Esther Berner / Johanna Lauff

Jahrbuch für Historische Bildungsforschung Band 27

Körper / Körperlichkeit – neue Perspektiven in der Historischen Bildungsforschung
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2021
(272 S.; ISBN: 978-3-7815-2480-4; 36,00 EUR)

Zahlreiche Publikationen dokumentieren seit den 1980er Jahren, inwiefern Körper und Leib – oder genauer Körperlichkeit und Leiblichkeit – als erziehungswissenschaftlich relevante Topoi und das Pädagogische begleitende Phänomene in der Theorieentwicklung der Disziplin wie auch der professionellen Praxis mitzuführen sind und wie sie begrifflich und empirisch erkundet und entfaltet wurden. Zugleich stehen diese Beschäftigungen immer unter dem Zeichen einer Spannung zwischen einer in gewisser Weise banalen Präsenz des Körpers in der pädagogischen Praxis und der „Körpervergessenheit“ [1] der Disziplin.

Der vorliegende Themenschwerpunkt des „Jahrbuchs für Historische Bildungsforschung“ aus dem Jahr 2021 lässt sich als gelungene bildungshistorische Bearbeitung dieses Spannungsverhältnisses verstehen. Zur Ordnung des Diskursfeldes „Körper in der Pädagogik und Erziehungswissenschaft“ machen die Herausgeberinnen drei analytische Bezugsebenen aus: die „1) der Bedeutung von Körper und Körperlichkeit in der Disziplin- und Theoriebildung, 2) dessen Präsenz in sich wandelnden pädagogischen Praktiken und Praxen und schließlich 3) die Reflexion und Perspektivierung des Körpers bzw. Leibes in der erziehungswissenschaftlichen Forschung“ (9). Die Beiträge des Bandes beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf Fragen des Körpers in dem so systematisierten Feld.

Sylvia Wehren zeigt die Entwicklung „körperbezogene[n] Wissen[s] in pädagogischen Lehr- und Handbüchern aus den Jahren 1767 bis 1824“ auf und leistet damit einen disziplingeschichtlichen Beitrag, der darauf aufmerksam macht, dass der Körper keineswegs aus der sich entwickelnden Erziehungswissenschaft ausgeklammert wurde: Vielmehr wurde der kindliche Körper zwischen „medizinisch-pädagogische[m] Diskurs“ (48) und „physiologisch orientierte[r] Anthropologie“ (ebd.) in den pädagogischen Frühschriften systematisch berücksichtigt, dann aber seit 1800 zunehmend aus dem pädagogischen Diskurs ausgeschlossen.

Tim Zumhof bearbeitet in seinem Beitrag den „Entwurf einer physischen Erziehung als wesentlichen Bestandteil der von [Rousseau] im Émile skizzierten natürlichen und negativen Erziehung“ (52). Als deren zentrales Moment erfasst Zumhof die körperliche Abhärtung im Kontext einer individuellen Gesundheitserziehung und Entwicklung eines auch auf geschlechtliche Zugehörigkeit bezogenen Selbstgefühls im Sinne einer Balance zwischen kognitiver Erkenntnisproduktivität und Sinnlichkeit (vgl. 69). Der Körper wird bei Rousseau zum Objekt der pädagogischen Einflussnahme, wobei es ihm nicht um Disziplinierung geht, sondern darum, bei den Heranwachsenden die Sinne und gleichsam sittliche Tugenden auszubilden.

Die Artikel von Paolo Alfieri sowie Bernd Wedemeyer-Kolwe – weiter hinten im Band – kennzeichnet ein Interesse für die Institutionalisierung des Sports in der Schule von der zweiten Hälfte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Alfieri interessiert sich im Kontext der durch die katholische Kirche geschürten Ressentiments gegen sportliche Betätigung für die Räume der Gymnastik an italienischen Einrichtungen der Elementarpädagogik. Er untersucht die „symbolische Bedeutung und damit die dem Sportunterricht zuerkannte pädagogische Wertigkeit, die Körpererfahrung der Schülerinnen, die Konstruktion des Geschlechts sowie den ideologischen und erzieherischen Charakter der räumlichen Umgestaltung“ (75).

Luana Salvarani fokussiert körperliche Aspekte in der frühen Reformation. Die Autorin zeigt mit Hilfe einer ikonographisch angelegten Bildanalyse, inwiefern sich protestantischer Protest gegen die katholische Kirche theatral-ritueller Aufführungen wie etwa der Fastnachtspiele bediente. Der Körper erhielt darin eine zentrale Bedeutung, etwa in Inszenierungen von Monstrosität, Krankheit oder Tod, aber auch in Form einer Ironisierung der Geschlechterverhältnisse. Salvarani versteht die Aufführungen als religiöse Erwachsenenbildung der illiteraten Bevölkerung.

