Stefan Kruse

Einstellungen von Schulpraktikern zur schulischen Inklusion

Eine empirische Studie mit niedersächsischen Schulleitungen und Lehrkräften
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2023
(193 S.; ISBN: 978-3-7815-2493-4; 39,00 EUR)

Im Anschluss an die UN-Behindertenrechtskonvention (2009) haben alle Schüler:innen in Deutschland einen individuellen Rechtsanspruch auf eine gleichberechtigte Teilhabe an den Angeboten im Bildungssystem. Insbesondere das Anliegen der gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf stellt das differenzierte Schulsystem vor große Herausforderungen und impliziert sowohl auf organisatorisch-struktureller als auch auf pädagogisch-didaktischer Ebene zahlreiche grundlegende Reformen. Stefan Kruse greift in seiner Studie die Frage auf, wie Inklusion als Reform im Bildungssystem von den handelnden Akteur:innen umgesetzt wird. Mit dem Forschungsansatz des ‚Educational Governance‘ geht er davon aus, dass die Ausgestaltung von staatlichen Anordnungen und Aufträgen maßgeblich von den Akteur:innen vor Ort in den einzelnen Systemen vorgenommen wird.

Während die Einstellungen von Lehrkräften zur Inklusion mittlerweile gut erforscht sind, zielt Kruses Studie auf die Frage, ob es zwischen der Einstellung zur Inklusion, dem konzeptionellen Verständnis von Inklusion sowie dem Beanspruchungs- und Belastungserleben von Lehrkräften einen Zusammenhang gibt. Damit verbindet er in einer eigenen empirischen Studie mit niedersächsischen Schulleitungen und Lehrkräften – die als Dissertation an der Universität Erfurt eingereicht wurde – die beiden Forschungsfelder der Einstellungs- sowie Lehrerbelastungsforschung im Kontext der schulischen Inklusionsentwicklung miteinander.

Inklusion wird in der Studie als supranationales Konzept zum Umgang mit Heterogenität verstanden. Nachdem der Autor zunächst sehr systematisch und pointiert zentrale Begriffe sowie Konzepte aus der schulpädagogischen Diskussion zum Umgang mit Verschiedenheit erörtert, bearbeitet er anschließend die Frage, wie Inklusion aktuell im deutschen Schulsystem umgesetzt wird. Auch wenn die hier aufgegriffene schulpädagogische Diskussion über eine inklusionsorientierte Schulentwicklung sowie der Vergleich der länderspezifischen Schulgesetze und damit einhergehenden variierenden Inklusions- und Exklusionsquoten keine gänzlich neuen Befunde sind, gelingt es dem Autor, einen sehr strukturierten Überblick über den aktuellen Stand zu geben, der in dem ernüchternden Befund mündet, dass kein Bundesland aktuell den Rechtsanspruch auf inklusive Bildung adäquat einlöst.

Nachfolgend widmet sich Kruse theoretisch und konzeptionell der Einstellungs- und Lehrkräftebelastungsforschung und führt beide Forschungsansätze zielführend zusammen. Durch die multidimensionale Erfassung des Einstellungskonstrukts aus kognitiver, konativer und affektiver Komponente im Rückgriff auf das Befragungsinstrument „Einstellungen zur Integration“ (EZI) von Kunz, Luder und Moretti [1] kann er anschließend anhand seiner Daten Zusammenhänge zwischen den Variablen und inklusionsbezogenen Einstellungen verdeutlichen und Ambivalenzen innerhalb der verschiedenen Komponenten aufzeigen.

So ist im Hinblick auf die kognitive Komponente des Einstellungskonstrukts eine Mehrheit der von Kruse Befragten der Inklusion gegenüber neutral eingestellt, während die Bereitschaft, in inklusiven Klassen zu unterrichten, der konativen Komponente entsprechend eher positiv ausfällt. Im Kontext der affektiven Komponente erwartet eine Mehrheit der Befragten positive Auswirkungen der Inklusion tendenziell eher für die Schüler:innen, angesichts der als unzureichend markierten Rahmenbedingungen und der eigenen Arbeitsbedingungen jedoch eher negative Auswirkungen für sich selbst. Bemerkenswert ist hier zudem, dass zahlreiche Lehrkräfte Sorge vor eigenen Kompetenzdefiziten im Umgang mit inklusiven Lerngruppen äußern (155).
Korrespondierend zum theoretischen Diskurs findet sich auch bei den befragten Lehrkräften kein einheitliches Inklusionsverständnis, sondern Kruse kann in Anlehnung an das heuristische Stufenmodell von Göransson und Nilholm [2] die vier Konzepte, Inklusion als Platzierungsfunktion, Inklusion als individualisiertes Eingehen auf Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, Inklusion als Eingehen auf die gesamte Schüler:innenschaft und Inklusion als gemeinschaftsorientierte Aufgabe, die die Wertschätzung von Vielfalt in allen Gesellschaftsbereichen vorsieht, herausarbeiten. Keine Verständnisvariante ist überhäufig bei den niedersächsischen Lehrkräften vertreten, sondern wird „mitunter auch diffus verwendet“ (130). Da davon auszugehen ist, dass die konzeptionelle Heterogenität auch Auswirkungen auf die Ausgestaltung von Inklusion hat, plädiert der Autor perspektivisch dafür, auch in weiteren Forschungsvorhaben das Inklusionsverständnis der Akteur:innen vor Ort zu erheben.

