“ und (3) die „Zulassung von Lehrwerken im Spannungsfeld von bildungspolitischen Vorgaben und pädagogischer Reflexion“ (342).

Reiters Untersuchung stellt einen wertvollen Beitrag für die Schulbuchforschung dar, die sich erst seit jüngeren Jahren prozessorientiert mit den Produktionsbedingungen von Schulbüchern und der Konstruktion von Wissen befasst [1]. Die vorliegende Studie weist einige Besonderheiten auf: So ist der Untersuchungszeitraum von Neuorientierung und Aufbruch in Gesellschaft und (Bildungs-)Politik gekennzeichnet, die Geschichtswissenschaft befindet sich im Wandel vom „politisch-moralisch gezähmten Historismus“ [2] zum struktur- bzw. sozialgeschichtlichen Paradigma. Insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stellte in dieser Zeit eine große Herausforderung dar, was sich in dem vorliegenden Buch lebendig und anschaulich in den intensiv ausgewerteten Quellen widerspiegelt. Des Weiteren ist der Blick auf die Verlage als zentrale Akteure der Schulbuchproduktion eine wichtige Perspektive, die bisher eher wenig in der Schulbuchforschung Berücksichtigung fand [3].

[1] Z. B. Bethge, J. (2021). Beyond Textbooks. Amerikanische Schulbucharbeit in Deutschland 1944–1952. Brill, V&R unipress; Müller, L. (2021). Diskurse und Praktiken der Schulbuchproduktion in der Bundesrepublik Deutschland und
England am Beispiel von Afrikawissen. Brill, V&R unipress.
[2] Schulin 1975, zit. n. Kwiet, K. (1989). Die NS-Zeit in der westdeutschen Forschung 1945-1961. In Schulin, E. (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1965). Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
[3] Z. B. Macgilchrist, F. (2011). Schulbuchverlage als Organisationen der Diskursproduktion. Eine ethnographische Perspektive. In Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 31 (3), S. 248-263.

Zur Zitierweise der Rezension
Dörte Balcke (Augsburg): Rezension von: Benjamin Reiter: Nationalsozialismus im Schulgeschichtsbuch. Zulassungsverfahren und die Aushandlung von Geschichtskultur in Bayern ab 1949 bis in die 1970er Jahre. Göttingen: V&R unipress 2021 (396 S.; ISBN: 978-3-8471-1287-7; 55,00 EUR). In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am: 18. April 2023), URL: https://ewrevue.de/2023/04/nationalsozialismus-im-schulgeschichtsbuch/