Mit der Untersuchung der in den 1950er Jahren von Minna Specht und Martha Friedländer herausgegebenen Reihe „Kindernöte“ hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung des Körpers leistet Sebastian Engelmann einen Beitrag zur umfangreichen erziehungswissenschaftlichen Ratgeberforschung, die das „Thema der biophysischen Veränderung“ (134) als zentralen Topos der Erziehungsliteratur zwar ausgemacht, jedoch bisher nicht auf eine besondere analytische Berücksichtigung des Körpers hin zugespitzt hat. In den „Kindernöte[n]“ drückt sich nun eine Verschiebung aus: Erziehung als zuvor mütterliche Pflege und Disziplinierung des kindlichen Körpers wurde im Zuge einer Demokratisierung des pädagogischen Denkens Mitte des 20. Jahrhunderts stärker vom Kind her gedacht. Eine intensive Berücksichtigung psychologischer Erkenntnisse führte in den Schriften zur Entwicklung eines Körperbildes, in welchem der Körper vor allem zum Ausdrucksmedium psychischer Probleme und Objekt pädagogischer Beeinflussung für ihre Lösung wurde.

Wedemeyer-Kolwe widmet sich der Veränderung von Leibesübungen und Körperkonzepten in Schulen für Menschen mit Behinderungen vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus und identifiziert in der untersuchten Epoche ein widersprüchliches Zusammenspiel von sozialer Normierung und emanzipativer Selbstvergewisserung. Im Zuge von Aufklärung und Industrialisierung entwickelte sich die (pädagogische, medizinische und soziale) Tendenz, „bestimmten Personenkreisen Merkmale von Beeinträchtigungen zuzuweisen“ (160) und Behinderung als gesellschaftliches Phänomen zu generieren. Während Leibesübungen für Menschen mit Behinderungen im Kaiserreich utilitaristisch begründet wurden, setzte in der Weimarer Republik im Zuge der gesellschaftlichen Aufwertung von Sport und Turnen auch eine Professionalisierung der Lehrkräfteausbildung und Ausdifferenzierung der Heil- und Sonderpädagogik ein. Im Nationalsozialismus wurden die Heranwachsenden auf ihre „sogenannte ‚völkische Brauchbarkeit‘ hin eingeschätzt“ (172), womit eine ambivalente Anerkennung zwischen Vereinnahmung und Selbstermächtigung verbunden war.

Thomas Gräfes Abhandlung „Anpassung oder Rebellion? Weltanschauliches Profil und soziale Funktion des Antisemitismus in der frühen deutschen Jugendbewegung“ argumentiert gegen die These der Jugendbewegungsforschung, derzufolge Antisemitismus im Wandervogel auf die soziale Herkunft der Mitglieder und Vereinnahmung durch völkische Gruppierungen zurückzuführen seien. Er untersucht die Zeitschriften „Wandervogelführerzeitung“, „Pachantei“ sowie „Freideutsche Jugend“ in den Jahrgängen 1913 bis 1917 und stellt die Gegenthese auf, dass die Akteur*innen der Szene um die Wende zum 20. Jahrhundert Modernisierungskritik und Antisemitismus als Ausdrucksmittel eines Generationenkonflikts miteinander verbunden haben.

Der Band schließt mit drei Quellenstudien zu Dokumenten aus dem zwanzigsten Jahrhundert.
Nicole Nunkesser arbeitet hermeneutisch wie ikonografisch-ikonologisch Deutungen von fotografischen Darstellungen junger Fragen ab 1957 als Leitbilder weiblich-adoleszenter Körperlichkeit für diese Zeit heraus. Die Fotografien thematisieren den außeralltäglichen Raum der Kirmes als generationell spezifischen Ort außerhalb der elterlichen Kontrolle. Nunkesser interpretiert die Zeitdokumente mit ihren „lustvollen“ und „lässigen“ Posen als „Gegenbilder zu dem hegemonial beherrschten öffentlichen weiblichen Körper“ (217).

Im zweiten Quellenbeitrag untersucht Bettina Irina Reimers mit einem Fotoalbum der „Schule Kallmeyer-Lauterbach“ eine Bild- und Textquelle der Arbeit der Atem- und Leibpädagoginnen Hedwig Kallmeyer und Frieda Lauterbach zu Beginn der 1930er Jahre. Anhand der visuellen, textuellen und auch haptischen Daten erarbeitet Reimers die Bedeutung des Körpers in der Lebensreformbewegung, der die Pädagoginnen eng verbunden waren. Auch zeigt die Autorin die feministische Bedeutung des Dokuments auf: Nicht nur spielten „Frauen- und Jugendbewegung“ (235) eine Rolle für Kallmeyer und Lauterbach, sondern es lässt sich an der Quelle auch nachvollziehen, inwiefern sich mit der Körperpädagogik im Kontext der Reformpädagogik ein „Berufsfeld für Frauen“ (240) eröffnete.