Mit dem Verhaltens- und Erlebensmuster wird in der Studie ein weiteres etabliertes Konstrukt aufgegriffen. Unter Anwendung des von Schaarschmidt und Fischer [3] entwickelten AVEM-Verfahrens kommt Kruse zu dem Ergebnis, dass 43% der befragten Lehrkräfte aus der niedersächsischen Stichprobe einem Risikomuster entsprechen und es somit fast der Hälfte nicht gelingt, die beruflichen Anforderungen, die mit der Umsetzung von Inklusion einhergehen, in einer gesundheiterhaltenden Weise zu bearbeiten (132). Kruse kann weiterführend in seiner Stichprobe einen Zusammenhang zwischen Beanspruchungserleben und Einstellung identifizieren, denn dort, wo das Erleben von Lehrkräften durch Erschöpfung geprägt ist, fällt auch die Bewertung von Inklusion am negativsten aus. Die Ergänzung durch eine mehrfaktorielle Kovarianzanalyse bestätigt ebenfalls eine Wechselwirkung zwischen Inklusionsverständnis, arbeitsbezogenem Verhalten und Erleben sowie kognitiven und konativen Einstellungskomponenten. Bemerkenswert ist hier, dass Schulleitungen im Hinblick auf alle drei Einstellungskomponenten zu einer positiveren Einschätzung tendieren als die Lehrkräfte.

Auch wenn die Befunde mit Blick auf die Stichprobe von 287 niedersächsischen Lehrkräften limitierte empirische Beweiskraft haben, lassen das hohe Belastungserleben sowie der wiederholt formulierte und hier bestätigte Befund zu den selbst zugeschrieben Kompetenzdefiziten von Lehrkräften aufhorchen. Insgesamt gelingt es dem Autor sehr gut, den äußerst komplexen theoretischen Inklusionsdiskurs zu strukturieren und die Leser:innen durch eine präzise Darstellung des methodischen Vorgehens, der Datenaufbereitung sowie der statistischen Auswertungsverfahren bei jedem Forschungsschritt mitzunehmen. Die Studie ist damit auch für interessierte Studierende gut zugänglich und verständlich.

Der Autor leitet aus seinen Befunden weiterhin dringenden Reformbedarf und die Notwendigkeit für eine inklusionsorientierte Schul- und Unterrichtsentwicklung auf Makro-, Meso- und Mikroebene ab, die mit erhöhten Unterstützungsangeboten für die Lehrkräfte einhergehen müssen. Somit ist die Publikation sehr anschlussfähig für die Schulentwicklungsforschung, denn angesichts der formulierten Reform- und Entwicklungsbedarfe wäre eine Erforschung des Zusammenhangs zwischen Einstellungen, Beanspruchungserleben, Inklusionsverständnis und der wahrgenommenen Handlungsspielräume und Innovationsbereitschaft der Akteur:innen ebenfalls aufschlussreich.

[1] Kunz, A., Luder, R., Moretti, M. (2010). Die Messung von Einstellungen zur Integration (EZI). Empirische Sonderpädagogik, 2(3), 83-94.
[2] Göransson, K., Nilholm, C. (2014). Conceptual Diversities and Empirical Shortcomings – A Critical Analysis of Research on Inclusive Education. European Journal of Special Needs Education, 29(3), 165-280.
[3] Schaarschmidt, U., Fischer, A. W. (2008). Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster: AVEM (3., überarb. u. erw. Aufl.). Pearson.

Zur Zitierweise der Rezension
Christiane Ruberg (Dortmund): Rezension von: Stefan Kruse: Einstellungen von Schulpraktikern zur schulischen Inklusion. Eine empirische Studie mit niedersächsischen Schulleitungen und Lehrkräften. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2023 (193 S.; ISBN: 978-3-7815-2493-4; 39,00 EUR). In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am: 18. April 2023), URL: https://ewrevue.de/2023/04/einstellungen-von-schulpraktikern-zur-schulischen-inklusion/