Esther Berner und Johanna Lauff befassen sich im letzten Quellenbeitrag am Beispiel einer Denkschrift der Hamburger Gelehrtenschule Johanneum aus dem Jahr 1908 zur Modernisierung der Einrichtung mit der „immense[n] Bedeutung, die dem Schülerkörper“ im Kaiserreich zukam. Im Anschluss an den reformpädagogisch angeregten Diskurs um „Gesundheit, Hygiene, Disziplin“ (250) des vornehmlich männlich-adoleszenten Körpers aus „der (gehobenen) Mittel- oder Oberschicht“ (262) seien Hygiene- und Körperdiskurs im Wettbewerb um neue Schüler*innengenerationen instrumentalisiert worden. Das Ringen um „(Bewegungs-) Raum“ (262), das (auch symbolisch) eine Sorge um Akustik, Licht und Luft artikuliert, lasse einen „biopolitischen Impetus“ der geforderten Maßnahmen „und somit deren Ambivalenz zwischen Freiheit/Selbstermächtigung und Kontrolle“ (ebd.) sichtbar werden.

Der besprochene Themenschwerpunkt versammelt anregende und kenntnisreiche Analysen des Körpers in der Geschichte der Disziplin, die es schaffen, für die jeweiligen Gegenstände, Fragestellungen, untersuchten Daten und Epochen zu begeistern. Wichtig für die Etablierung einer Perspektive auf Körperlichkeit in der Erziehungswissenschaft ist dabei auch, dass und wie in den einzelnen Studien immer auch die Frage aufgenommen wird, was jeweils im spezifischen historischen Kontext als Körper verhandelt wird. Dies kann als weiterführender Impuls verstanden werden, nicht nur in der Historischen Bildungsforschung erziehungswissenschaftliche Praktiken und Programmatiken immer wieder hinsichtlich ihrer Setzungen von Körperlichkeit/Materialität/Leiblichkeit zu befragen.

Die Quellenbeiträge entwickeln besonders anregende Deutungen auch durch die Aufnahme der Quellen in die Beiträge. Zugleich dokumentieren sie die Herausforderung, dem ausdrucksstarken und gut ausgewählten Material in knappen Ausführungen gerecht zu werden. So könnte etwa in anschließenden Schritten eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Konzept des Körperlichen, wie in allen drei Beiträgen schon angedeutet, unter geschlechtertheoretisch fundierter Perspektive für die Analyse fruchtbar gemacht werden.
Denn die Berücksichtigung von Differenzkategorien wie etwa der Bezug auf Geschlechterverhältnisse oder die ableistische Exklusion in vielen der Beiträge ist besonders hervorzuheben. Einerseits scheint sie sich im Kontext der historisierenden Beforschung des Körpers anzubieten, andererseits jedoch auch eine Schwierigkeit zu bergen, etwa weil Ungleichheiten und Differenzen in Hinsicht auf die Bedeutung von Körperlichkeit in Erziehung und Bildung unterschiedlich gut erforscht sind. So ist z.B. der Zusammenhang zwischen Rassismus und Bildung inzwischen gut bearbeitet, die Kategorie Körper jedoch in diesem Zusammenhang bisher noch unterbelichtet. Eine Vertiefung der gegenseitigen Rezeption von Historischer Bildungsforschung, erziehungswissenschaftlicher Geschlechterforschung und erziehungswissenschaftlicher Rassismustheorie könnte hier dazu führen, die grundlegende Dimension des Körperlichen für Erziehung und Bildung genauer zu erkunden.

Die Publikation wird ihrem im Untertitel formulierten Anspruch, „neue Perspektiven in der Historischen Bildungsforschung“ vorzulegen, nicht nur gerecht, sondern leistet darüber hinaus auch Impulse für ein erziehungswissenschaftliches Weiterdenken.

[1] Alkemeyer, T. (2004). Bewegung und Gesellschaft. Zur „Verkörperung“ des Sozialen und zur Formung des Selbst in Sport und populärer Kultur. In G. Klein (Hrsg.), Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte (S. 43–78, hier S. 44). Transcript.

Zur Zitierweise der Rezension
Britta Hoffarth (Hildesheim): Rezension von: Esther Berner / Johanna Lauff: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung Band 27. Körper / Körperlichkeit – neue Perspektiven in der Historischen Bildungsforschung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2021 (272 S.; ISBN: 978-3-7815-2480-4; 36,00 EUR). In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am: 18. April 2023), URL: https://ewrevue.de/2023/04/jahrbuch-fuer-historische-bildungsforschung-band-27/